theorieblog.de | Die Freiheit des Publizierens

24. Juni 2013, Höppner

Vor einigen Wochen erhielt ich eine Mail einer ehemaligen Kollegin, in der sie auf das Erscheinen ihrer englischsprachigen Dissertation hinwies und darum bat, dass wir den Kauf des Buches doch unserer Bibliothek empfehlen sollten – bei dem Preis würde sie nicht erwarten, dass wir es selbst kaufen. Ein kurzer Blick auf die Webseite ergab, dass das Buch als Hardback für knapp unter 100 € zu bekommen ist. Es gibt weder ein Paperback noch, bewahre, ein E-Book oder gar ein PDF. Schade eigentlich, dachte ich mir, dass mein Buch gerade beim gleichen Verlag liegt. Denn eigentlich habe ich es geschrieben, damit es jemand liest. Aber so? Und ist das schon eine Aussage über die wissenschaftliche Qualität des Textes?

Die Kontrolle wissenschaftlicher Qualität durch wissenschaftliche Debatte ist der Hintergrund der im Laufe des 19. Jahrhunderts eingeführten Publikationspflicht für Dissertationen. Die Regelung wurde geschaffen, um allzu laxen Titelvergaben einen Riegel vorzuschieben. Professoren und Institutionen, die dauerhaft qualitativ minderwertige Arbeiten mit Titeln versehen, werden so von der wissenschaftlichen Öffentlichkeit entlarvt; das System kann sich selbst regulieren. Dass dies noch immer funktioniert, bei allen damit verbundenen kleinkarierten Übertreibungen, haben auch die jüngsten Plagiatsdebatten gezeigt. Aber bei der Publikationspflicht geht es noch um mehr: Geschaffenes Wissen soll zu neuem Futter für die wissenschaftliche Debatte werden. Wissenschaftlicher Fortschritt, so man das als wesentliches Kriterium sieht, lässt sich nur so erreichen. Aber auch jenseits dieses Fortschritts sind es gerade die neuen Standpunkte, Argumentationen und Erkenntnisse, die den Reiz wissenschaftlicher Debatten ausmachen. Und die entstehen dort, wo nicht jeder seine Gedanken für sich behält. So weit, so unumstritten.

Man sollte also meinen, dass sich im digitalen Zeitalter Wissenschaftler mit Begeisterung auf die Möglichkeit stürzen, ihre Erkenntnisse schnell und frei verfügbar zu machen. Das ist aber mitnichten der Fall. Historisch gewachsen ist nämlich ein ganz anderes System. Im Ursprung diente es dazu, den Austausch wissenschaftlicher Argumente überhaupt zu ermöglichen. Zwischenzeitlich hat es aber noch zahlreiche weitere Funktionen übernommen. Früher, als gedruckte Bücher der einzige Weg waren, wissenschaftliche Erkenntnisse mit vielen zu teilen, stellten Verlage eine wichtige Brücke zwischen Wissenschaftlern dar – sie ermöglichten die Debatte durch die Übernahme fachfremder Dienstleistungen. Durch ihre gegenseitige Konkurrenz entstand außerdem eine zweite Ebene der Qualitätskontrolle – bei begrenzten Ressourcen wollte jeder Verlag natürlich die besten und damit auch meist verkauften Texte veröffentlichen. Die Verlage, denen das besser gelang, gewannen an Reputation und konnten diese schließlich an ihre Autoren weitergeben. Ganz simpel umschrieben ist das der Grund, warum es heute Verlage gibt, die mit der Annahme eines Buches einen Wissenschaftler auf dem Weg zum Renommee wesentlich voran helfen können.

Tatsächlich ist es heute so, dass sich das Kräfteverhältnis fast umgekehrt hat. Statt einer wissenschaftlichen Community entscheiden oft zwei Gutachter und ein Editor über die Qualität einer wissenschaftlichen Publikation. Eine wissenschaftliche Karriere (zumindest in den Geistes- und Sozialwissenschaften) bedarf der Veröffentlichung eigener Texte in angesehenen Verlagen. Wenn man jedoch nicht zu den auserwählten Neulingen gehört oder bereits einen gewissen Ruf hat, scheuen viele Verlage davor zurück, das Buch zu einem Preis und in Formaten auf den Markt zu bringen, die es auch für viele Leserinnen erschwinglich machen. In der Regel wird gleich auf den Bibliotheksmarkt gesetzt und in Kauf genommen, dass in Zeiten klammer Kassen eben nur einige wenige Bibliotheken diesen Titel dann auch tatsächlich vorhalten. Gäbe es keine Alternativen, wäre das immer noch besser als gar nichts. Auch wenn es bedeutet, dass die Chance, zitiert zu werden, sinkt und dass Bibliotheken kleinerer Universitäten oder an Universitäten jenseits der Industrieländer keinen Zugang zu diesem Wissen erhalten.

