theorieblog.de | Das Recht auf Einwanderung und das Recht auf Ausschluss – Oliviero Angelis Replik

8. November 2012, Angeli

Vor drei Wochen haben wir den ZPTH-Beitrag “Das Recht auf Einwanderung und das Recht auf Ausschluss”  von Oliviero Angeli als PDF-Download hier auf dem Theorieblog veröffentlicht – begleitet von einem Kommentar zu dem Artikel von Jan Brezger. Heute antwortet Oliviero auf Jans Kritik sowie die weiteren Kommentare, die bisher zu dem Artikel veröffentlicht wurden. Lest selbst und diskutiert fleißig weiter – nach dem Strich.

Es gibt in der Blogosphäre Themen bei denen die Gemüter sehr schnell hochkochen können. Das Thema Einwanderung ist dafür prädestiniert. In dieser Blog-Diskussion ging es allerdings nicht polemisch-heiß her, sondern eher analytisch-kühl zu. Das hat mich unvorbereitet getroffen und mir zwei gedankenintensive (und lehrreiche) Wochen beschert. Dafür bin ich dem Team von Theorieblog sehr dankbar. Ein großer Dank gebührt auch den Blog-KommentatorInnen und insbesondere Jan Brezger, der meine Argumentation im Rahmen seines Kommentars sehr präzise rekonstruiert hat. Zuweilen hatte ich den Eindruck, dass er meinen Artikel besser verstanden hat als ich selbst! Im Folgenden möchte ich auf seine drei Einwände eingehen und dabei auch zu den kritischen Anmerkungen weiterer KommentatorInnen Stellung beziehen. Ich werde mich kurz fassen und bitte schon jetzt um Nachsicht, dass ich nicht auf jeden Punkt eingehen werde.

Der erste Kritikpunkt von Jan Brezger richtet sich gegen meine Auffassung des generellen Rechts auf Einwanderung. Dieses sei so schwach konzipiert, dass es den Namen ‚Recht’ nicht verdiene. Natürlich geht es hier nicht um die Rechte der sogenannten Zwangsmigranten (forced migrants), die sehr wohl einen Anspruch (claim right) auf Einwanderung haben. Brezger kritisiert, dass ich Menschen, die keiner Zwanglage entfliehen müssen, letztlich kein Recht auf Einwanderung einräume, da diese „die Entscheidungen des Demos respektieren müssen“, der ihnen die Einreise verweigert. Ist die Rede von einem Recht auf Einwanderung in solchen Fällen sinnvoll? Kann ich von einem Recht auf Einwanderung reden, wenn ich zugleich die Pflicht habe, nicht einzuwandern? Ich denke, diese Art von Rechtskonflikt ist nichts Außergewöhnliches. Es gibt im Zusammenleben einer demokratischen Gesellschaft oftmals Situationen, in denen Personen hinnehmen müssen, dass ihnen Leistungen oder Rechte verwehrt werden, die ihnen moralisch zustehen. Es ist anzunehmen, dass sich diese Personen damit nicht abfinden werden. Sie werden andere davon überzeugen wollen, dass ihnen ein Unrecht wiederfahren ist. Werden sie damit zugleich bestreiten, dass Andere das Recht haben, die Dinge anders zu beurteilen? Ich glaube eher, dass sich viele in einer Form ‚demokratischer Zurückhaltung‘ üben werden, die nichts mit Pragmatismus oder Wertrelativismus zu tun hat. Sie ergibt sich vielmehr aus der Anerkennung des Anderen als moralisch urteilender Person. Nach meiner Überzeugung setzt ein normativ gehaltvolles Verständnis demokratischer Legitimation letztlich genau diese Form der Anerkennung voraus.

