Deliberation oder Demokratie? – Thorsten Hüllers Replik

Im Rahmen unserer Kooperation mit der ZPTH haben wir hier auf dem Theorieblog vor zwei Wochen den Artikel „Deliberation oder Demokratie? Zur egalitären Kritik an deliberativen Demokratiekonzeptionen“ von Thorsten Hüller zur Diskussion gestellt. Daniel Gaus hat mit einem Kommentar in die Diskussion eingeführt. Im Folgenden reagiert Thorsten Hüller nun auf die Kritik.

Viele Wege führen Richtung Athen, Rom etc.

Daniel Gaus’ Zusammenfassung meines Aufsatzes ist so hervorragend gelungen und seine kritischen Bemerkungen sehe ich vor allem als Weiterungen meiner Überlegungen, so dass ich zunächst einmal gar keinen größeren Bedarf für eine Replik sehe, sondern nur für ein herzliches ‚Danke!’.

Daniel deutet das zentrale Ergebnis, dass in modernen Demokratien Aggregation, Verhandlung und Deliberation zusammenkommen müssen, in erster Linie als eine Rückbesinnung auf Überlegungen, die sich bereits bei Habermas und Anderen in frühen Schriften zur aktuellen Debatte um deliberative Demokratie finden. Er fragt zudem nach, ob wir Institutionalisierungsformen von Modellen einer aggregativen Demokratie, Verhandlungsdemokratie und deliberativer Demokratie überhaupt „auf Augenhöhe“ vergleichen können oder ob man dadurch nicht Gefahr läuft, von demokratischen Elementen befreite Beratungsprozesse (‚Deliberation ohne Demokratie’) in den Blick zu nehmen. Dieser letzte Punkt wird von Daniel Jacob noch in Richtung einer Sequentierung der unterschiedlichen Modi zugespitzt (first talk, then vote).

Zunächst zur Vergleichbarkeit deliberativer mit anderen Verfahren. Tatsächlich wird etwa in aktuellen empirischen Forschungen über Beratungsprozesse der demokratische Aspekt weitgehend herausgehalten. Untersucht wird dann die deliberative Qualität der Austauschprozesse (in verschiedenen Dimensionen), Konvergenz von Positionen usw. Die Frage, wer dort berät, für wen er oder sie sprechen kann bleibt in diesen Untersuchungen meist außen vor. Untersucht wird so bestenfalls die deliberative Qualität, nicht aber die deliberativ-demokratische Qualität.

Ist das in diesen aktuellen empirischen Forschungen präsentierte Verständnis von ‚Deliberation ohne Demokratie’ tatsächlich schon in den maßgeblichen normativen Texten ausbuchstabiert, in dem also deliberative Prozesse nur durch Ergänzung und Kombination mit anderen Verfahren demokratisch werden? Das würde ich bezweifeln. In Cohens „Deliberation and Democratic Legitimacy“ oder in Habermas’ „Faktizität und Geltung“ wird ein Bild von öffentlichen Beratungen gezeichnet, die selbst demokratische Qualitäten hinreichend verbürgen sollen. Politische Gleichheit, Inklusion usw. sind bei ihnen zentrale Kriterien für anspruchsvolle deliberative Prozesse und nicht solche, die vorher oder nachher durch andere, nicht-deliberative Verfahren hinzugefügt werden (sollen).

Darüber hinaus finden diese normativen Erwartungen in diesen Texten auch ihre institutionellen Orte. Nur sollte aus meiner Sicht die Literatur über deliberative Demokratie in ihrer Gesamtheit nicht so gelesen werden, als ob sich alle Autoren auf einen Ort, etwa Habermas’ Vorstellung nicht-vermachteter Öffentlichkeit geeinigt hätten,oder wir sicher erwarten könnten, dass diese tatsächlich die beste Praxis deliberativer Demokratie darstellt. Es ist die Uneinigkeit, die ein pluraleres Verständnis deliberativer Institutionen sinnvoll erscheinen lässt. Das macht einen Vergleich etwas schwieriger, mehr aber nicht.

Artifiziell ist der angestrengte Vergleich der drei Verfahrensarten insofern als um des Vergleichs Willen angenommen wird, dass es alle drei Typen als mehr oder weniger Reine geben könnte. Dies wird aber eben nur angenommen, um zu zeigen, dass dies aus unterschiedlichen Gründen nicht der Fall ist und auch nicht der Fall sein kann.