Allerdings gibt es längst Alternativen – im Internet kann man wissenschaftliche Texte bei sehr geringen Kosten veröffentlichen. Die meisten Universitäten bieten zu diesem Zweck Dokumentenserver an, die die dauerhafte Verfügbarkeit und Wiederauffindbarkeit eines Textes sicherstellen. Was sich dort allerdings selten findet, sind die Texte großer Namen oder aufstrebender Talente. Auf diesen Servern veröffentlicht nur, wer der Wissenschaft den Rücken kehren will, keine finanziellen Mittel hat oder eben keinen Verlag findet. Alle anderen vermeiden diesen Weg, denn unabhängig von den Gutachten der Betreuer oder den Kritiken, die eine wissenschaftliche Debatte mit sich bringen kann, fehlt hier das “Qualitätssiegel” des renommierten Wissenschaftsverlages. Wir haben uns daran gewöhnt, dass die Meinung eines Editors und zweier Gutachter das beste Maß für wissenschaftliche Qualität ist. Die Frage, ob der Text auch von vielen gelesen werden kann, spielt dann keine Rolle mehr. Die Reputation des Verlages überträgt sich auch ohne Lektüre auf den Autor. Die derzeitige Publikationspraxis hat einen wesentlichen Teil des Reputationsmanagements der Wissenschaftler “outgesourct”. Und mir scheint, dass wir uns davor drücken, eigene, kreative und, ja, digitale Lösungen zu entwickeln.

Und nun liegt mein Buch bei einem Verlag, der eine Wissenschaftskarriere zumindest mal nicht ausschließen würde. Und peer review tut ja auch gut, der Text kann so nochmal besser werden. Ich würde mir einen kleinen Puzzlestein erkaufen für die Möglichkeit, in der Wissenschaft Fuß zu fassen. Soweit alles wunderbar. Aber der Preis ist hoch. Meine Arbeit würde durch Preis und Format abgeschirmt vor allen Lesern, die nicht als Experten zum Thema arbeiten. Ich müsste auch alle meine Rechte am Text abgeben, die gehörten dann dem Verlag, der darüber entscheidet, wie lange und in welchen Formaten der Text zugänglich ist. Ich könnte den Text nicht elektronisch an Kollegen geben, jedenfalls nicht, ohne einen Vertragsbruch zu begehen. Und ich weiß, dass ich (noch) nicht so etabliert bin (wie z.B Yochai Benkler – Wealth of Networks, Gabriella Coleman – Coding Freedom), um meine Bedingungen durchsetzen zu können.

Soll das der Preis für wissenschaftliche Anerkennung sein? Es wird Zeit für Alternativen – sagen beispielsweise Vertreter von Open Access schon lange. Ich habe Alternativen gesucht und auch gefunden: Verlage wie Open Book Publishing und Open Humanities Press setzen auf offene Lizenzen, bei denen ich als Autor die Kontrolle darüber behalte, was mit meinem Text künftig geschieht; und sie bieten dennoch peer review und professionelle Aufmachung. Diese Verlage probieren sehr unterschiedliche Finanzierungsmodelle, und es ist ihnen gerade wichtig, dass die Kosten fair zwischen Autor, Institutionen und Lesern verteilt werden. Sie wollen qualitativ hochwertige wissenschaftliche Texte preiswert und vielfältig zugänglich machen, damit jeder etwas davon hat. Noch fehlt ihnen die Reputation alteingesessener Verlage, jene backlist, die sagt: “Hier kommen Innovationen her, hier findet man die wichtigen Fragen und Antworten, diese Bücher prägen die wissenschaftliche Debatte.” Solche Verlage bieten mir Kritik an meinem Text und die Möglichkeit, ihn zu verbessern, Zugänglichkeit und die Verfügbarkeit in ganz unterschiedlichen Formaten, Kontrolle darüber, was künftig mit dem Text passiert, und die Freiheit ihn mit allen zu teilen. Genau wie traditionelle Verlage garantieren sie keine Leser, keine Zitationen, keinen Einfluss auf die wissenschaftliche Debatte. Aber wenigstens wüsste ich hier, dass ausbleibende Würdigung nicht am Preis hängt oder daran, dass das Buch nicht verfügbar war.

Ich hätte mich schon längst entschieden – für das Innovative, nicht das Bewährte; für das Aufregende, nicht das Sichere; für das Richtige, nicht das Kluge. Ich bin überzeugt, je freier wissenschaftliche Erkenntnisse zugänglich sind, desto mehr haben wir alle davon. Aber ich weiß um das Risiko, dass dieser Weg letztlich vor allem die Anerkennung meines Textes behindert – so absurd das klingt. Das sollten wir ändern.

 

Ulrike Höppner hat mit einer englischsprachigen Dissertation zu “Power and Globalization. Patterns of Order in a Globalizing World” promoviert. Ihr derzeitiges Projekt beschäftigt sich mit den Auswirkungen von Vernetzung auf Identität. Sie hält das Internet für mehr als eine Mode und ärgert sich manchmal über die mangelnde Chancenverwertung der Geistes- und Sozialwissenschaftler.


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