Vegetarismus als Hochschulpolitikum

An der Universität Basel wird gekämpft: Für eine fleisch- und fischfreie Mensa. Der Vorstoß einiger Studierenden, der vom Studierendenrat angenommen wurde, sorgt uniintern und -extern für jede Menge Aufsehen und teils immense Empörung. Vegetarismus und Veganismus werden zum (Hochschul-)Politikum. Die Gegner fühlen sich in ihrem Lebensstil beeinträchtigt; die InitiantInnen haben immerhin einen 13-seitigen Antrag verfasst mit ethischen, sozioökonomischen, und ökologischen Gründen. Jens Hermes und Adriano Mannino gehören zu den InitiantInnen. In einem Interview mit Theorieblog erklären sie ihre Gründe.

Theorieblog: Ihr habt gefordert, dass die Mensa fleisch- und fischfrei wird und dass täglich ein veganes Menü angeboten wird. Wie haben die Mensa und die Uni bisher darauf reagiert?

Jens: Beide Seiten waren bereits im Begriff, das Gesamtkonzept in Richtung Nachhaltigkeit zu optimieren. Ein (moderater) Ausbau des vegetarischen Angebotes war auch geplant. Zugleich aber hieß es, man würde grundsätzlich das anbieten, was die Mehrheit der Studierenden wolle.

Theorieblog: Wie begründet Ihr Euren Vorstoß?

Jens: Zwei ökologische und sozioökonomische Fragen, die von globaler Relevanz sind, lauten: Wie können wir den Ausstoß von Treibhausgasen reduzieren? Und: Wie bekämpfen wir die Nahrungs- und Wasserknappheit, die nach wie vor hunderte Millionen Menschen betreffen? Es wird noch viel zu selten erwähnt, dass der Konsum von Fleisch und anderen Tierprodukten einer der Hauptverursacher dieser Probleme ist. Schon 2010 haben die Vereinten Nationen daher festgestellt, dass die vegane Ernährung einen großen Beitrag zur Lösung leisten könnte.

Adriano: Aber am direktesten und massivsten von unserem Tierkonsum betroffen sind natürlich die nicht-menschlichen Tiere. Alleine in der Schweiz werden jährlich über 50 Millionen Tiere völlig unnötig und oft qualvoll eingesperrt, transportiert und getötet. Weltweit sind es pro Jahr über 50 Milliarden Landtiere. Die Wassertiere zählt man längst nur noch in Tonnen. Das Ausmaß des Leides, das die Haltung und Tötung sogenannter „Nutztiere“ verursacht, ist unvorstellbar. Im Zusammenhang mit dem Antrag haben wir dazu Infopage „Tiere essen“ erstellt.

Theorieblog: Ein Argument der Gegenseite lautet, die eigene Wahlfreiheit werde beschnitten und eine bestimmte Lebensweise aufgezwungen. Die Reaktionen sind teilweise sehr heftig und unsachlich, ihr werdet als Salon-VeganerInnen oder Schickimicki-VegetarierInnen betitelt.

Jens: Ich reagiere gelassen auf solche Aussagen. Einerseits vermute ich, dass ich früher ähnlich reagiert hätte, bevor ich mich ernsthaft und offen mit den Fakten beschäftigt habe. Andererseits, erreicht mich auch sehr viel motivierendes Feedback.

Adriano: Wir haben nie bestritten, dass es im Allgemeinen ein Problem ist, die (kulinarische) Wahlfreiheit anderer Menschen einzuschränken. Nur ist es auch ein Problem, dies nicht zu tun und damit Ungerechtigkeiten zuzulassen. Es scheint ziemlich lächerlich, sich sozusagen altruistisch um die kulinarische Wahlfreiheit einiger Menschen zu sorgen, aber die genannten massiven Schadensfolgen des Tierkonsums zu ignorieren. Nicht zuletzt gilt es in diesem Zusammenhang auch auf das Nicht-Schadensprinzip des britischen Philosophen John Stuart Mill zu verweisen, das in liberalen Gesellschaften gilt und politisch unumstritten sein sollte: Die Freiheit des einen endet dort, wo die Schädigung (bzw. die Freiheit) des anderen beginnt! Es gibt kein Recht, andere völlig unnötig zu schädigen.

Theorieblog: Wie könnte man die Gegenseite umstimmen? Seht Ihr da eine Perspektive oder ist das Thema so heikel, dass die GegnerInnen ohnehin gleich die Ohren verschließen und stur bleiben?

Jens: Neben der Informationskampagne über tierethische, ökologische, sozioökonomische und auch gesundheitliche Aspekte ist es in der Praxis notwendig, konkret aufzuzeigen, dass die vegetarisch-vegane Ernährung abwechslungsreich und lecker ist.

Adriano: Und viele Argumente sind in ihrer Stärke noch kaum bekannt. Wie viele MilchkonsumentInnen sind sich etwa bewusst, dass Kühe nur dann Milch geben, wenn sie permanent geschwängert werden, wobei ihnen die Kälber meist gleich nach der Geburt entrissen werden, weil ja wir an die Milch wollen? Wie viele EierkonsumentInnen wissen, dass alleine in der Schweiz pro Jahr über zwei Millionen männliche Küken als „nutzarmer Überschuss“ gleich nach dem Schlüpfen qualvoll vergast oder zerhäckselt werden? Und dass „Bio“ bei alledem selten einen Unterschied macht? Aber gewisse Verhärtungen lassen sich kaum vermeiden, wenn man progressive Forderungen stellt, die dem Status quo zuwiderlaufen.

Theorieblog: In Berlin an der FU gibt es seit 2011 eine fleisch- und fischfreie Mensa, wenngleich auch nur eine Zweigestelle. Habt Ihr Euch daran orientiert bzw. Euch ausgetauscht?

Jens: Wir haben uns im Vorfeld über die Idee, die Umsetzung und die Ergebnisse der Vegi-Mensa in Berlin informiert. Durch die steigenden Kundenzahlen und das positive Feedback in der breiten Bevölkerung, das die Mensa in Berlin erhalten hat, fühlten wir uns in unserer Motivation bestärkt.

Theorieblog: Adriano, du studierst Philosophie. Wie zentral ist die Tierethik deiner Ansicht nach im Philosophiestudium?

Adriano: In Zürich, Bern und Basel habe ich zunehmendes Interesse an der Thematik festgestellt, das sich auch in Forschung und Lehre niederschlägt. In Basel hat der Grundkurs Praktische Philosophie zum Beispiel den angewandten Schwerpunkt der Natur- und Tierethik. Außerdem gibt es bei den Basler Juristen ein Graduiertenprogramm zu „Law and Animals“. Philosophisch stellt sich einfach die folgenschwere Frage des Speziesismus: Ist es legitim, Menschen überhaupt in irgendeiner Weise gegenüber bewussten nicht-menschlichen Tieren zu privilegieren? Mit welcher Rechtfertigung? Dass das Schwein z.B. die „falsche“ Anzahl Beine habe, kann ja – angesichts unserer dezidierten Ablehnung anderer Diskriminierungsformen wie Rassismus oder Sexismus – nicht unser Ernst sein. Was aber verhindert dann die Aufnahme des Schweines in die Gemeinschaft der moralisch Gleichwertigen? Wir können nicht länger ignorieren, dass es auch nicht-menschliche Individuen gibt, ja dass sie auf diesem Planeten die Mehrheit stellen. – In einer Antwort an Bernard Williams hält Peter Singer fest, dass diese Argumente in vier Dekaden tierethischer Debatte nicht entkräftet werden konnten.

Theorieblog: Wie geht es in der Mensa-Angelegenheit weiter?

Jens: In der letzten Sitzung des Studierendenrats haben sich die Ratsmitglieder auf einen Gegenvorschlag geeinigt, der einen vegetarischen Tag pro Woche, ein tägliches veganes Menü sowie die Verbilligung des Salatbuffets vorsieht. Gegen diesen Entscheid wurde erneut ein Referendum ergriffen, das zu einer Urabstimmung unter allen Studierenden führt. Wir gehen davon aus, dass die Mehrzahl der Studierenden für diesen äußerst moderaten Vorschlag stimmen wird und dass in absehbarer Zukunft ein wöchentlicher Vegi-Tag eingerichtet wird. Ausserdem sind öffentliche Vorträge zum Thema geplant und Unterstützung erfahren wir auch durch das Philosophische Seminar, das relativ spontan eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen hat, die die Thematik unvoreingenommen und wissenschaftlich beleuchtet. Ausserdem stellen wir unser Erfahrungswissen nun auch Studierenden anderer Unis zur Verfügung, um den Impact der Aktion zu vervielfachen. Studierende der Universität Bern haben bereits durch die Presse kommuniziert, dass sie unserem Vorbild folgen werden.

31 Kommentare zu “Vegetarismus als Hochschulpolitikum

  1. Wahrscheinlich ist es weniger die Übereinstimmung dazu, die die eventuellen Debatten aufflammen lassen, sondern die vermeintliche oder tatsächliche Luxuriösität des „Problems“. Während eine Vielzahl von Menschen auf der Welt nichts zu fressen hat, wird in der Schweiz (sic!) darüber gerungen, ob in einer Uni-Mensa nicht endlich mal vegetarisch aufgetischt werden kann. Die FU-Mensa ist ja schon mal ein gutes Beispiel für Habitus-Performance. „Welchen Stellenwert hat Tierethik im Studium?“ Wohl einen zu geringen, nachdem die akademische Philosophie zur aktuellen Krise – ganz neben dem täglichen Hungersterben von 50-100 Tausend -, ohnehin schon nichts beitragen kann. Wahrlich zum Kotzen das alles.

  2. Das Statement ist plakativ und geht in eine falsche Richtung: Der Fleischkonsum ist nämlich auf komplexe Weise mit dem Welthungerproblem verbunden. Daher ist es kein Luxus, sich darüber Gedanken zu machen, mal abgesehen davon, dass eben gerade kein anthropozentrischer Speziesismus vertreten werden soll; selbst unabängig davon lässt sich der Fleischkonsum gerade im Namen der armen Bevölkerungen kritisieren, da über die Tierproduktion, erstens, Unmengen an Getreide und anderen Ressourcen verschwendet werden, die man verwenden könnte, um Menschen zu ernähren, und, zweitens, die Getreidepreise so steigen, dass sich die Menschen in den Ländern, in denen das Getreide angebaut wird, es sich selbst nicht mehr leisten können.

