Tagungsbericht „Narrative Formen politischen Denkens“, 25.–27. Oktober 2012, TU München

Vielversprechend verrückt, so klang in meinen Ohren der Titel der Tagung „Narrative Formen politischen Denkens“, den ich auf einem Plakat las. Da traut sich offensichtlich die Deutsche Gesellschaft zur Erforschung des politischen Denkens etwas zu behandeln, das PolitikwissenschaftlerInnen bislang nur dann anfassten, wenn sie entweder ihre Karriere erfolgreich beendet haben (wie Henning Ottmann, der in seiner Geschichte des politischen Denkens wie selbstverständlich Schriften Homers, Shakespeares, Goethes und sogar einiger Science-Fiction-AutorInnen analysiert) oder ernsthaft in Gefahr bringen wollten. Nach dem eröffnenden Grußwort der DGEPD-Vorsitzenden Barbara Zehnpfennig konstatierte Gastgeber Wilhelm Hofmann dann auch, dass die Politikwissenschaft Erzählungen bisher sträflich vernachlässigt habe, obwohl die ganze Ideengeschichte von ihnen durchdrungen sei und sogar die politische Praxis die Narration (wieder)entdecke. Er drückte die Hoffnung aus, dass das Thema „Narrative“ endlich auf die Tagesordnung der politikwissenschaftlichen Forschung gestellt werde und die Tagung dazu einen Impuls geben möge.
Wenn Narrative schon etwas von der Mainstream-Politikwissenschaft gern Übersehenes sind, dann sollten sich ihre ErforscherInnen zunächst bemühen, das Erforschte definitorisch zu umreißen und die Relevanz des Forschens zumindest zu plausibilisieren. Dies wurde in mehreren Beiträgen geleistet. Im ersten Vortrag der Tagung grenzten Frank Gadinger, Sebastian Jarzebski und Taylan Yildiz den Begriff „Narrativ“ von verwandten Begriffen sowohl aus der Literaturwissenschaft als auch aus der (ideenhistorisch und/oder konstruktivistisch orientierten) Politikwissenschaft ab: es handelt sich nicht um Plot, Frame, Story, Deutungsmuster, Geschichte oder Diskurs, sondern um eine Erzählung (wichtig: mit ErzählerIn), die im politischen Geschehen über zwei Funktionen (dazu gleich mehr) eine mitbestimmende Rolle einnehmen kann. Das Narrativ unterscheidet sich von Theorien à la Rawls oder Luhmann (die unabhängig von Autor oder Situation gültig sein sollten) dadurch, dass es eine sprachliche Ressource nicht für den akademischen Diskurs, sondern für politische Akteure ist. Die Vortragenden unterschieden zwei Funktionen des Narrativs. Zum einen kann es als strategisches Handlungsprogramm helfen, die Komplexität der Welt zu reduzieren, den Akteuren die Wirklichkeit zu erschließen und ihnen so das Handeln ermöglichen; zum anderen kann es als identitätsstiftendes Metanarrativ auch die Struktur mitschaffen, in der die Akteure ihre Handlungen planen und ausführen. Damit wird das Narrativ als vermittelnde, sozusagen übersetzende Instanz zwischen den methodologisch so schwer unter einen Hut zu bringenden Aspekten Akteur und Struktur verstanden. Auch der den zweiten Tag der Tagung eröffnende Wolfgang Bergem definierte „Narrativ“. Anders als die Narration, die er als den Prozess des Erzählens auffasst, ist das Narrativ das Produkt des Erzählens. Es dient auch bei ihm sowohl der Komplexitätsreduktion, da Verständlichkeit, Plausibilität und Zielgerichtetheit narrativ entstehen und unverbundene Geschehnisse durch Narrative so zusammengefügt werden können, dass der Eindruck einer linearen Zeitlichkeit entsteht, als auch der Identitätsbildung, da individuell die eigene Lebensgeschichte als Narrativ produziert und präsentiert wird und kollektiv Erlebnisse durch Erzählung zur Historie werden und so eine Erzählgemeinschaft entsteht. Über Gadinger, Jarzebski und Yildiz hinausgehend stellte Bergem auch den Zusammenhang zwischen Narrativen und ihren antiken Wurzeln in Mythos und Poetik dar.

