theorieblog.de | Keep Calm and Carry On: Wieso das Internet nicht Privatheit und Demokratie gefährdet

13. Dezember 2012, Thiel

Vor zwei Wochen hat Daniel Jacob auf dem Theorieblog einen Beitrag zu Gefährdungen der Privatsphäre durch das Internet veröffentlicht. Daniels Artikel ist ein erster öffentlicher Zug in einer schon länger zwischen uns ausgetragenen Diskussion um das richtige Nutzerverhalten im Internet und die demokratietheoretischen Implikationen digitaler Vernetzung. Heute möchte ich auf seinen Beitrag erwidern und zu zeigen versuchen, warum ich die von ihm vertretene Diagnose und die daraus gefolgerte Therapie für überzogen halte.

Völlig einig sind Daniel und ich uns bezüglich des normativen Ausgangspunkts der Debatte: der Wichtigkeit des Schutzes der Privatsphäre für die Demokratie. Plakative Post-Privacy Posen werden daher auch von mir nicht zu lesen sein; die von Daniel stark gemachte liberaldemokratisch inspirierte und rechtsstaatlich umgesetzte Absicherung der Privatsphäre halte auch ich für überzeugend. Wogegen ich mich allerdings wenden will, ist die von Daniel vertretene Gefahrendiagnose. Diese wird in meinen Augen nicht hinreichend rechtfertigt und speist sich zu stark aus einer technikskeptischen Grundhaltung, die einen gerade in deutschen Printmedien gepflegten Generalverdacht gegen das Internet bedient (wie ich gleich zugestehen möchte, ist Daniels Argumentation aber keinesfalls so pauschal wie die der großen Apokalyptiker beispielsweise von der ZEIT  oder – anderes Feld, gleicher Tonfall – Manfred Spitzer) . Auf einer solchen Grundlage kommt man bestenfalls zu gut gemeinten Lösungen, nicht aber zu  solchen, die auch die Potentiale der Vernetzung bedenken und der Vielschichtigkeit der Veränderungen gerecht werden (mit Sascha Lobo lässt sich der Glaube an demokratische Netzregulierung als Variante der Suche nach dem heiligen Gral porträtieren).

Das Argument der Skeptiker

Daniel identifiziert in seinem Text das Internet zunächst mit den großen Netzkonzernen, insbesondere mit Google und Facebook. Diese seien durch die gestiegenen Möglichkeiten zur Datensammlung und Datenauswertung in eine Position gelangt, die es ihnen erlaube, willkürlich über den Bereich der Privatsphäre zu bestimmen. Daniel schließt dabei aus dem Potential zum Eingriff auf den Beherrschungseffekt selbst. Zu den Voraussetzungen seines Arguments zählen: Die Daten sind gesammelt und dauerhaft archiviert, die Unternehmen verfügen über die technischen Möglichkeiten, die Daten zu verknüpfen und auszuwerten, wir sind an ihre Dienste gewöhnt und haben uns von ihnen abhängig gemacht und da sie kapitalistisch organisierte Unternehmen sind, gibt es keinerlei Grund, ihnen zu vertrauen.

In den ersten drei Punkten gebe ich Daniel recht und konstatiere ganz allgemein, dass Vernetzung immer auch Speicherung von Daten bedeutet und Selektionsautomatiken nach sich zieht, so wie sie Suchmaschinen und soziale Netzwerke vornehmen – was ohne Frage demokratietheoretische Auswirkungen hat (berühmt: die Filter Bubble). Für meinen Einwand aber ist der letzte Punkt entscheidend, sprich: dass die Gefahr daraus erwächst, dass es sich um demokratisch nicht legitimierte oder kontrollierte Akteure handelt, diese zumal angesichts ihrer Größe auch faktisch unkontrollierbar seien. Willkür ist also zu erwarten und dementsprechend ist präventiv zu handeln – und dies unabhängig davon, wie sich die Unternehmen bisher verhalten haben, was die Logik ihres Handelns ist, ob sie in funktionierenden Rechtsstaaten agieren und ob sie unter starker öffentlicher Beobachtung stehen.