    „Je mehr Fleisch erzeugt wird, desto mehr steigt der Bedarf an Soja und Futtergetreide wie Mais, Gerste, Hafer und Futterweizen. Die hohe Nachfrage der Tierindustrie nach Futter treibt die Preise für diese Grundnahrungsmittel weltweit in die Höhe und verdrängt auch andere Anbauarten wie Reis beim Konkurrenzkampf um Anbauflächen.“
    Siehe: http://www.welthungerdemo.de/welthungerkrise.php
    http://www.peta.de/web/welthunger.487.html

  3. Selbst im Rahmen einer anthropozentrisch-speziesistischen Ethik gibt es genügend Gründe, die Veränderung unserer Ernährungsweise viel höher zu priorisieren, als dies gegenwärtig der Fall ist: Der Veganismus leistet einen grossen Beitrag zur Lösung globaler sozioökonomischer und ökologischer Probleme.
    http://www.tier-im-fokus.ch/mensch_und_tier/veganismus_linke/

    Das „tägliche Hungersterben von 50-100 Tausend“ sollte akademisch natürlich auch sehr viel höher gewichtet werden. Aber was ist mit der täglichen Versklavung und Ermordung von 150 Millionen? Warum sollte das Leid nicht-menschlicher Tiere weniger zählen als das Leid von Menschentieren? Mir ist bisher noch keine stichhaltige Rechtfertigung des Speziesismus begegnet.
    http://www.tier-im-fokus.ch/mensch_und_tier/speziesismus/

  4. Ich sehe das Argument für den Veganismus ein. Aber wenn es darum geht, möglichst wenig Lebewesen zu schädigen, müssten wir dann konsequenterweise nicht Fruktarier werden und auch auf pflanzliche Nahrung verzichten?

  5. Guter Punkt. Ich bin heute gerade dem Argument begegnet, als Veganer müsse ich es auch schleunigst unterlassen, den armen Brokkoli auf meinem Teller zu ermorden.

    Zunächst ist festzuhalten, dass viele Argumente gegen den Veganismus psychologisch natürlich dadurch motiviert sind, das Zugeständnis der Notwendigkeit einer Verhaltensänderung auf Biegen und Brechen zu vermeiden. Dass es sich beim Brokkoli-Argument – das Pflanzen und Tieren implizit denselben oder zumindest einen sehr ähnlichen ethischen Status zuspricht – um eine Rationalisierung handelt, sieht man zum Beispiel daran, dass es seine Befürworter darauf verpflichtet, Gesetze gegen „Pflanzenquälerei“ zu befürworten, die nicht weniger streng sind als diejenigen gegen Tierquälerei. Wer dies aber (vernünftigerweise) nicht tut, akzeptiert damit schon, dass es einen ethisch bedeutsamen Unterschied zwischen Tieren und Pflanzen gibt. Biologisch scheint er darin begründet zu liegen, dass Pflanzen über kein zentrales Nervensystem (oder Analogon dazu) verfügen und daher nach allem, was wir wissen, kein Bewusstsein haben, also weder Wohl noch Wehe empfinden können. „Gut“ und „schlecht“ scheinen immer nur „gut bzw. schlecht für jemanden“ bedeuten zu können – und ein jemand ist nur da, wo Bewusstsein da ist. Insofern kann man einer Pflanze aller Wahrscheinlichkeit nach ebensowenig etwas Gutes oder Schlechtes tun wie einem Stein. (Aus demselben Grund scheint es z.B. auch irrational zu sein, sich intrinsisch darum zu sorgen, was mit „einem“ geschieht, nachdem das Bewusstsein irreversibel erloschen ist.)

    Aber nehmen wir an, es wäre anders und Pflanzen hätten auch ein Recht auf Nicht-Schädigung. Dann bestünde wohl tatsächlich ein ethischer Imperativ, der bis zum Fruktarismus reichte (zumindest unter der Voraussetzung, dass der Fruktarismus gesund möglich ist). Allerdings wäre das Brokkoli-Argument als Einwand gegen die Veganisierung unserer Ernährungsgewohnheiten nach wie vor ungültig: Es würde zwar zeigen, dass der Veganismus ethisch nicht optimal ist. Doch es bliebe dabei, dass der Veganismus für die Tiere ganz massiv besser ist – und auch für die Pflanzen! Denn zur Erzeugung von 1kg Fleisch bedarf es bis zu 10kg Pflanzen.

    Aber eben: Die „Schädigung“ eines Lebewesens scheint ethisch an sich kein Problem darzustellen – es geht um die Schädigung *bewusster*, *empfindungsfähiger* Lebewesen. Denn es gibt keine „Probleme tout court“ (Was könnte dies überhaupt bedeuten?), sondern Probleme sind immer *jemandes* Probleme, konkreter: jemandes verletzte *Interessen*, deren Existenz wiederum an das Vorliegen von Bewusstsein bzw. Empfindungsfähigkeit gebunden ist. Ganz zentral scheint dabei das Interesse an der Vermeidung von Schmerz bzw. Leid zu sein. Dieses Interesse ist bei nicht-menschlichen Tieren klar vorhanden (http://en.wikipedia.org/wiki/Animal_awareness#Cambridge_declaration), während seine Postulierung bei Pflanzen philosophisch und empirisch nicht gedeckt ist.

  6. Ok. Wenn es also um leidfähige Lebewesen geht, die alle gleichermassen Rechte haben, müsste man dann auch alle Tierversuche strikt verbieten? Und was machst du mit den Wildtieren? Die leiden auch.. müssten wir da etwa in die Natur intervenieren? Ist das nicht absurd? Der Theorieblog hat dies schon einmal zum Thema gemacht: http://www.theorieblog.de/index.php/2010/09/and-the-wolf-will-dwell-with-the-lamb-jeff-mcmahan-zur-tierethik-und-ich-zur-berufsethik/

  7. Liebe Alle,

    dennoch bleibt das Argument von Alexander bestehen. Auch wenn das Problem des Fleischkonsums natürlich seine „Legitimität“ hat, ist es doch bezeichnend, warum sich engagierte Studierende der Philosophie so eingängig mit der Frage nach Verbietung des Fleischkonsums an der Mensa und Fragen des Veganismus oder gar Fruktarismus auseinandersetzen und zur aktuellen ökonomische und politischen Krise nichts zu sagen haben.

    Hängt es vielleicht damit zusammen, dass die Fronten bei der Frage Fleichkonsum oder Veganismus einfach zu bestimmen sind, die Argumente schon a priori relativ klar sind und sich problemlos eine klare Grenzziehung zwischen den tugendhaften und avantgardistischen Vegetariern (oder gar Veganern) und den verbohrten und ewig gestrigen Fleischkonsumenten ziehen lässt?

    Das Problem der akademischen Philosophie ist nicht, da schließe ich mich Alexander an, dass zuwenig über Tierphilosophie gesprochen wird, sondern dass ihr der Sinn für das Politische und nach den großen, milieuübergreifenden Fragen nach Gleichheit und Gerechtikeit abhanden zu kommen droht. Wenn die gegenwärtige Philosophie so wenig zur aktuellen Krise zu sagen hat, so hängt das vielleicht auch damit zusammen, dass die – auch die angehenden – Philosophinnen und Philosophen sich Fragen stellen, die nur sehr partikulare Standpunkte und Interessen wiederspiegeln.

    Warum debattiert Ihr über ein „Luxusproblem“ wie die Essensausgabe der Mensa und nicht über die Essensqualität der Schweizer Tafel, der Basler Gassenküche oder des Männerwohnheims (seien sie vegetarisch oder nicht)? Freilich bedürfte das Aufwerfen solche Fragen einen Blick über den Tellerrand der wohlbehüteten und behaglich in sich gekehrten akademischen Welt.

    Wahrscheinlich ist es weniger die Übereinstimmung dazu, die die eventuellen Debatten aufflammen lassen, sondern die vermeintliche oder tatsächliche Luxuriösität des “Problems”. Während eine Vielzahl von Menschen auf der Welt nichts zu fressen hat, wird in der Schweiz (sic!) darüber gerungen, ob in einer Uni-Mensa nicht endlich mal vegetarisch aufgetischt werden kann. Die FU-Mensa ist ja schon mal ein gutes Beispiel für Habitus-Performance. “Welchen Stellenwert hat Tierethik im Studium?” Wohl einen zu geringen, nachdem die akademische Philosophie zur aktuellen Krise – ganz neben dem täglichen Hungersterben von 50-100 Tausend -, ohnehin schon nichts beitragen kann. Wahrlich zum Kotzen das alles.

  8. „…nach den großen, milieuübergreifenden Fragen nach Gleichheit und Gerechtikeit abhanden zu kommen droht“

    Lieber David, ich vermute, du kannst nur schreiben, was du schreibst, weil wir eine grundlegende Meinungsverschiedenheit darüber haben, was eine Frage zu einer „grossen“ bzw. ein Problem zu einem „grossen“ macht. Und der folgenschwerste Divergenzpunkt könnte in speziesistischen Annahmen bestehen, die dein Denken nach wie vor zu prägen scheinen.

    Aber vielleicht liege ich mit dieser Einschätzung falsch. Darum würde mich interessieren, was deines Erachtens eine Frage zu einer „grossen“ bzw. ein Problem zu einem „grossen“ macht. Ein Problem ist umso grösser (und seine Priorität umso höher), je … ?