Am Abend des ersten Tages machte außerdem Marcus Llanque auf die Rhetorik als ein Instrument der Selbstregierung aufmerksam, das in der Antike zum Zwecke der gemeinsamen Entscheidungsfindung eingesetzt wurde. Mehrere TeilnehmerInnen gingen sogar so weit, den Menschen als „animal narrans“ (bzw. „homo narrans“) zu bezeichnen. Es bleibt zu hoffen, dass dieser Schritt – bisher selber mehr ein narrativer als ein theoretisch wohlbegründeter – provokant genug ist, um die Diskussion darüber, was uns als politische Menschen ausmacht, in eine neue Runde zu heben. Aristoteles’ Ergänzung zum zoon politikon, das zoon logon echon, ist eben mehr als der Homo oeconomicus, denn logos ist nicht eine auf Berechnung reduzierbare Verstandestätigkeit, sondern mit dem durchsetzt, was sich Menschen gegenseitig erzählen. Und wir erzählen einander schon immer alles Mögliche. Die Gefahr, den Menschen auf das Erzählen zu reduzieren (wie die Spieltheorie den Menschen auf das Rechnen reduzierte), dürfte recht gering sein, da Narrative sich ihren Platz in der politischen Theorie erst von der Peripherie aus erkämpfen müssen. Einige der Vortragenden haben sich getraut, ihren Blick auf Narration und Narrative für eine Kritik am hegemonialen konservativen Realitätsprinzip einzusetzen. Michael Hirschs Hinweis, dass „das Ende der großen Erzählungen“ die große Erzählung des Neoliberalismus ist, machte dafür den Anfang. Treffend lenkte er den Blick auf die lähmenden Desillusionierungsnarrative, die die Funktion haben, Fortschritt denkunmöglich zu machen. Gegen die technokratische Erzählung von der Politik als Problemlösung durch Experten setzte er die Notwendigkeit von partizipativen Erzählungen über gemeinsame politische Ziele und Mittel, ohne die es weder Demokratie noch politische Theorie gebe.

Auch Herfried Münkler beklagte in seinem den zweiten Tag abschließenden Vortrag das angebliche Ende von Geschichten und Geschichte; als Ausweg schlug er die Wiederkehr des Mythos vor, dem er auch aufklärerisches Potential zuschrieb. Eine andere Stoßrichtung schlug Peter Kainz ein, der eine (vielleicht nicht große, aber doch lange und einflussreiche) Erzählung des Liberalismus auf ihren totalitären Gehalt hin analysierte: Ayn Rands Atlas Shrugged. Trotz der in diesem Roman angestrebten Kritik an einer totalitären Gleichheitsideologie kann nicht übersehen werden, dass Atlas Shrugged strukturelle Ähnlichkeiten zu Mein Kampf und marxistischen Werken hat: Rand ist der Überzeugung, immer Recht zu haben („Objectivism“), die Unterschiedlichkeit der Menschen erkannt zu haben und sogar das Recht postulieren zu dürfen, die Feinde der starken Übermenschen gewaltmäßig zu vernichten, um eine glorreiche Zukunft des Egoismus zu erreichen.