Nicht nur die im Aufsatz behandelten Kritiken an deliberativen Demokratiekonzeptionen, sondern auch in anderen aktuellen Kontroversen um Demokratie jenseits des Staates oder in der empirischen Forschung zur Messung demokratischer und/oder deliberativer Qualität wird zumeist keine Verfahren integrierende Perspektive eingenommen: Deliberative Prozesse spielen schlicht zumeist keine Rolle oder werden für sich allein untersucht. Auf normativer Ebene wird das Thema ‚agonal’ verhandelt (entweder-oder).
Besonders in „Faktizität und Geltung“ findet sich dagegen bereits, ganz wie Daniel Gaus zu Recht ausführt, eine systemische Situierung deliberativer Prozesse in einer komplexeren politischen Ordnung, die auch Verhandlungsprozesse und Wahlen kennt. Trotzdem geht es mir nicht um eine bloße Rückbesinnung auf die Inhalte dieses Buches, weil wir damit zugleich ein sehr spezielles Programm der Verbindung von Wahlen, Verhandlungsprozessen und Diskursen auszeichnen würden, eines bei dem (moralische) Diskurse einen normativen Vorrang vor Verhandlungen und Abstimmungen haben, wo nicht staatlich organisierte Beratungen per se anspruchsvoller zu sein scheinen als solche, die von staatlichen Akteuren organisiert sind, wo die Verbindungsstücke zwischen diesen Verfahren teilweise unklar bleiben usw.

Entsprechend geht es mir um eine Rückbesinnung auf die Unklarheiten und kontroversen Fragen, die eine solche verfahrenübergreifende makrotheoretische Perspektive auf ein normatives Demokratiekonzept auch und gerade in Abarbeitung an „Faktizität und Geltung“ noch zu bearbeiten hat.

Ein erster Schritt ist es aus meiner Sicht, die Verfahren und ihre Leistungen für sich zu diskutieren – wegen mir auch in zum Teil kontrafaktischen Analysen. Erst dann stellen sich weitere Fragen etwa nach adäquaten Kombinationen dieser Verfahren in der Praxis.

Vorschläge wie ‚first talk, then vote’ genauso wie Habermas’ komplexeres Modell deliberativer Demokratie neigen dabei aus meiner Sicht zu einem institutionellen Kurzschluss zwischen normativen Aspirationen und Institutionalisierungsformen einerseits, aber auch zu einer unplausiblen Generalisierung gewünschter Abfolgen von Verfahrenssequenzen. Aus normativer Sicht erwarten wir von den Beteiligten an politischen Entscheidungsprozessen zumindest das was Dahl ‚enlightened understanding’ genannt hat. Unstrittig ist es wohl, dass Beratungen dort aufklärend wirken, wo Aufklärungsbedarf besteht. Die Formulierung ‚first talk, then vote’ scheint nun aber bei allen politischen Entscheidungen einen solchen Aufklärungsbedarf zu sehen. Das halte ich für falsch. Ich kann, um ein Beispiel zu nennen, auf den uns bevorstehenden ‚talk’ über die Wahlalternativen im Herbst verzichten und weiß trotzdem bereits für welche Partei ich mit guten Gründen stimmen werde. Selbst wenn wir vor einem in Hinblick auf deliberativ-demokratische Standards außergewöhnlich anspruchsvollen Wahlkampf stünden, würde dieser die für mich entscheidungsrelevante Frage (Welche Partei passt am besten zu meinen wichtigsten politischen Überzeugungen?) nicht neu beantworten. Anders formuliert: Meine politischen Präferenzen sind hier exogen – genauso wie in einigen anderen Bereichen. ‚Talk’ ist vor allem dort wichtig, wo Überzeugungen erst noch gebildet werden (müssen).

Daher plädiere ich dafür, nicht allein auf spezifische (Abfolgen von) Verfahren zu schauen, sondern den Zusammenhang zu den normativen Aspirationen im Blick zu behalten.

Daniel Jacob fragt schließlich, welchen Stellenwert der Hinweis im Aufsatz haben soll, dass es für den Verfahrensvergleich wichtig sei, dass es nur eine Demokratiekonzeption geben kann. Vielleicht ist diese Passage nicht auf bestmögliche Weise entwickelt, aber die Überlegung soll den Rahmen für einen fairen Vergleich von deliberativen Demokratiekonzeptionen mit ihren egalitären Kritikern entwickeln. So wie die egalitären Kritiken angelegt sind, können und wollen diese nicht Demokratie kritisieren, sondern die demokratische Plausibilität deliberativer Spielarten bestreiten. Entsprechend darf für den Vergleich angenommen werden, dass sich Vertreter und Kritikerinnen deliberativer Demokratie auf bestimmte Demokratie anzeigende Bewertungsstandards einigen können und darauf, dass diese in bestimmten nicht-freiwilligen Assoziationen mit kollektiv-verbindlichen Regelungen gelten sollen. Dann ist aus der Vielzahl vorhandener Demokratiekonzeptionen diejenige vorzugswürdig, deren Institutionalisierungsformen die bestmögliche Realisierung dieser gemeinsamen Standards verspricht.

Das mag trivial erscheinen und auch trivial sein, gilt aber natürlich nicht für alle Vergleiche von normativen Konzeptionen. Libertäre Kritiken an deliberativen Demokratiekonzeptionen müssten beispielsweise anders diskutiert werden, wenn sie ernsthaft geprüft werden sollen.

Thorsten Hüller ist Akademischer Rat am Sonderforschungsbereich 597
„Staatlichkeit im Wandel“ an der Universität Bremen

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