  9. Ich sehe es nicht so, dass Studierende und angehende AkademikerInnen sich nicht mit anderen Problemen befassten, die Menschen betreffen, wie etwa das Armutsproblem. Im Anschluss an Pogges Buch „World Poverty and Human Rights“ sind enorm viele Publikationen zu diesem Thema erschienen. Ich und Kollegen lesen eine Menge Seminar- und Abschlussarbeiten zu Menschenrechten. Im Rahmen des Grundkurses Praktische Philosophie der Uni Basel werden Ausschnitte aus dem Film „Hunger“ gezeigt und die Armutsproblematik vor dem Hintergrund der Ethik Martha Nussbaums diskutiert. In Zürich gab es kürzlich eine spannende Tagung zum Thema „Ethisch konsumieren“, bei dem es grundsätzlich um unsere Verantwortung gegenüber anderen Lebewesen – Menschen wie Tieren – durch unseren Konsum ging (http://www.ethik.uzh.ch/ufsp/agenda/konsumieren.html). Überhaupt ist „Weltarmut“ oder auch „Asylpolitik“ am Ethikzentrum in Zürich ein grosses Thema. Insofern noch einmal: Das Argument ist nicht nur ein banales Totschlagsargument, sondern auch noch falsch.

  10. >> wenn es darum geht, möglichst wenig Lebewesen zu schädigen, müssten wir dann konsequenterweise nicht Fruktarier werden

    Ich würde mich hier einfach auf den Standpunkt stellen, dass prinzipiell nicht möglich ist, eine Pflanze zu schädigen – beziehungsweise etwas genauer gesprochen, ist es nicht möglich eine Pflanze in dem Sinn zu schädigen, dass wir diesen Schaden als eine Form von Gewalt gegen die Pflanze bezeichnen würden. Wenn wir argumentieren können, dass Pflanzen (oder zumindest diejenigen Pflanzen, die wir essen und benutzen) keinerlei Bewusstsein haben und keine subjektiven Erfahrungen machen können, wie kann dann irgendeine Handlung einen subjektiven Schaden für eine Pflanze konstituieren?

    Zugegeben muss man etwas in die Richtung der Philosophie des Geistes ausholen, um die Prämisse zu unterfüttern, aber es gibt glaub’ zwei relativ einfache Argumente: (Wobei das erste eher ein Indiz, als eine Falsifikation ist.)
    (1) Das Ausbilden eines Bewusstseins ist mit einem Energieaufwand für einen Organismus verbunden. Es muss einen Selektionsvorteil geben, der diesen Aufwand kompensiert. Weil sich Pflanzen nicht bewegen können, haben sie im Großen und Ganzen weniger Möglichkeiten, von einem abstrakten Abbild ihrer selbst in der Welt zu profitieren (in dem Sinn, dass sie dadurch etwa bessere Entscheidungen treffen könnten oder sich effektiver verteidigen könnten).
    (2) Die Struktur des Begriffs eines „Selbst“ in der Welt zu haben, erfordert, dass Informationen über einen Organismus in einer zentralen Struktur „zusammenkommen“. Pflanzen haben keine anatomische Struktur, die dieses Zusammenkommen (und Verarbeiten) von Informationen unterstützt.

  11. Ich erkenne bei den letzten Kommentaren zwei unterschiedliche Spannungen: Zwischen „großen“ und „kleinen“ Problemen, und zwischen eher struktur- und eher akteursorientierten Problemanalysen und -lösungen. Den ersten Punkt hat Susanne ja eben angesprochen: Beide „Größenordnungen“ müssen in den Blick genommen werden, und das geschieht ja bisweilen auch.
    Was aber das Strukturproblem anbelangt, und darauf will wohl Alexander und vielleicht auch David hinaus: Man kann natürlich immer sagen, dass der Gang zum Bioladen oder in die Veggiemensa rein gar nichts ändert an strukturellen Problemen, selbst wenn dadurch ein paar Tieren artgerechtere Haltung ermöglicht oder etwas CO2 eingespart wird. Aber das Strukturlamento – gerade marxistisch orientiert – birgt (jetzt mal zugespitzt gesagt)natürlich immer die Gefahr, jegliche ethische Handlung als unter gegenwärtigen Bedingungen vergebens abzutun, nach der Devise, es gäbe „kein richtiges Leben im Falschen“. Das ist, wie ich finde, dann doch zu wenig, wenn mir niemand sagen kann, wann und wie denn ein Systemwechsel (der ja oft die Zielvorstellung von Strukturkritik ist) zu bewerkstelligen sei.

  12. Und zum Elitismusvorwurf (Stichwort „Luxusproblem“):

    Würden wir das Argument, dass wir uns zuerst um den Welthunger kümmern müssen, bevor wir – beispielsweise – Frauenhäuser unterhalten, oder uns für die Aufenthalts- und Freiheitsrechte von geflüchteten Menschen einsetzen überhaupt bedenken? Wäre dieses „Argument“ in irgend einem emanzipatorischem Kontext hinnehmbar?

    Mir scheint dass dieser Vorwurf nur genau dann plausibel ist, wenn man auf dem (speziesistischem) Standpunkt steht, dass die grundlegenden Interessen nichtmenschlicher Tiere prinzipiell hinter menschlichen Interessen zurückzustehen hätten.

    Und selbst dann hält er keiner kritischen Analys stand, denn einen wesentlichen Teil der Tragik macht es ja gerade aus, dass in der Veganismusdiskussion gar kein echter Interessenkonflikt vorliegt: Wir können problemlos vegan leben und trotzdem den Schwerpunkt unserer politischen Arbeit bspw. auf Armuts- oder auf Kapitalismuskritik legen. Wenn ihr andere Sachen wichtig findet, würde glaub keinE veganeR AktivistIn einfordern, dass ihr in der Sache alles stehen und liegen lasst. Das einzige, was wir momentan diskutieren, ist doch lediglich, dass wir aufhören sollten uns an der Ausbeutung von nichtmenschlichen Tieren zu beteiligen.

  13. Zur Frage nach den Problemgrössen – und entsprechend: nach den Priorisierungen! – hat Oscar Horta (Santiago de Compostela) ein wichtiges Paper verfasst: http://masalladelaespecie.files.wordpress.com/2010/05/questions_priority_interspecies.pdf

    „8. CONCLUSIONS
    We have seen that there is a wide difference between the number of humans and the number of those nonhumans who are harmed due to their use by humans. Of course some of the figures and estimations that have been considered here are obviously approximate, but they are based on real data and seem to be reasonable ones. Figures concerning well-being are more speculative: obviously so, since we lack any data which could actually make experiences accessible. However, they are plausible enough to allow us to consider the question in a fairly realistic way. Given this, it seems we can draw some conclusions from the
    line of reasoning presented above.
    By now, the main one is likely to be expected. No human activity directly affects
    negatively a so high number of individuals as humans’ consumption of nonhumans does. And we all can make a change here. Hence, in as much as we accept any of the different normative criteria mentioned above (maximization, additive equality, maximin, sufficiency concerning outcomes, as well as responsibility and equality of means or lack of oppression) we will have
    to give up the consumption nonhuman animals. In fact, the reason why this practice harms so many animals is simply that each of us as individuals contributes to it. And, as it has been argued above, the gains we obtain out of that practice do not compensate the harm nonhumans suffer. There is a huge asymmetry between the enjoyment humans get from being able to experience some tastes and the harm that nonhuman animals suffer due to it at an individual
    level. This can be assessed in a very simple way. Consider the life of a trout in some fish factory. Suppose someone eats that trout in one meal. Two things must be weighted against each other here: (a) The cost of the difference between the enjoyment that the one who eats this trout gets from that meal and the enjoyment he could get from eating a meal without animal products. (b) The suffering and the deprivation of enjoyment which death implies that has been inflicted on that fish. Suppose, for instance, that the meal lasts twenty minutes (that
    is, 1200 seconds) and that the animal has spent close to twenty months in the fish-farm (let us say 600 days). Suppose, also, that this trout which could have lived for some six or seven years. According to an intrinsic potential account, this means that this animal suffers a deprivation of five years of life. This means that the difference between a minute of the eater’s enjoyment of that meal and a minute of his possible enjoyment had he chosen a nonanimal meal is equal to almost one month of suffering for the fish, plus a deprivation of three
    months of life (assuming the intrinsic potential account). Or, that such a difference during a couple of seconds of tasting is equivalent to a day of suffering plus the deprivation of more than three days of life for the fish. Of course, if we assume an account of the harm of death in relation to the maximum level of happiness the results are still more asymmetric. Similar equations can be considered for other animals and other meals. But there is an even more significant consequence that is suggested by what we have seen thus far, which may affect us not just as potential consumers of nonhuman animals but also as agents with the ability to transform our surrounding reality. We may think that we not only have negative duties not to engage in unjust practices. We may also accept that we
    should do something to stop them. If so, we should note that the conclusions presented above entail that spreading an animal-free lifestyle is a far more efficient way of improving the world than working to improve the situation in which humans are. This conclusion seems at first paradoxical. But it is far from being some odd consequence which we can infer from some peculiar theory. Quite the opposite, it follows from a wide range of positions that are commonly held. In fact, it seems to follow quite naturally once we set aside our speciesist assumptions. This also suggests that challenging speciesism might be the most useful task we
    can assume if we want to make the world a better place.“

    Und es gibt auch keinen Gegensatz zwischen „struktur-“ und „akteursorientiert“. Alle ethischen Fragen, die sich überhaupt stellen, stellen sich individuellen Akteuren – denn nichts sonst in der Welt kann handeln. Die Frage, ob und wie man strukturorientiert aktiv werden soll, ist auch eine Frage, die sich jeweils einem *individuellen Akteur* stellt. Dieser muss sich über seine ethisch-normativen Ziele klar werden – und danach ist es eine *empirische* Frage, ob und, wenn ja, welche strukturelle Aktionsform am wahrscheinlichsten zielführend ist. Natürlich müssen wir letztlich strukturelle, rechtliche Hebel betätigen, wenn wir die Tierausbeutung wirklich abschaffen und Tierrechte etablieren wollen. Das wird aber erst dann realistisch, wenn tierrechtliches/veganes/antispeziesistisches Gedankengut *viel* breiter anerkannt ist, als die gegenwärtig der Fall ist. Empirisch ist die Vegi-Mensa aktuell schlicht eines der effektivsten Mittel, die Gesellschaft zu erreichen (vgl. https://docs.google.com/document/pub?id=1oauUkfLgdEq7uSgCOlG6BgwT_ONT-3vr1cwiDeXruoU – 100 Medienartikel bisher, und viele weitere werden folgen).