Viele der Beiträge behandelten literarische Empirie, also geschriebene Texte (viele davon fiktional). Erfreulicherweise beschränkten sich nicht alle auf die Politikerpolitik –obwohl es das auch gab. Benedikt Neuroth etwa behandelte Zitate aus Orwells Nineteen Eighty-Four, die US-Politiker in der Privacy-Debatte nutzten, und Jasmin Siri analysierte die Sprechweise zwischen den einander – so ein luhmannistischer Glaubenssatz – eigentlich nicht verstehenden WissenschaftlerInnen und PolitikerInnen in der Politikberatung; ganz der Systemtheorie verbunden, ist für sie nur das „Politik“, was als einzige Sprache Macht kennt. Sich deshalb auf die PolitikerInnen (also die AmtsträgerInnen und AmtsanwärterInnen im Staat) zu beschränken, scheint mir aber zu kurz gedacht. Macht spielt auch in allen anderen sozialen Bereichen (Wissenschaft, Wirtschaft, Liebe…) eine fundamentale Rolle, weshalb eben auch das Private politisch ist. Die politische Kultur wird auf vielen Ebenen durch Narrative stark beeinflusst. Das gilt sowohl für taktisch eingesetzte als auch für repressiv unterdrückte Erzählungen. Nadine Seneca Hernández Sánchez wies das für den Kampf um offizielle – und überhaupt erlaubte – Erzählungen über den Spanischen Bürgerkrieg im Franquismus, in der Transitionszeit und in den heutigen Erinnerungsdiskursen in Spanien nach. Andreas Kruck und Alexander Spencer dokumentierten mit umfangreichem Datenmaterial die (meist gescheiterten) Versuche von privaten Militärfirmen, sich selbst als technische Experten, professionelle Geschäftsleute, noble Humanisten und stolze Patrioten darzustellen.

Auch für die Ideengeschichtsschreibung und die Interpretation klassischer politischer Theorie können erzähltheoretische Kategorien helfen. Eva Odzuck widerlegte die gewöhnliche Deutung von Hobbes’ Autorisierungstheorie als einer unbedingten, indem sie zeigte, dass der Souverän zwar kein Vertragspartner ist, aber dennoch eine Rolle spielt, die er auch ausfüllen muss, um als das zu gelten, was er darstellt. Das heißt, dass die Existenz des Souveräns von der Anerkennung durch die Untertanen abhängt – so wie wir einem Schauspieler nur dann die gespielte Figur glauben, wenn er sich an die Regieanweisungen hält. Odzucks Beispiel blieb zwar nicht unwidersprochen, denn kein Apparat mit leviathanischer Machtfülle wird durch die Delegitimierung durch vereinzelte Individuen zum Sturz gebracht – das Volk mag so etwas wie ein Regisseur sein, der seine Tyrannendarsteller absetzen kann, doch das vereinzelte Individuum ist es eben nicht. Aber das Potential narratologischer Techniken für die Textexegese politikwissenschaftlicher Klassiker konnte aufgezeigt werden.

Das gilt auch für die meisten anderen Vorträge der Tagung. Die Politikwissenschaft steckt noch in den Kinderschuhen dieser Methode, muss also noch in Fußstapfen hineinwachsen, die andere Disziplinen, darunter womöglich stärker die antike Rhetorik als die zeitgenössische Literaturwissenschaft, bereits hinterlassen haben. Man sitzt zwar schnell zwischen allen (Lehr-)Stühlen, wenn man sich auf Interdisziplinarität einlässt, doch manchmal muss man sich eben zwischen Erkenntnis und disziplinärer Grenzziehung entscheiden. Ich bin froh, dass sich die DGEPD mit dieser Tagung für Entgrenzung entschieden und mir so viel zusätzliches Wissen beschert hat. Die ganze Tagung hat einen hellen und erhellenden Eindruck auf mich gemacht. Wenn tatsächlich eine Arbeitsgruppe zu Literatur & Politik gegründet werden soll, wie Hofmann am Ende der Konferenz vorschlug, dann würde ich dieser gerne beitreten.

Dr. Peter Seyferth unterrichtet als Lehrbeauftragter am Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaft Politische Theorie und Philosophie. Schwerpunkte seiner bisherigen Forschung sind literarische Utopien und Anarchismus. Derzeit arbeitet er an einer utopischen Anthropologie, die es im Rahmen einer fantastischen Politikwissenschaft möglich machen soll, wieder normativ zu denken und so Politik als gestaltende und transformierende Tätigkeit aller zu verstehen.

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