Nicht zu oft den bösen Wolf ausrufen

Eine Position, die auf der Antizipation von Missbrauch gründet, muss meines Erachtens das ganze argumentative Gewicht auf die Plausibilität des konstruierten Ernstfalls legen – und genau hier sehe ich Nachholbedarf: Selbst wenn man Googles Firmenmantra »Don’t Be Evil« als plakativen Slogan abtut, so kommt man doch nicht umher, sich genauer die jeweiligen Geschäftsmodelle anzuschauen. Inwiefern macht der angenommen Ausverkauf der Privatsphäre Sinn? Daniel selbst führt dies nicht weiter aus, doch da zwei Varianten, diese Gefahr zu beschreiben, im öffentlichen Diskurs immer wieder anzutreffen sind, will ich mich kurz mit deren Plausibilität beschäftigen:

Zum einen wird oft angenommen, dass die Unternehmen spätestens in Krisenzeiten, Schindluder mit den Profilen treiben oder die Daten direkt weiterverkaufen. Dies soll irgendwie viel Geld generieren (zu den hypothetischen Abnehmern wird nie etwas gesagt, es scheinen entweder reiche Überwachungsinstitutionen zu sein oder Werbetreibende, die auf dieser Grundlage scheinbar nahezu beliebig Kaufverhalten manipulieren und Profite generieren könnten). Die realen Erwerbsmechanismen, die die Stärke der Internetgiganten erklärt, sehen sehr anders aus und dürften deutlich lukrativer sein – für Google ansprechend erklärt: hier. Apple, Facebook, Amazon und Co. haben jeweils andere Datennutzungsverhalten und Geschäftsmodelle, gemein ist ihnen jedoch, dass sie auf Langfristigkeit angelegt sind – und daher ein fundamental anderes ökonomische Rational haben als im 1984-Szenario angenommen. Der Witz des Datensammelns liegt schließlich in der Aktualität der Daten und somit der Nachpflege dieser durch die Nutzer. Kein Mensch will heute den MySpace-Datensatz kaufen oder StudiVZ-Profile überwachen, auch wenn die Unternehmen sicher in ihrer großen Zeit viel gesammelt haben. Um erfolgreich und profitabel zu sein, benötigen die Unternehmen das ohnehin maximal spärlich vorhandene Vertrauen der Nutzer, die im Netz zudem immer nur einen Klick vom Exit entfernt sind – schon heute handelt es sich also um eine nicht völlig asymmetrische Konstellation und die Nutzer haben mehr Optionen, als einfach nur nach Regulierung zu rufen (kartellrechtliche Obacht  bleibt freilich geboten).

Variante 2 des Bedrohungsszenarios sieht die Gefahr aus einer anderen Richtung kommen: Hier sind es nicht die Unternehmen selbst, in deren Händen die Datenmassen zur Gefahr werden, sondern der Staat. Dieser könne gar nicht anders als der Versuchung nachgeben und nach den tiefhängenden Daten zu greifen. Auch dies aber scheint – mit Blick auf westliche Demokratien zumindest – eher weit hergeholt: Nicht nur, dass die Herausgabe der Daten an staatliche Institutionen, wohl schon daran scheitern würde, dass kaum ein Staat in seinem ausgemergelten Zustand in der Lage wäre, die Daten sinnvoll zu prozessieren. Mehr noch stellt sich die Frage, ob es den Staaten wirklich gelingen würde, die Unternehmen in signifikantem Maße zur Zulieferung zu verpflichten. Ohne Frage gibt es immer wieder Gelüste, solche Daten zu erhalten, doch gerade die Größe und globale Aufstellung der Unternehmen führt dazu, dass diese hartnäckig versuchen, ihre Freiräume – die dann deckungsgleich sind mit einer zumindest partiell geschützten Privatsphäre der Nutzer – zu verteidigen (ein bekanntes Beispiele sind Googles Transparency Reports).  Auch in revolutionären Konstellationen wie dem arabischen Frühling hat sich die Quasi-Public-Sphere sozialer Netzwerke zwar nicht als perfekte Öffentlichkeit erwiesen, wohl aber als ein Raum, der durchaus wirksam vor staatlicher Intervention geschützt werden kann. Und der zudem nicht ganz so stark in Verdacht steht, ein Tool fremder Regime zu sein, wie es beispielsweise ein von USA und EU betriebenes Freiheitsportal wäre. Gerade das nicht Politische solcher Räume lässt diese für demokratische Partizipation attraktiv werden (die berühmte Cute-Cat-Theory – wobei natürlich nicht naiv zu folgern ist, dass der Rückgriff auf private soziale Netzwerke per se eine Lösung ist).