  14. Florian, ich schulde dir noch eine Antwort zur Tierversuchsfrage. Interessant in diesem Zusammenhang: „The New EU Directive on the Use of Animals for Research and the Value of Moral Consistency“, by Jan Deckers.
    http://link.springer.com/article/10.1007/s11673-012-9400-0/fulltext.html
    „Directive 2010/63/EU is a remarkable legal document, particularly because of recitals 10 and 12. Recital 10 states that “this Directive represents an important step towards achieving the final goal of full replacement of procedures on live animals” (European Parliament and the Council of the European Union 2010). Recital 12 posits that “the use of animals for scientific or educational purposes should … only be considered where a non-animal alternative is unavailable”. The reason why these recitals are so interesting is that they would have drastic implications for the use of animals for food, if people were prepared to be consistent. This is clear if we replace a few key words in recital 12: “the use of animals for” food “should … only be considered where a non-animal alternative is unavailable.” Indeed, the “final goal of full replacement” that recital 10 talks about seems to be within the reach of most people who live in the European Union today: Most people have sufficient non-animal alternatives available to feed themselves.“

    In der Tat erfordert das Tierschutz- bzw. Anti-Tierquälereiprinzip der Unterlassung *unnötiger Schädigung* nicht den Anti-Speziesismus, sondern ist durch den aktuellen moralischen „Common Sense“ und durch gewisse Rechtsnormen bereits gedeckt. Wenden wir es *ernsthaft* auf den Ernährungsbereich an, scheint der Veganismus unmittelbar zu folgen.

    Noch alternativlose Tierversuche zu *medizinischen* Zwecken stellen den einzigen Tierausbeutungsbereich dar, für den man das Notwendigkeitsargument allenfalls noch plausibel machen könnte. Der allgemeine – im Idealfall antispeziesistische – ethische Status der nicht-menschlichen Tiere entscheidet diese Frage noch nicht (http://www.tier-im-fokus.ch/nutztierhaltung/kommentar_ferrari/). Normativ hängt sie davon ab, ob es gerechtfertigt (und geboten) ist, weniger Leid aktiv zu verursachen, um mehr Leid verhindern zu können, oder ob dies unzulässig und die Nicht-Schädigung daher wichtiger ist als die Hilfe. (Diese Annahme scheint mir unbegründet, aber sie ist leider sehr populär.) Empirisch ist entscheidend, welchen medizinischen Nutzen die Versuche im Vergleich zu den massiven Schäden, die sie verursachen, denn tatsächlich haben. So oder so sollten in der forschungspolitischen Praxis die In-vitro- und In-Silico-Alternativen aber viel stärker gefördert werden.

    Zur Wildtierfrage. Einführend gut: http://www.gmu.edu/centers/publicchoice/faculty%20pages/Tyler/police.pdf Tyler Cowen on „Policing Nature“. Die Frage stellt sich nur, wenn wir zusätzlich zur Nicht-Schadenspflicht auch noch Hilfspflichten annehmen. Die können wir als Antispeziesisten aber nur negieren, wenn wir allgemein „rechtslibertär“ drauf sind, was wir zum Glück nicht sind. Wenn Menschen aufgrund natürlicher Ursachen verhungern, verdursten oder an qualvollen Krankheiten sterben, akzeptieren wir eine Hilfspflicht. Daher sollten wir auch den „Wildtieren“ helfen (die davon billionenfach betroffen sind), *sofern* es empirisch realistische Wege gibt, dies zu tun. Hier wäre die Forschung gefragt. Skizze eines „Welfare State for Elephants“, der wohl schon umsetzbar wäre: http://www.abolitionist.com/reprogramming/elephantcare.html

    Was ist mit den Raubtieren? Nun, wir würden nicht zögern, einen Löwen davon abzuhalten, Menschen(tier)kinder aufzufressen. Können wir dann als Antispeziesisten zögern, wenn er Zebrakinder auffrisst? Ethisch glaube ich: nein. Denn welche Gründe könnte man dafür anführen? Z.B. dass der Vorgang „natürlich“ sei – aber die Natur hat keine ethische Qualität, sie trägt normativ an sich nichts aus, kann (abhängig von ihren Folgen für empfindungsfähige Wesen) sowohl gut als auch schlecht sein. Oder dass der Löwe kein moralischer Akteur, nicht „zurechnungsfähig“ sei – aber wir halten auch unzurechnungsfähige Menschen davon ab, andere zu schädigen. Oder dass diese Schädigung für den Löwen lebensnotwendig sei – aber darf ich dann andere in grosser Zahl töten, wenn ich z.B. nur überleben kann, indem ich gewaltsam an ihre Organe gelange? Die Gegenargumente überzeugen nicht (http://www.tier-im-fokus.ch/nutztierhaltung/kommentar_mannino/). Ich weiss nicht, ob Cord Schmelzle diese Konklusion hier (http://www.theorieblog.de/index.php/2010/09/and-the-wolf-will-dwell-with-the-lamb-jeff-mcmahan-zur-tierethik-und-ich-zur-berufsethik/) als „Spinnerei“ abtut – argumentativ wurde dies jedenfalls nicht fundiert. *Empirisch* kann man freilich gegen eine Intervention argumentieren, wenn wir nicht über hinreichende Gewissheit verfügen, dass unsere Intervention tatsächlich mehr Schäden verhindern wird, als sie verursacht. Auch hier gilt: Die Forschung wäre gefragt (bzw. die „Wildtierpflicht“ scheint heute v.a. darin zu bestehen, die Forschung mit Hochdruck zu fördern).

    Noch ein Wort zu Schmelzles „berufsethischer“ Kritik an McMahan und Singer: Wenn McMahan argumentativ richtig liegt (was m.E. der Fall ist), dann *müssen* diese Überlegungen irgendwann raus – beim Wildtierleid könnte es sich angesichts der unvorstellbaren quantitativen Dimensionen auch um die langfristige Top-Priorität auf diesem Planeten handeln. (Es scheint auch nicht abwegig zu sein, anzunehmen, dass der wissenschaftlich-technische Fortschritt in einigen Dekaden oder spätestens Jahrhunderten empirische Lösungsansätze vorlegen können wird.) Ich vermute, dass McMahan mit der Publikation des Artikels unter dem Strich gut agiert hat. Wenn auch nur einige Menschen in der Folge begonnen haben/beginnen werden, die Wildtierfrage ethisch ernst zu nehmen, dürfte der langfristige Nutzen überwiegen. Ähnliches lässt sich zu Singers Verteidigung anführen: Ich glaube, er liegt richtig, wenn er sagt, seine „Provokationen“ seien empirisch gut gewesen – sie haben ihm Aufmerksamkeit gebracht und den ethischen Impact seines äusserst wichtigen Werkes wohl verzigfacht.

    Nicht zuletzt: http://www.theorieblog.de/index.php/2012/08/das-tier-als-mitbuerger-kymlickas-zoopolis/ Will Kymlicka konzeptualisiert die Wildtierpopulationen ja als „sovereign communities“. Ich habe unlängst mit ihm gesprochen und bemerkt, dass es in seinem politphilosophischen Begriffsinventar ja auch so etwas gebe wie einen „failed state“ oder wie die Pflicht zur „humanitarian intervention“. Er hat darauf hingewiesen, dass er in einer Zoopolis-Fussnote durchaus erwähne, dass die meisten Tierarten (aus evolutionären Gründen) äusserst „verschwenderische“ Reproduktionsstrategien verfolgen: Es ist der tragische Regelfall, dass 9 von 10 Individuen bereits kurz nach der Geburt einen äusserst qualvollen Tod sterben. (Einfache Überlegung: Wenn die Population stabil bleibt, kann pro Elterntier höchstens ein Jungtier überleben – die grosse Mehrheit stirbt.) – Ich meinte: If anything is a tragically „failed state“ and calls for „humanitarian intervention“, this does. Kymlicka hat darauf empirisch-technische Bedenken angeführt, aber dem ethisch-normativen Grundsatz zugestimmt, dass seine Theorie eine Interventionspflicht zulässt und unter Umständen setzt.

  15. Hallo alle, nur kurz einen Nachtrag, da ich natürlich davon ausgehen konnte, dass mein Beitrag – wohlweislich plakativ, Susanne -, den Finger in die Wunde legen würde. Dass ich damit eine Zuspitzung formuliere, sollte bitte immer mit verstanden werden, ansonsten kann man mir natürlich vorwerfen, krude zu argumentieren.

    In der Tat gibt es aber zwei Punkte, die ich nicht in der Debatte wiederfinde: das Eine beschreibe ich mal so: Konstruktion des Gegenstand als Wahrnehmung einer Teilrealität. Es ist nun einmal so, dass selbst jeder Studierende bei jeder Aufrichtigkeit und vllt sogar einem „Ethos des Studiums“ (gibt’s sowas?) immer nur Teilbereiche wahrnehmen kann; und diese Teilbereiche sind dann noch durch die eigene Lebenssituation vermittelt. Anders herum: es ist ein fortdauernder Lernprozess, wechselseitige Vorurteile abzubauen und warum sollten gerade Studierende oder auch Wissenschaftler, die lernen sollen/wollen/müssen, mit Konkurrenz umzugehen, nicht ebenfalls Vorurteile ausbilden und statusabhängige Lageeinschätzungen abgeben? Ich stelle dann in der Folge auf das Habitus-Konzept ab („Habitus-Performance“) und habe es schon an anderer Stelle mal angerissen, dass es natürlich eine Frage ist, ob ich den Fleischverzicht moralisch, gesundheitlich oder eben nur performativ begründe (tut das jemand? klar, behaupte ich, so wie man ja auch „Sneaker sportet“ und die Studenten auslacht, die mit den Öffis kommen, wohingegen andere mit Papas Auto vorfahren usw.; da kann man dann mit den Augen rollen, aber das gibt es).