Es ist mir durchaus bewusst, dass Kantianern diese Form der Anerkennung Bauchschmerzen bereitet. Karoline Reinhardt sieht das Problem in meiner Bestimmung der durch das Recht zugelassenen Handlungsoptionen. Sie schreibt: „Meine Handlungsoptionen werden mir nicht durch das Recht eröffnet, sondern meine Optionen werden an den moralisch gebotenen Rechten der anderen geprüft und durch diese eingeschränkt“. Diese Interpretation entspricht dem kantischen Autonomieverständnis, wonach Individuen nicht autonom handeln, wenn sie (moralisch verwerfliche) Entscheidungen treffen bzw. Handlungsoptionen nachgehen, die mit der Freiheit anderer unvereinbar sind. Eine solche Auffassung weicht vom Autonomieverständnis ab, das meinem Artikel zugrunde liegt und an Raz (1986) angelehnt ist. Während es Reinhardt vorrangig um Handlungsoptionen und deren Legitimation geht, kommt es mir vor allem auf die Gewährleistung eines rechtlichen Spielraums an. Innerhalb dieses Spielraums können Individuen autonom entscheiden oder handeln – freilich nur solange sie keinen ungerechtfertigten Zwang auf Andere ausüben.

Diese letzte Bemerkung bedarf einer weiteren, kurzen Erläuterung. Das Recht auf Ausschluss impliziert eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit. So viel steht fest. Weniger klar ist, wann diese Einschränkung der Bewegungsfreiheit den Charakter einer Zwangsausübung annimmt. Ein Indiz dafür ist das Fehlen einer adäquaten Bandbreite an alternativen Optionen. In meinem ZPTH-Artikel habe ich betont, dass das Fehlen dieser adäquaten Bandbreite an alternativen Optionen letztlich einer Aberkennung der moralischen Selbstständigkeit (independence) als Bedingung der Autonomie gleichkommt. Die Frage, die sich hier stellt ist: Was ist eine adäquate Bandbreite an alternativen Optionen? Wie Raz glaube ich – und damit nehme ich meine Erwiderung auf Brezgers dritten Einwand vorweg – dass Autonomie letztlich „a matter of degree“ ist (1986, 373). Das heißt freilich nicht, dass alles relativ ist. Es gibt Einwanderungsbeschränkungen, die mit Sicherheit einen Eingriff in die Autonomie bedeuten (dies gilt z.B. für die bereits erwähnten forced migrants). Es wäre allerdings eine unnötige Überdehnung des Autonomiebegriffs, wenn wir jede moralisch verwerfliche Einschränkung der Bewegungsfreiheit als Eingriff in die moralische Autonomie anprangern würden. Wer an dieser Stelle die Analogie zum Verbot von Religionsgemeinschaften bemüht, mutet dem Ideal der Bewegungsfreiheit m. E. zu viel zu. In einer Situation relativ großer Bewegungsfreiheit kommt nicht jedem möglichen Zielland die Funktion eines potentiellen Identitäts- und Sinnstiftungssystems zu.

Der Unterscheidung zwischen Einschränkung der (Bewegungs-)Freiheit und Zwang kommt aber auch noch in anderer Hinsicht eine besondere Bedeutung zu. Reinhardt betont, dass nicht nur die Bürger und Bürgerinnen eines Staates von Einwanderungspolitiken betroffen sind, sondern auch diejenigen Personen, die einwandern möchten. Der Grad an ‚Betroffenheit‘ kann allerdings sehr unterschiedlich sein und darauf kommt es bei der Bestimmung der Legitimationsinstanz an. Wenn eine Zwangsausübung vorliegt, so bedarf sie der Legitimation, etwa der demokratischen Legitimation (Abizadeh 2008), durch jene, die dem Zwang ausgesetzt sind. Nicht jede Form der Freiheitseinschränkung bedarf m. E. dieser anspruchsvollen Form der Legitimation.