Solche gegenläufigen Logiken werden in der pauschalen Angst vor den sich türmenden Datenbergen viel zu häufig übersehen. Den Blick auf Konzerne und Staaten zu fokussieren, übersieht, wie die Möglichkeit des Selbstentwurfes im Netz auch Chancen für Selbstverwirklichung bieten, die in der analogen Welt oft ebenso schwierig gelingt (auch Anonymität ist im Netz eine Chance und sollte in einer solchen Debatte bedacht werden). Schaut man zudem nur auf die großen Bösen, so verblasst zudem eine ganz reale Problematik, die aus der direkten Interaktion von Privaten entstehen. Digital vernetze Selbstbilder sind schwierig zu korrigieren. Meinungswandel und Positionsänderungen werden durch die viele Öffentlichkeit des Netzes behindert, aus der großen Offenheit erwächst tatsächlich ein hohes Missbrauchs- und Kriminalitätspotential (man denke nur an die Troll-Kultur oder den spektakulären Hackerangriff auf Mat Honan). Das Potential zu Nähe und Direktheit – welches von Cyberutopisten häufig direkt mit Demokratie gleichgesetzt wird – ist also tatsächlich nicht einfach ‚gut‘. Doch will man diese Nuancen diskutieren, so muss man zunächst wegkommen von einem Blick, der alleine Vermachtung durch Staaten und Konzerne in den Blick nimmt und stattdessen viel stärker die Entwicklung von gegenläufigen Kräften selbst nachzeichnen.

So what?

Die rhetorische Konstruktion – machtlose Bürger hier, Konzerne und Staaten da – lässt keinen anderen Schluss zu als das Rufen nach Kontrolle und Rückbindung. Daniels Vorschlag von „checks and balances“, in denen „Staaten, Unternehmen und zivilgesellschaftliche Akteure sich gegenseitig in Schach halten“ zeigt dies. So normativ wahr und schön es auch ist: Demokratie zur allgemeinen Lösung zu erheben, sagt letztlich gar nichts. Und während die Forderung nach mehr Demokratie nie völlig falsch sein kann, so bewirkt das Framing des Arguments doch, dass ein zwar chaotisches, aber insgesamt erstaunlich stabiles und vorteilhaftes System via Precautionary Principle in die Hände vorsorgender Regulierung überantwortet würde.

Wenn ich aber nicht denke, dass eine institutionell-demokratische Lösung der Weg ist, wohin will ich dann? Insgesamt denke ich, dass nur die Selbstbehauptung der freien Netzkultur und die Diskurslust der Netzgemeinde der Weg sein kann (gewissermaßen die von Daniel auch skizzierte, aber als zu schwach verworfene Option ‚individuelle Verantwortung‘, wenn auch weniger privatistisch gewendet, sondern assoziativer gedacht).  Das heißt zum einen, dass Alternativen zu kommerziellen Anbietern noch viel mehr Aufmerksamkeit und Einsatz verdienen. Netzpolitik ist ein wachsendes Feld und eines, wo starke Impulse von unten entstanden sind. Hier zeigt sich wunderbar, wie stark Selbstorganisationskräfte sein können und dass die Nutzer des Netzes gar nicht so wehrlos sind, wenn sie sich technische Expertise zutrauen und ihre Macht zum politischen Handeln bewusst machen. Der Aufbau einer quasi geordneten zivilgesellschaftlichen Beteiligung ist hierzu nicht notgedrungen die überlegene Alternative, da ein solch öffentlich-rechtliches Modell nicht nur wahrscheinlich weitgehend wirkungslos ist (schon da wohl nur nationalstaatlich zu organisieren), sondern auch, da eine solche regulatorische Lösung immer Gefahr läuft, vorhandene Initiativen und Impulse zu erdrosseln.


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