    Und der zweite Punkt war – und hier möchte dann noch mal kurz auf Eva’s Beitrag zurückkommen: natürlich ist es kein „Luxusproblem“, es sollte aber in einer Gesellschaft einen Konsens darüber geben, welche ernsthaften Probleme (ernsthaft = Leid oder Tod von anderen Menschen billigend in Kauf nehmend und das tun wir alle per Zwang mit unserem hier kulturalisierten Lebensstil) . Dieses Konsens sehe ich nicht und verweise einfach mal auf eine Re-Lektüre von „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (Habermas). Eine solche Öffentlichkeit sollte natürlich die Studierendenschaft (mit) herstellen, das ist aber ein ganz langwieriger Prozess, der auf unterschiedlichen Faktoren beruht – auch wenn ich behaupte, dass es dafür Prädiktoren gibt.

    Kurzfristig gehen jedoch andere Dinge und da will ich David mal vollends beipflichten, wenn es um Tafeln, VoKüs oder selbst nur die Frage geht, warum sich manche Studierende in der Mensa den Bauch voll hauen müssen, weil sie vllt den Rest des Tages nichts Brauchbares mehr zwischen die Zähne kriegen aufgrund von Geldmangel? Oder anders formuliert: Ich würde es nicht ex post in die Differenz von Akteur oder Struktur legen, denn natürlich sind die Handlungs- und Wissensebenen miteinander verknüpft; in der politischen Praxis stellen wir aber oft genug fest, dass es den Akteuren an einem Wissen um die grundlegenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse mangelt (oder diese geleugnet oder zumindest als für die eigenen Lebensweise nicht relevant erachtet werden, was wissenschaftlich unzulässig ist, im Privatleben allerdings als „Beliebigkeit“ durchgeht). Im Grunde würde ich behaupten, dass die autonom postulierten Ebenen von Akteur und Struktur nie miteinander vermittelt werden könnten, weil sie die Welt unterschiedlich konstruieren. Natürlich braucht eine Reform der Lebensweise (als Gesellschaftstransformation) handelnde Akteure und nicht nur unter Marxisten kursiert der Witz über Karl Korsch (einem heterodoxen Marxisten), dass jener wieder mal nur auf seinem Zimmer sitze und recht habe. — Manchmal aber braucht es genau das: weniger Aktionismus, mehr Theorie.

    Ich kürze hier mal ab, weil es sonst in Vortragsthemen ausartet und halte es mit Tocotronic: http://youtu.be/LEcgFCYdadg

  16. Noch ein kurzer Nachtrag: Unterernährung oder auch Welthunger ist ja ziemlich konstant ein Problem in gering entwickelten Volkswirtschaften, die auch aufgrund diverser Faktoren keine Möglichkeit haben, nachhaltig auf die Beine zu kommen. Man nennt sie daher ja auch periphere Regionen, weil sie ihren Billigbeitrag zum Reichtum des Nordens leisten (wenn auch diese Einteilung heute überholt ist und man auch zwischen West und Ost differenzieren muss). Dass sich Bauern und Indigene nicht mit genügend Lebensmitteln versorgen können, existierte schon in den 1950er Jahren. Seitdem hat sich die Produktivität der Land- und Fischereiwirtschaft extrem erhöht – ohne Frage gibt es im Bereich der Triade auch einen – man verzeihe mir das Bild -, schweinischen Konsum. Doch ist hierzulande nicht der Konsument einer Currywurst zu kritisieren, wo er zunächst nur als Subalterner in bereits bestehende Organisations- und Herrschaftsverhältnisse geworfen wird. Sowohl in hoch entwickelten wie auch in gering entwickelten Volkswirtschaften handelt es sich um eine Frage der Eigentumsverhältnisse: im bestehenden System des Welthandels sondern die entwickelten Industrien ihre Argrarwirtschaft gegen Beiträge aus dem Süden mit absurden Zöllen ab und werfen viele – tierische wie nicht tierische – Lebensmittel weg. Dies doch aber nicht, weil einzelne Konsumenten sich nicht ihren Fleischkonsum abgewöhnen wollen, sondern weil Lebensmittel in erster Linie billig sein müssen. Es ist ja nicht so, dass sich die Mehrheit der Menschen mit Genuss und Galanteriewaren versorgt, sondern doch zuvörderst ihren Grundumsatz befriedigen muss. Wie sich dieser zusammensetzt und ob dieser so hoch sein muss, sind andere Fragen, teils empirischer Natur, teils ideologischer Natur. Insoweit hat Tom schon recht, wenn er sagt, dass ja im Grunde hier gar kein Interessenkonflikt bestünde (vielleicht?), weil man sowohl vegetarisch als auch antikapitalistisch agitieren könne. Das leitet dann aber zu den Fragen über, inwieweit der Geschmack sozialisiert oder sozialisierbar ist und inwieweit über das Postulat des Vegetarismus nicht (auch) ein spezifischer Habitus ausagiert werden soll, der – ob bewusst oder unbewusst – Dritte wiederum symbolisch ausgrenzt.

    Ach und, bei meiner Schelte der akademischen Philosophie wollte nicht auf den Seminarplan in Basel abstellen, der ist mir, gelinge gesagt, an dieser Stelle egal – ebenso wie die Hausarbeitsthemen, denn es geht mir um einen übergreifenden Blick. Dass der natürlich auch bei der kleinsten Einheit anfangen muss, der konkreten Uni, leuchtet mir ein – wäre aber an dieser Stelle gar kein Sacheinwand gegen meine Standardkritik, sondern Empirisches.

  17. Die Ausführungen von Alexander sprechen meines Erachtens zentrale Punkte an, die die „Verfechter des Vegetarismus als Hochschulpolitikum“ bedenken sollten. Ich möchte betonen, dass es hier nicht darum geht, den Vegetarismus per se zu disqualifizieren, sondern nur auf seine Grenzen und Schwächen hinzuweisen. In diesem Sinne möchte ich Alexanders Argumenten nur zwei Punkte hinzufügen:

    Erstens irritiert mich an der Position der „Vegetaristen“, dass mit (sehr) großer Bestimmtheit eine „single-issue“ Politik betrieben wird, die augenscheinlich davon ausgeht, die Frage des Vegetarismus / Veganismus sei DER Lösungsschlüssel zu einer Reihe von anderen Problemlagen (Stichtworte: Welthunger, Speziezismus, etc.). Ich bin da anderer Meinung – und das berührt die Frage nach der Unterscheidung zwischen kleinen und großen Problemen. Auch wenn der Fleischkonsum natürlich seinen Anteil am Welthunger hat, ist er nicht seine Letzterklärung, sondern berührt, darauf verwies Alexander, Probleme, die möglicherweise anderenorts zu suchen sind: etwa einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung oder eines westlichen (und mittlerweile global werdenden), konsum- und produktionsorientierten Lebensstils. Gegen die „single-issue“ Politik der Vegetarier / Veganisten möchte ich deshalb für einen größeren politischen Horizont plädieren, in der nicht nur EIN Problem aufgeworfen wird, sondern Problemzusammenhänge problematisiert werden. Konkret hieße dies: eine vegetarische Mensa an der Uni fordern und ZUGLEICH die Frage nach verarmten Studenten, schlechtem und ungenügendem Essen in Tafeln, Wohnheimen, etc. aufzuwerfen. Und vielleicht auch manchmal undogmatisch genug sein, um zu erkennen, dass die eigene, auf die Frage des Vegetarismus zugespitzte Deutung vielleicht angesichts mancher Fragen eben NICHT Priorität besitzt.

    Zweitens, und mit dem ersten Punkt zusammenhängend, fällt mir bei den Verfechtern des Vegetarismus auf, wie schnell hier Disqualifizierungen getroffen werden, die einen a priori von der Diskussion ausschließen. Eine kritische Stellungnahme zu Vegetarismus sei entweder „speziezistisch“ (Adriano) oder gleich „nicht nur populistisch, sondern auch falsch“ (Susanne). Die Vegetaristen scheinen hierbei davon auszugehen, dass ihre Position die richtige, rationale und aufgelärte ist, die ALLEIN Legitimität für sich zu beanspruchen mag. Welche Kritikmöglichkeiten bleiben, wenn jede Kritik am Vegetarismus als speziezistisch abgetan wird??? Mich beängistigt die rasch sehr rationalistisch-autoritär werdende Weltanschauung, die sich hinter solchen Aussagen verbirgt. Es mag sein, dass es den Vegetaristen, mit Gramsci gesagt, im ideologischen Deutungskampf ihre partikulare Weltsicht den Schleier einer universellen und unanfechtbaren Position zu verleihen. Doch diese Bewegung (partikulare Position –> universal-hegemoniale Position) begründet sich nur über politische Zielsetzungen – und nicht über übergeordnete, rationale Standpunkte.

    Aus meiner Sicht wird die Debatte zwischen Verteidigern und Kritikern des Vegatarismus ärmer, wenn letztere gar nicht erst als legitime Diskussionspartner zugelassen werden. Mich erinnert diese Haltung mehr an die Diskurspolizei Foucaults denn an eine demokratische und selbstkritische Denkgemeinschaft. In diesem Sinne plädiere ich für etwas mehr geistige Flexibilität und mehr Selbstkritik auf Seiten der Vegaristen. Ich schließe mit Ernesto Laclau:

    „A democratic society is not one in which the ‚best‘ dominates unchallenged but, rather, one in which nothing is definitely acquired and there is always the possibility of challenge“

    PS: Zum Populismusvorwurf möchte ich nur – als Metaüberlegung – zu bedenken geben, dass ein ‚populistisches‘ und radikal vereinfachendes Argument nicht schlicht a priori falsch oder unaufgeklärt sein muss. Vielmehr geht es einer populistischen Position darum, einen Diskurs radikal zu vereinfachen und ihn symbolisch in zwei zu teilen: in Befürworter und Gegner einer Position. Auch gegenüber populistischen Argumenten – die den Befürworten des Vegatirismus sicher nicht nur in diesem blog begegnen sollten – würde also etwas mehr Offenheit nicht schaden.