In seiner zweiten Kritik beklagt Brezger eine Ungleichbehandlung des Rechts auf Einwanderung. Er kritisiert, dass diesem Recht nicht derselbe normative Stellenwert zukommt wie dem Recht auf Ausschluss. Ähnlich argumentiert Andreas Cassee. Ein Punkt bedarf zunächst der Klärung: In meinem Artikel bin ich von einem interessenbasierten Verständnis des Rechts ausgegangen, demzufolge nicht Rechte, sondern Interessen gegeneinander abgewogen werden. „Demnach wird das Recht auf Bewegungsfreiheit nur Menschen zugesprochen, von denen wir annehmen können, dass ihr Interesse, frei über Bewegungsoptionen zu entscheiden beziehungsweise sich frei zu bewegen, hinreichend stark ist, um gegenläufige Interessen zumindest in normalen Fällen aufzuwiegen“ (Fn. 16). Zu diesen ‚gegenläufigen Interessen‘ gehört das Interesse der Menschen als Staatsbürger über Fragen der Zugehörigkeit zu entscheiden. Ist dieses Interesse moralisch gesehen so bedeutsam, dass es ein entsprechendes Recht begründen kann? Wiegt es schwerer als das gegenläufige Interesse an Bewegungsfreiheit? Wenn wir dieses Interesse fallspezifisch abwägen, sind wir geneigt, diese Frage zu verneinen. Dem Interesse einer Person sich frei zu bewegen kommt wohl mehr Bedeutung zu (sofern von dieser Person keine Gefahr ausgeht). Dies gilt allerdings nur solange wir annehmen, dass Rechte nur dann gerechtfertigt sind, wenn sie Handlungen gestatten oder verbieten, die im unmittelbaren Interesse ihrer Rechtsinhaber sind. Damit handeln wir uns allerdings ein Problem bei der Legitimation demokratischer Rechte ein. Denn diese sind gerade nicht gerechtfertigt, weil ihre Inhaber immer das richtige wählen. Es geht vielmehr um die Chance, entscheiden zu können. Andreas Cassee wendet an dieser Stelle ein, dass diese Argumentation in die Begründung eines demokratischen Freiheitsrechtes (privilege) – nicht eines Anspruchsrechts (claim-right) – mündet. Demnach unterliegt ein demos nicht der Pflicht, Einwanderer aufzunehmen, die keiner Zwanglage entfliehen müssen. Er kann sich frei entscheiden. Der Entscheidungsspielraum wäre dabei rein fiktiv und die Entscheidung letztlich wirkungslos. Denn kein demos hätte einen Anspruch darauf, dass seine Entscheidung Anerkennung findet geschweige denn, dass ihr Folge geleistet wird. Gerade vor dem Hintergrund dieses Problems spricht H.L.A. Hart von einem „schützenden Perimeter“ (protective perimeter), der gegebenenfalls zur Sicherung eines Freiheitsrechtes errichtet werden muss. Gleiches gilt im Übrigen auch für das Recht auf Einwanderung, sofern das Interesse an Bewegungsfreiheit schwerer wiegt als das Interesse der Staatsbürger, über Fragen der Zugehörigkeit zu entscheiden. Stets geht es um das Abwägen dieser zwei Interessen. Wie viel Bedeutung wir der demokratischen Entscheidungsautonomie beimessen, ist letztlich entscheidend. Misst man ihr wenig Bedeutung bei, so ist es durchaus folgerichtig vom demos zu verlangen, dass Fragen der Mitgliedschaft nicht mehr zum Gegenstand demokratischer Meinungsbildung und Entscheidung gemacht werden. Damit wäre die Gefahr gebannt, dass moralisch falsche Entscheidungen getroffen werden. Dafür spricht zudem der Umstand (auf den sich Brezger beruft), dass in modernen Demokratien ohnehin nicht jedes Recht der demokratischen Deliberation unterzogen ist. Allerdings geht es hier um einen Kernbereich politischer Selbstbestimmung – die Frage der Zugehörigkeit – und damit zugleich um die Frage, welchen Wert wir der demokratischen Methode beimessen. Mit anderen Worten, wer sich für eine ausnahmslose Justizialisierung der Fragen von Zugehörigkeit ausspricht, setzt sich einem ‚slippery-slope’-Problem aus. Wieso sollten dann nicht alle grundrechtsrelevante Politikbereiche (einschließlich z.B. der Grundsicherung, des Arbeitsrechtes und des Umweltschutzes) der demokratischen Verfügbarkeit entzogen werden?

Oliviero Angeli ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte der TU Dresden. Sein Forschungsinteresse gilt insbesondere den modernen Demokratie- und Verfassungstheorien sowie Fragen der globalen Gerechtigkeit und des gesellschaftlichen Zusammenhalts.


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