theorieblog.de | „Beyond Rawls and Consensus“: Wege der Regierung pluraler Gesellschaften jenseits des politischen Liberalismus

20. Juni 2013, Spohn

Istanbul steht aufgrund der Proteste gegen den autoritären politischen Kurs von Ministerpräsident Erdogan dieser Tage im Mittelpunkt der internationalen Medienöffentlichkeit. Die Bilder von Demonstrant/innen, die sich mit echten und improvisierten Gasmasken vor den Tränengaswolken zu schützen suchen und von Wasserwerfern oder Gummigeschossen der Polizei niedergestreckt werden, beherrschen die Titelseiten der Zeitungen. Nur wenige Tage bevor die Situation mit der ersten brachialen Räumungsaktion des Taksim-Platzes und des Protestcamps in dem dahinter gelegenen Gezi-Park am 11. Juni erneut gewalttätig eskalierte, kamen politische Theoretiker/innen und Philosoph/innen zu einer Tagung an der Fatih-Universität in Istanbul zusammen, um über  „Pluralismus und Konflikt“ zu diskutieren.

Der Taksim-Platz am 10. Juni, einen Tag vor der gewaltsamen polizeilichen Räumung am darauffolgenden Morgen.

Die von Manuel Knoll, Stephen Snyder und Nurdane Şimşek organisierte internationale Konferenz „Pluralism and Conflict. Distributive Justice beyond Rawls and Consensus“ zielte darauf, das Rawls’sche Konzept eines vernünftigen Konsenses über allgemein zustimmungsfähige Gerechtigkeitsprinzipien kritisch zu diskutieren und auf seine Überzeugungskraft hin zu befragen. Dabei trafen Rawlsianische Positionen, die Rawls’ Theorie verteidigten oder weiterzuentwickeln suchten, auf Rawls-kritische Perspektiven, welche das Ziel eines Konsenses über Gerechtigkeit für verfehlt halten. Was folgt, ist kein klassischer Tagungsbericht. Vielmehr möchte ich die zentrale Problemstellung der Konferenz hier noch einmal aufgreifen und pointiert einige kritische Überlegungen zu der Idee der politischen Regulierung pluraler Gesellschaften mittels eines ‚vernünftigen Konsenses’ skizzieren.

 Was sich derzeit in Istanbul abspielt, hat kaum mehr etwas mit der Austragung eines Konflikts mit politischen Mitteln zu tun, vielmehr zeugt das Vorgehen der Regierung Erdogan schlicht von der Repression einer politischen Situation durch rohe Gewalt. Dass das brutale Einschreiten gegen die Demonstrant/innen auf dem Taksim-Platz und im Gezi-Park in Istanbul sowie an anderen Orten in der Türkei inakzeptabel ist, kann vom Standpunkt jeder politischen Theorie, die sich normativ grundlegenden Standards der Menschenwürde verpflichtet sieht, nicht kontrovers sein. Jenseits dieser aktuellen Situation roher Gewalt lässt sich am Beispiel Istanbuls bzw. der Türkei insgesamt jedoch eine Konfliktlage im politischen Sinne beschreiben, die durchaus politiktheoretisch kontrovers diskutiert werden kann. Gemeint ist eine Situation, in der religiöse – hier: islamische – und säkular-liberale gesellschaftliche Kräfte miteinander um die normative Ausgestaltung des Gemeinwesens ringen. Es stellt sich die Frage, ob Rawls’ Konzept eines vernünftigen Konsenses hier eine adäquate Orientierungshilfe bietet.

 Istanbul wird in Reiseführern gerne als „Schmelztiegel von Ost und West“ beschrieben. In den Medien wie auch in politikwissenschaftlichen Diskursen wird der darin suggerierte kulturelle Kontrast gerne durch die äußere Erscheinung von Frauen exemplifiziert. Dabei wird häufig dem „Kopftuch“ der „Minirock“ gegenübergestellt. Im Straßenbild Istanbuls herrscht diesbezüglich friedliche Koexistenz: Kopftuch bzw. Nikab (der Ganzkörperschleier, der nur die Augen frei lässt) und Minirock werden hier gleichermaßen selbstverständlich von Frauen getragen. Im politischen Diskurs der Öffentlichkeit westlicher Gesellschaften wird diese Differenz hinsichtlich weiblicher Kleidungsgewohnheiten häufig implizit oder explizit essenzialistisch und neokolonialistisch interpretiert, nach dem Motto: rückständige, partikulare religiöse ‚Tradition’ trifft auf fortschrittliche, universale liberal-säkulare ‚Moderne’. Man muss dieses fragwürdige Interpretationsschema hinsichtlich der Symbolik der verschiedenen Textilien nicht akzeptieren, um davon auszugehen, dass die Verschleierung resp. Nichtverschleierung Ausdruck differenter „moralischer Landkarten“ (Charles Taylor) der betreffenden Frauen sein kann (nicht muss). Moralische Landkarten lassen sich als Imaginationsräume verstehen, in denen Vorstellungen von der Stellung des Menschen in der Welt als geordnetem Ganzen (Kosmos), von der Konstitution des ‚Selbst’ und von der ‚Natur’ menschlicher Beziehungen ‚topografiert’ sind. Dies kann sich in unterschiedlichen Konzeptionen der Identität von und des richtigen Umgangs zwischen Frauen und Männern, Erwachsenen und Kindern, Alten und Jungen, Individuum und Familie, oder auch Menschen und Tieren niederschlagen. Auch dem säkularen Liberalismus und einer darauf basierenden ‚westlichen’ Lebens- (und Kleidungs-)weise unterliegt eine spezifische moralische Landkarte.