  18. Hier gehen sehr viele Argumente durcheinander, und es sind offenbar auch sehr viele Missverständnisse entstanden. Erstens haben die Vegetarismus-Verfechter m.E. hier (und anderswo) nie eine single-issue-Politik betrieben, noch behauptet, Vegetarismus sei DER Lösungsschlüssel zu einer Reihe von anderen Problemlage. Es wäre absurd, das zu behaupten. Zweitens bezog sich „falsch“ auf empirisch falsch. Kritiker und kritische Diskussion sind sehr erwünscht, aber die Argumente müssen schon auf empirisch richtigen Fakten beruhen. Drittens schliesse ich mich Eva an, dass es hier nicht um ein Entweder / Oder geht, sondern darum, was man ethisch „Gutes“ und Sinnvolles tun kann; dazu zählen viele verschiedene Handlungen, nicht nur eine vegetarische oder vegane Lebensweise. Gerne stellen wir hier im Theorieblog auch mal andere, studentische Initiativen vor, etwa welche explizit etwas zum Thema Welthunger unternehmen. (Und ich bin sicher, es gibt viele Vegetarier, die sich auch hier engagieren, denn das ist es ja gerade: sie sind in der Regel nicht nur single-issue-orientiert). Also, Alexander, David, wenn Ihr da Beispiele habt, her damit, dann mache ich auch da gerne ein Interview. Zum Schluss noch einmal: Es geht hier nicht darum, eine ethische Verhaltensweise gegen eine andere auszuspielen, sondern Möglichkeiten des Engagements aufzuzeigen, das beispielhaft ist.

  19. Wobei aus meiner Sicht – und sei es der Tendenz nach – die Gefahr einer single-issue Politik und einer Priorisierung des Vegetarismus vor anderen Problemen bestehen bleibt. Ich verstehe nicht ganz, warum es „absurd“ wäre, dies zu behaupten: zumal nach der Lektüre des geführten Interviews.

    Außerdem wollte ich, das versuchte ich eben hervorzuheben, ein theoretisches Problem mit „ethisch guten Verhaltensweisen“. Solche ethisch guten Verhaltensweisen gibt es aus einer poststrukturalistischen Perspektive nicht. Aus dieser Perspektive gibt es vielmehr einen permanenten Deutungskampf um das, was als „ethisch gut“ zu gelten hat – oder eben nicht. Aus diesem Kampf um die hegemoniale Durchsetzung bestimmter partikular Weltanschauungen gibt es aus solch einer Perspektive KEIN Entrinnen. Deshalb auch die Irritation angesichts des Speziezismusvorwurfes, der a priori Kritik stillegt. Ich würde mir in diesem Sinne mehr Sinn für die Dynamik politischer Kämpfe (d.h. für „the rough ground of politics“) und weniger Beharren auf „ethisch guten“ Positionen.

  20. Ich würde mich hier David anschließen und von einem Rekurs auf einen irgendwie gearteten Ethos absehen; stattdessen auch das konfligierende Element der Politik mehr in den Fokus rücken. Das heißt, den Schleier von der Oberfläche abziehen und darauf abstellen, dass es nicht allein unterschiedliche Interessenlagen, sondern auch Formen symbolischer Gewalt (Bourdieu) gibt, die Anteil daran haben, bereits den Diskursraum zu verknappen. Mit einem Deut auf konkrete Projekte im Stile eines säkularisierten „hic rhodus, hic salta“ lässt sich dies wohl nicht theoretisch überwinden. Zumal es keine „empirisch richtigen Fakten“ geben kann, allein performativ erzeugte Binnenwahrheiten, deren Vermittlung nur eine konsensuale Ermittlung von gesellschaftlichen Gesamtinteressen beibringen kann. Vielleicht liegt hierin ja auch der Knackpunkt hinsichtlich der Frage, was die Philosophie zur Frage beisteuern kann, was über eine bloße Ontologie des vermeintlich guten Lebens hinausgeht. Das ist m.E. unhintergehbare Ausgangslage und kann nicht durch die Benennung einzelner, verstreuter Initiativen getilgt werden. Insoweit diskutieren wir hier auf unterschiedlichen Ebenen und ich füge noch an, dass der Diskurs um den Vegetarismus Gefahr laufen kann, für neoliberale Identitätskonstruktionen ausgebeutet zu werden und bereits heute dafür ausgebeutet wird.

  21. Wenn eine Partei gegründet würde, deren Programm ausschließlich in der Förderung des Veganismus bestünde, wären Warnungen vor einer single-issue-Politik möglicherweise angebracht. Wenn diese Befürchtung aber als Reaktion darauf, dass in einer bestimmten Situation bestimmte Forderungen erhoben wurden, geäußert wird, wirkt dies ziemlich fragwürdig. Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Personen, die für Veganismus oder eine vegetarische Mensa eintreten, nicht auch in anderen Kontexten aktiv sind und dass gerade hier diese Gefahr besonders groß ist. Die Befürchtung der single-issue-Politik sieht, wenn es nicht um ein Programm einer Organisation, sondern um eine einzelne politische Auseinandersetzung geht, nach einer Ausflucht aus (im Sinne von „Wir haben zwar keine Argumente gegen die Forderung, aber wir sagen einmal, dass man eigentlich X, Y und Z noch vorher hätte fordern müssen und deshalb am besten gar nichts getan hätte.“).

    Die Aussagen von David und Alexander zur Ethik zeigen meines Erachtens vor allem die Schwäche einer bestimmten Art der poststrukturalistischen Perspektive. Der Aussage „Aus dieser Perspektive gibt es vielmehr einen permanenten Deutungskampf um das, was als ‚ethisch gut‘ zu gelten hat – oder eben nicht.“ würde ich an sich zustimmen. Wer sich aufgrund tierethischer oder ökologischer Gründe für Veganismus oder z.B. eine vegetarische Mensa einsetzt nimmt an diesem Deutungskampf teil – natürlich könnte jemand anderer auch an diesem Kampf teilnehmen und nach Gründen suchen, weshalb Fleischkonsum ethisch gut ist oder weshalb diese Frage irrelevant sei.

    Wer aufgrund einer „poststrukturalistischen Perspektive“ Rekurs auf Ethos und Positionsbezüge zu Weltanschauungen ablehnt, kann das natürlich tun – das bedeutet dann eine Nicht-Teilnehme an solchen Deutungskämpfen. Solange das nicht mit einem Überlegenheitsanspruch verbunden ist, kann eine solche passive, eskapistische Haltung auch vertretbar sein, aber mir erscheint sie als Rechtfertigung dafür, keine Stellung zu ethischen Fragen nehmen zu wollen, ziemlich schwach.

    Ein weiteres Problem bestimmter Arten von Poststrukturalismus wird mit der plakativen Ablehnung empirischer Fakten deutlich. Sicher existieren Fakten nie unabhängig von ihrer Konzeptualisierung in bestimmten Systemen, aber in Diskussionsbeträgen auf dieser Seite wird deutlich, dass der Poststrukturalismus als Vorwand genutzt werden kann, um inhaltlichen Diskussionen aus dem Weg zu gehen.

    Das Ausspielen des Leidens von Millionen von Nutztieren gegenüber dem Leiden von Studierenden, die aus Geldmangel wenig essen können (von diesen dürfte es übrigens in der Basler Mensa wenn überhaupt sehr wenige geben) oder Menschen in Gassenküchen ist ein anderes Thema. Die Argumentation geht einfach nicht auf. Selbst wenn man nicht konsequent anti-speziesistisch eingestellt ist, ist das Leiden von Menschen sicher kein Argument dagegen, sich gegen das Leiden von Tieren anderer Spezies (und andere Folgen des Konsums von Tierprodukten wie Klimawandel und Verschärfung der Hungerproblematik auch unter Menschen) einzusetzen.

    Was in den Kommentaren von David und Alexander schließlich auch noch ein wenig anklingt, ist die Kritik an der Konkretheit der Forderungen. Ich kenne das ja auch aus radikalen Grüppchen, in denen ich als Jugendlicher war – einer der schlimmsten Vorwürfe war der Reformismus, man durfte nur die Revolution planen und theoretisch begründen, aber sich ja mit nichts beschäftigen, was bereits innerhalb des Kapitalismus getan werden konnte. Auch diese Argumentation geht überhaupt nicht auf – wenn man für Veganismus und für konkrete Änderungen bei Mensa-Menüs eintritt, verhindert das ja überhaupt nicht und steht überhaupt nicht im Widerspruch dazu, dass man sich allgemein gegen die Ausbeutung von Tieren durch Menschen und von Menschen durch andere Menschen einsetzt und die Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse auch theoretisch analysiert.

  22. Adriano, du wiederholst in deinem Beitrag im Grunde die vorgenannten gegensätzlichen Positionen, nur um dann die „Legitimität“ deines Anliegens noch einmal zu bekräftigten. Das ist ja auch vollkommen in Ordnung bzw. toleriere ich das. Es ist aus der Sicht einer theoretischen Debatte dennoch unhaltbar und darauf kommt es mir hier – im Theorieblog – dann doch an, denn die Diskussion von organisatorischen und praktischen Fragen würde ich woanders durchführen. Es ist eine Wiederholung der Dichotomie von Theorie und Praxis, den es ohnehin – zumindest in der marxistischen Theorie – so gar nicht gibt. Auch beziehe ich mich nicht expressis verbis auf poststrukturalistische Ansätze, von denen Bourdieu und Foucault ja auch auszunehmen wären, Gramsci, der hier im Kontext von Hegemonie und Gegenhegemonie gefallen ist, war Kommunist und Marxist. Ganz abgesehen davon, dass diese Etiketten teilweise inhaltsleer sind, dienen sie ja aber doch der Komplexitätsreduktion in theoretischen Ausführungen, von daher seien sie an dieser Stelle goutiert.

    Ein Weiteres: die Richtigkeit der vorgetragenen Argumente bezüglich des Tierschutzes würde ich nicht einmal in Abrede stellen. Aber natürlich muss das begründbar bleiben und sich der Frage stellen, inwieweit dieses Problem anders oder eher gehandhabt werden soll als bspw. die Ausbeutung von anderen Menschen. Dass dies keinen Unterschied machen würde, bezweifle ich, denn für Tierschutz und Vegetarismus findest man in hiesiger Gesellschaft sofort unzählige Unterstützer und selbst Konzerne haben das längst als einträgliches Geschäftsfeld entdeckt, weil es sich eben in die Wertrechnung umsetzen lässt, also gar nicht im Widerspruch zu kapitalistischer Ausbeutung und Lohnarbeit stehen muss (Naturvernutzung lasse ich mal außen vor, denn selbst hier ist der Kapitalismus erfinderisch). Ich bleibe aber bei meiner Aussage, dass der Diskurs des Vegetarismus als Trittbrett für Leute dient, die A sagen und B meinen, wobei B dann wieder als Diskriminierung von Mitmenschen hinten rein kommt und dessen sind sich viele Leute nicht bewusst, teils auch aus uneingestandener Verachtung oder materieller Besserstellung.

    Die Revolution zu planen wäre ja schonmal kein schlechtes Vorgehen, allerdings passt das nicht so ganz in eine wissenschaftliche Karriere und verspricht kaum den symbolischen Mehrwert wie ein ansonsten von weiten Teilen der Mehrheitler geteilten Ansichten; und dass das an der Mensa in Basel nicht Diskussionsthema sein wird, kann ich mir gut vorstellen. Dennoch verwundert mich das, zumal der GINI-Koeffizient in der Schweiz etwa identisch ist mit dem deutschen und gundlegende Fragen an das Wirtschaftssystem angeraten wären.

    Um es zusammenzufassen: Wenn man diesen Diskurs als Bestandteil einer reflektierten Lebensweise betrachtet, wie du es zu tun angibst, dann spricht das für Lernfähigkeit und die Bereitschaft, sich über gewohnte Routinen (z.B. des Konsums) zu erheben. Das ist zu begrüßen immer dann, wenn als nächster Schritt tatsächlich die grundlegende politische Veränderung angestrebt wird. Das scheint bei dir aber abgeschlossene Sache zu sein, da du die „radikalen Grüppchen“ offenbar nur im Jugendalter aufgesucht hast und inzwischen bei den Arrivierten gelandet zu sein scheinst. Das ist Schade, aber eine bekannte Kompromissformel. Insoweit besteht hier dann der Interessenkonflikt.

  23. Noch ein Drittes, weil es mich wirklich ärgert: Die Behauptung, der Rekurs auf eine grundlegende Kapitalismuskritik, könne als Eskapismus (gemeint ist hier wohl die Weltflucht) bewertet und die Vernachlässigung einzelner empirischer Fakten als kontrafaktische Weltdeutung mit theoretischem Anstrich verhandelt werden, bleibt, gelinde gesagt, eine böswillige Unterstellung. Sie schert sich auch nicht um die oben mehrfach vorgetragene Aussage, dass hier zwei Debattenteilnehmer davon ausgegangen sind, dass auf unterschiedlichen theoretischen Ebenen diskutiert werde und dort ggf. (die Möglichkeitsform sei konzediert) der Hemmschuh zur Durschlagung des gordischen Knoten liegen könne. Woher nimmst du die Leichtigkeit, eine gegenteilige politische Meinung als Weltflucht zu bezeichnen? Weiter oben habe ich allein auf eine mögliche Korrelation von Vegetarismus und einem spezifisch distinkten Habitus verwiesen; dass dies nicht auf alle Kritiker zutreffen muss, räume ich ein, doch ging es ja hier auch nicht um die personalisierende Kritik Einzelner, sondern das Ausloten von theoretischen, also im Kern verallgemeinerungswürdigen Aussagen. Aber das hat dann tatsächlich nichts mehr mit Ethik zu, sondern berührt Fragen der Wissenssoziologie. Insoweit möchte ich mit einem Beitrag Slavoj Zizeks schließen, der zur Frage des Zusammenhangs von radikaler Kritik und politischer Aktion aussagte:

    „Heute, wo jeder »an­ti­ka­pi­ta­lis­tisch« ist, bis hin zu Hol­ly­woods so­zi­al­kri­ti­schen Ver­schwö­rungs­fil­men (von The Enemy of the State bis The In­si­der), in denen der Feind die Groß­un­ter­neh­men mit ihrer rück­sichts­lo­sen Pro­fit­gier sind, hat der Si­gni­fi­kant »An­ti­ka­pi­ta­lis­mus« sei­nen sub­ver­si­ven Sta­chel ver­lo­ren. (…) Die Schlacht, die es auf­recht­zu­er­hal­ten gilt, ist also eine dop­pel­te: ers­tens, ja, An­ti­ka­pi­ta­lis­mus. Doch ein An­ti­ka­pi­ta­lis­mus ohne eine Pro­ble­ma­ti­sie­rung der po­li­ti­schen Form des Ka­pi­ta­lis­mus (der li­be­ra­len par­la­men­ta­ri­schen De­mo­kra­tie) reicht nicht aus, ganz egal, wie ra­di­kal sie ist. Viel­leicht ist die Ver­lockung heute der Glau­be, daß man den Ka­pi­ta­lis­mus un­ter­mi­nie­ren könne, ohne des­halb tat­säch­lich das li­be­ral-​de­mo­kra­ti­sche Erbe pro­ble­ma­ti­sie­ren zu müs­sen, das, wie ei­ni­ge links­ra­di­ka­le Po­li­ti­ker be­haup­ten, zwar den Ka­pi­ta­lis­mus her­vor­brach­te, dann aber Au­to­no­mie er­lang­te und daher dazu die­nen kann, den Ka­pi­ta­lis­mus zu kri­ti­sie­ren. (in: „Die Revolution steht bevor“, Ffm. 2002, S. 100f.)

  24. Vielen Dank, Adrian E. In der Tat: Der Poststrukturalismus verhindert systematisch das klare und rationale Denken. Aber mehr noch: Die kontinentale politische Philosophie insgesamt scheint dies in der Tendenz zu tun.

    „Ethisch gute Verhaltensweisen gibt es nicht“: Dann ist es auch nicht gut, sich z.B. anti-kapitalistisch und anti-neoliberal einzusetzen. Und es ist nicht gut bzw. besser, Menschentiere gegenüber nicht-menschlichen Tieren zu privilegieren, wie dies hier implizit und ohne jede Begründung getan wird.

    „Irritation angesichts des Speziesismusvorwurfs, der apriori Kritik stilllegt“: WTF. Wir argumentieren systematisch für Antispe – und Antworten kriegen wir *keine*. Nur ein Restatement eurer speziesistischen Positionen, die *ihr* apriori und dogmatisch setzt. Im Gegensatz dazu: http://www.tier-im-fokus.ch/mensch_und_tier/speziesismus/ Es ist pervers: Ihr nehmt faktisch andauernd ethische Positionen ein (z.B. zum ethischen Status der nicht-menschlichen Tiere oder zur Frage, was ein Problem zu einem Problem macht und wann ein Problem grösser ist als ein anderes); ihr seid nicht bereit, diese eure ethischen Positionsbezüge zu hinterfragen und argumentativ auch nur mit einem Wort zu verteidigen; und ihr habt gleichzeitig die Chuzpe, uns dafür zu kritisieren, dass wir ethische Positionen einnehmen, und uns vorzuwerfen, wir würden „apriori Kritik stilllegen“, obwohl wir uns – im Gegensatz zu euch – die Mühe machen, für unsere ethischen Positionsbezüge zu argumentieren, also den Antispeziesismus nicht einfach apriori setzen (wie ihr es umgekehrt tut), sondern alle Argumente für und wider den Speziesismus systematisch prüfen. (Resultat: Der Speziesismus fällt, s. z.B. den Link oben.)

    Wenn es „keine empirisch richtigen Fakten geben kann“, dann gibt es u.a. keine empirisch richtigen Fakten darüber, welche Wege zum Ziel z.B. des Antikapitalismus führen und welche in die gegenteilige Richtung. Resultat: praktische Paralyse, denn ohne empirisch objektiv korrekte Information darüber, wie die Welt funktioniert, kann man sie auch nicht verändern.

    Und was ist überhaupt das Ziel des Antikapitalismus, letztlich? Ethische Frage! Würde man sie stellen und beantworten, könnte man auch endlich die Frage klären, was etwas zu einem Problem macht und wann ein Problem wie gross ist. – Vorschlag: Insbesondere die Nichterfüllung von Bedürfnissen bzw. das entstehende Leid sind das Mass für die Grösse eines Problems. Marxisten sollten im Grundsatz zustimmen („jedem nach seinen Bedürfnissen!“). Nun ist es aber *empirisch-faktisch* so, dass nicht nur Menschentiere Bedürfnisse haben und Leid empfinden können, sondern auch nicht-menschliche Tiere. Wenn die Bedürfnis-Nichterfüllung und das Leid bestimmen, was und wie gross ein Problem ist, dann müssen nicht-menschliche Tiere also genauso zählen. Und weil es auf diesem Planeten viel mehr nicht-menschliche Tiere gibt, die stark zu leiden haben, ist es ein (reichlich triviales) empirisches Faktum, dass sich in diesem Bereich mit demselben aktivistischen Ressourcenaufwand am meisten Leid verhindern lässt. (An einem einzigen Fleischesser hängen z.B. weit über 1000 Tierleben. Daher ist der ethische Impact von effektivem Veg-Aktivismus riesig.)

    Ihr weigert euch schlicht (sehr wortreich und blasiert, also typisch kontinentalphilosophisch, das sei euch zugestanden!), auf diese Argumente einzugehen. Nach wie vor würde ich gerne wissen, mit welcher Begründung ihr Menschentiere qua Menschentiere gegenüber nicht-menschlichen Tieren privilegieren wollt. Die Gegenargumente geben wir systematisch, ein Pro-Argument ist nicht in Sicht. Angesichts dieser Konklusion ist, was heute mit den nicht-menschlichen Tieren *milliardenfach* geschieht, nicht weniger schlimm, als wenn es mit Menschen vergleichbaren Bewusstseinsgrades geschähe. In diesem Fall würde *niemand* zögern, dieses unvorstellbare Verbrechen zur unbestrittenen ethisch-politischen Top-Priorität auf diesem Planeten zu erklären.