 Das Hauptproblem des Rawlsianischen Liberalismus besteht in seinem Anspruch, ethisch neutral zu sein. Der Anspruch der allgemeinen Akzeptabilität liberaler Gerechtigkeitsprinzipien beruht auf einem Vergessen oder Verdrängen oder aber auf der bedenkenlosen Universalisierung der eigenen moralischen Landkarte, also der zentralen Kategorien und Konzepte, mit Hilfe derer liberale politische Theorien das Menschsein und menschliche Beziehungen beschreiben und normativ strukturieren. Daraus resultiert ein inadäquates Framing der politischen Problematik moralischer Pluralität, wonach der Liberalismus nicht als eine mögliche ‚topografische’ Option verstanden wird, die mit anderen Optionen auf dem pluralen Feld moralischer Landkarten konkurriert, sondern als vermeintlich neutraler, übergeordneter normativer Rahmen, der die existierende moralische Pluralität gemäß der putativ universalen liberalen Topografie einhegt und begrenzt.

 Die Annahme neutraler, allgemein akzeptabler, von Konzeptionen des Guten unabhängiger und somit gesellschafts- oder gar weltweit zustimmungsfähiger Gerechtigkeitsprinzipien ist unplausibel. Sie beruht auf einem Selbstmissverständnis des von Rawls geprägten Strangs der liberalen Tradition. Der politische Philosoph Giovanni Giorgini plädierte daher auf der Konferenz in Istanbul für die (wieder) verstärkte Hinwendung zu solchen liberalen Denker/innen, die die moralische Partikularität des Liberalismus anerkennen und ihn als eine politische Ideologie begreifen. „Being an ideology is not a crime“, meinte Giorgini und warb für die bewusste Implementierung liberaler Werte durch Bildung und Erziehung in kulturell und religiös/weltanschaulich pluralen Gesellschaften. Während Giorginis Beschreibung des Liberalismus als einer substanziellen Weltanschauung begrüßenswert ist, erscheint es fraglich, dass die Etablierung einer liberalen Hegemonie tatsächlich die adäquate Antwort auf die politische Problematik moralischer Pluralität und daraus resultierender fundamentaler Dissense über Gerechtigkeit darstellt. Die Anerkennung der Verwurzelung des Liberalismus in einer spezifischen moralischen Topografie sollte stattdessen vielmehr zu der Beschäftigung mit solchen politiktheoretischen Ansätzen anregen, die sich – wie etwa die politischen Theorien John Grays und John Hortons – an dem Ziel der friedlichen Koexistenz differenter Moralen in ein und demselben politischen Gemeinwesen orientieren und dafür mit dem von Rawls verschmähten Konzept des Modus Vivendi operieren.

 Ein Modus Vivendi muss, anders als Rawls annimmt, nicht zwingend nur auf einer Machtbalance egoistischer Interessen beruhen, sondern kann alle möglichen Gründe einschließen, welche die beteiligten Parteien für ein Arrangement friedlicher Kooperation hegen. In der Tat gibt es unter einem Modus Vivendi jedoch keine Garantie, dass jede politische Regelung zwangsläufig eine liberale Form annehmen muss, wie das in einem Rawlsianischen politischen Rahmen der Fall ist. Die liberale Prägung eines Gemeinwesens sollte – demokratisch gesehen – von den Mehrheitsverhältnissen in einem Land abhängen und nicht von einem vermeintlich höheren philosophischen Standpunkt aus diktiert werden. Gleichzeitig sieht das Konzept des Modus Vivendi vor, dass Minderheiten ein gewisser Spielraum für die Verwirklichung ihrer Lebensweise zugestanden wird. Rawls’ Konzept eines vernünftigen Konsenses impliziert, dass alle Positionen, die sich nicht irgendwie affirmativ zu den von ihm identifizierten oder ähnlich gelagerten liberalen Gerechtigkeitsprinzipien verhalten, ‚unvernünftig’ sind. Diese Engführung wird der existierenden Pluralität moralischer Positionen in kulturell und religiös/weltanschaulich vielfältigen Gesellschaften jedoch nicht gerecht. Statt einen liberalen ‚Konsens’ zu erzwingen, müssen plurale Gemeinwesen jeweils kontextgebunden Wege finden, konfligierende und zum Teil unversöhnliche moralische Positionen durch Kompromisslösungen zu befrieden.

In Istanbul besteht eine aktuelle Herausforderung in dieser Hinsicht in den gerade verschärften Regelungen zum Konsum von Alkohol in der Öffentlichkeit. Während Cafés in der Nähe von Moscheen und Schulen ihren Gästen keine alkoholischen Getränke verkaufen, werden auf der İstiklal Caddesi, der großen Flaniermeile der Stadt, aus Protest gegen diese ‚nüchterne’ Politik derzeit an kleinen Ständen Bacardi und Co. ausgeschenkt. Es wird sich zeigen müssen, ob – nach dem hoffentlich baldigen Wiedereintreten in einen (gewaltlosen) politischen Zustand – islamischen und säkular-liberalen Kräften in der Türkei in diesen und anderen Fragen ein Modus Vivendi gelingt.


Vollständiger Link zum Artikel: https://www.theorieblog.de/index.php/2013/06/beyond-rawls-and-consensus-wege-der-regierung-pluraler-gesellschaften-jenseits-des-politischen-liberalismus-3/