    Und weil Zizek zitiert wurde: Hier http://www.ubishops.ca/baudrillardstudies/vol-6_1/v6-1-Singer-cavalieri.html versuchen ihm Singer/Cavalieri das klare Denken beizubringen.

  25. Ich enthalte mich mal weiterer Kommentare, da sie schon von Adrian E. und Adriano hinreichend gemacht wurden, denen ich mich weitestgehend anschließe. Ich möchte daher an dieser Stelle dafür plädieren, wie zuvor schon Adrian, von der Metaebene der Debatte herunterzukommen und würde gerne von Alexander und David philosophische Argumente gegen eine fleischfreie Mensa bzw. gegen den Vegetarismus hören, die jenseits dem Argument „es gibt erst anderes / wichtigeres zu tun“ liegen.

    Gerne würde ich auch von Alexander ein Beispiel dafür haben, wann jemand A sagt, aber B meint und dann „B wieder als Diskriminierung von Mitmenschen hinten rein kommt und dessen sind sich viele Leute nicht bewusst, teils auch aus uneingestandener Verachtung oder materieller Besserstellung.“ Ist das im Zusammenhang der Vegi-Mensa zu sehen und wenn ja, wie? Oder welche Fälle hast du da im Blick?

  26. Vielen Dank, Susanne. Wenn ich trotzdem noch kurz darf: Ich glaube eben, die Frage, ob es Wichtigeres zu tun gibt (bzw. was ein Problem zu einem wichtig(er)en macht), ist nicht „meta“. Man kann z.B. schon der Meinung sein, der Veganismus sei an sich eine gute Sache, für den philosophisch alles spricht. Aber wenn man gleichzeitig auch der Meinung ist, dass es andere Probleme gibt, die um Grössenordnungen wichtiger sind, wird der Veganismus in der persönlichen und – punkto Welt-Impact sehr viel wichtiger! – in der aktivistischen Praxis u.U. kaum eine Rolle spielen. Man wird sich vielleicht sogar vom Veganismus distanzieren und ihn schlechtreden, weil man ihn als gefährliche Ablenkung von den „eigentlichen“ Problemen wahrnimmt.

    Darum möchte ich von den (siamesischen?) Zwillingen Alexander und David konkret wissen: Warum genau wären solche –> http://www.youtube.com/watch?v=FugfthcpNqo Barbareien (allgemeiner: Tierfabriken, Schlachthäuser und Versuchslaboratorien) schlimmer, wenn sie Menschen leiden liessen und töteten? Warum? – Wenn dies nicht stichhaltig begründet werden kann, folgt die Priorität des Veg-Aktivismus unmittelbar. Hierzulande werden jährlich über 50 Millionen Tiere völlig unnötig umgebracht, global sind es über 50 Milliarden. Wenn Menschen von einer solchen Praxis betroffen wären, würden wir nicht zögern, sie für das in den Folgen mit Abstand schlimmste jemals begangene Verbrechen zu halten. *Warum genau* fällt ihr dieses Urteil nicht, wenn die Opfer „nur Tiere“ sind?

  27. @ Adriano

    Ich vertrete hier nur meine Ansicht, nicht diejenige Dritter, aber weil ich dann doch noch angesprochen wurde nur eben zu deiner Frage bezüglich einer möglichen – und von mir auch postulierten – Hierarchie der Revolutionsthemen. Da ich die kapitalistische Wirtschaft als grundlegendes Strukturmerkmal der Gesellschaft sehe, folgt für mich die Behandlung von Mensch und Tier unmittelbar aus der Logik der Produktion. Diese Logik heißt Profitproduktion und nimmt keine Rücksicht auf eine naturverträgliche Herstellung von Gütern oder nur soweit, wie dies qua Gesetz abgerungen oder dem Produktionsprozess verträglich ist. In letzterem Fall wird dies dann in die Produktionsweise integriert und verliert dort, wo es ggf. subversiv gedacht war, seinen kritischen Stachel und befestigt Herrschaft über Mensch und Tier.

    Dass ich es für angeratener halte, die Ausbeutung von Menschen eher zu beenden, als das unnötige Abschlachten von Tieren, würde ich im Einzelfall nicht einmal so sehen. Weiter oben habe ich aber offen die Frage aufgeworfen, inwieweit die Änderung gesamtgesellschaftlicher Konsumgewohnheiten im Status quo möglich ist oder welcher (evtl. pädagogischen) Maßnahmen es dafür braucht. Dennoch sehe ich nicht, dass Leid und Tod als Kategorien völlig ausscheiden, solang wir der Profitlogik folgen müssen. Umgekehrt: beim Versuch, Produkte zu boykottieren, die unter Naturvernutzung und Ausbeutung hergesetellt worden sind, schränkt sich das Warenreservoir sehr schnell ein. — Natürlich ist das eine positivistische Aussage, die ich da bringe, aber sehe eben hier genau wie du, dass der nur individuelle Verhaltensmaßstab (Verzicht auf tierische Lebensmittel) nicht ausreichend ist und sehe obendrein die gesellschaftspolitische Gefahr, zu schnell NUR bei der Frage des Vegetarismus, nicht aber bei der Frage nach der Produktionsweise zu sein. Für mich sind das keine getrennte Fragen, auch wenn schnelle Maßnahmen dennoch getan werden können.

    Mein hiervon völlig losgelöster Standpunkt – und logo argumentiere ich auch von einem bestimmten moralischen oder sittlichen Code her -, zielte auf den Umstand, dass Kritik nur in Verhaltenskodizes umgeformt wird und als spezifischer Habitus dem Status quo eingemeint werden kann und wird. Das wird man doch wohl kaum leugnen können, dass es allerhand Formen kritischer Praxis gibt, die Herrschaft und Ausbeutung nicht beseitigt, aber als Sozialmoral in die Gesellschaftsordnung eingegangen sind (ich denke da an die Kritik, die von Boltanksi und Chiapello in „Der neue Geist des Kapitalismus“ angebracht wurde). Das Ausagieren eine spezifischen Habitus um sog. Raum der Lebensstile ist Teil symbolischer Herrschaft (in terms Bourdieu: http://goo.gl/RMB1d, diesen gilt es aus meiner Sicht mit zu verwerfen.

  28. @ Susanne

    Philosophische Argumente kann ich dir nur bedingt geben, wenn diese jenseits einer sozialmoralischen Auffassung liegen, denn weiter oben nehme ich ja eine politische Stellung ein. Die philosophisch zu begründen ist möglich, sehe ich im Kontext der Diskussion hier aber als eine unnötige Verdoppelung der Realität an. Du weist mich damit ja auch etwas aus dem Diskurs heraus oder anders formuliert: es ist vielleicht nicht immer möglich rein immanente philosophische Gründe zu ermitteln. Ich habe an anderer Stelle mich mal auf die Arbeitsteilung und Ausdifferenzierung der Sozial- und Verhaltenswissenschaften aus der Philosophie heraus bezogen und wollte damit aufzeigen, dass bestimmte Fragen, Fragestellungen, aber auch Problematisierungen bis hin zu ganzen Formen von Vernunft (instrumentelle Vernunft, Funktionalismus, Inhärenz) nur aus einer gesellschaftstheoretischen, jedoch nicht oder nicht gegenstandsangemessen aus einer philosophischen Prämisse heraus auf den Begriff gebracht werden können. Das führt mich auch zu meinen längerfristigen Interessen, Kriterien für eine kritische Gesellschaftstheorie zu ermitteln, die sowohl qualitative als auch empirische Einzelheiten integrieren und verallgemeinern kann.

    Ich behaupte ja gar nicht, dass ich mich nicht mit der Forderung nach Vegetarismus solidarisieren kann, auch wenn ich den Begriff „Spezieszismus“ für eine Hypostasierung halte, weil er aus der menschlichen Perspektive sich an Tiere wendet und zugleich die darin liegende (reaktive) Handlungs- und Bewusstseinsdifferenz einzuebnen sucht. Dazu kann ich aber wenig sagen und lasse sogar offen, dass unsere aktuelle (herrschende) wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Taxonomie dafür noch gar keine angemessenen Begriffe hergibt.

    Meine Befürchtung bezüglich der auch von dir angestoßenen Problematik kann ich in einer einfachen Vermutung zusammenfassen: Vegetarismus darf nicht als ein spezifischer Lebensstil erscheinen und wirken, um nicht den Kontakt zu anderen sozialökonomischen Protesten zu verlieren. Wir können nicht alles zugleich regeln und in der gegenwärtigen Lage droht das kollektive Bewusstsein in Teilrealitäten und Milieus zu zersplittern, die sich wechselseitig nichts zu sagen haben. Das sollte verhindert werden und die Institution Universität, mit all ihren Verhaltensvorschriften und der darin injizierten Projektion möglicher Entwicklungswege für junge Menschen, scheint mir gerade gegenteilig zu wirken: nämlich instrumentelle Vernunft zu befördern und elitäre Abgrenzung ökonomisch und psychologisch zu sanktionieren. Darum geht es mir.

  29. Industrieelle Produktion von Tierhaltungen versuchen so Tiere hochzuzüchten, dass diese schnell wachsen, machen Tieren das Leben schwer, zum Wohle des Menschen. Und auch um bessere oder schnellere Zuchtergebnisse zu erreichen. So werden noch im Kückenstadium Hähnchen ausgelesen und zu Tierfutter vermahlen. Und irgendwo isst der Mensch dann wieder das, was das Tier gefressen hat. Tiere sind schlau. Von diesem Hintergrund ausgehend ist es eine gute Entscheidung, auf eine fisch- und fleischlose Mensa einzustellen. Deshalb gehen Biobauern dazu über selbst für den Eigenbedarf Schweine zu füttern beispielsweise.

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