theorieblog.de | Das Recht auf Einwanderung und das Recht auf Ausschluss – Oliviero Angelis ZPTH-Artikel in der Diskussion

17. Oktober 2012, Brezger & Theorieblog-Team

In der zweiten Ausgabe 2012 der ZPTH diskutiert Oliviero Angeli mit Blick auf die Migrationsdebatte das Recht auf Einwanderung und macht einen Vorschlag dazu, wie sich dieses mit einem demokratisch verstandenen Recht politischer Gemeinschaften auf Ausschluss verbinden lässt. Wir freuen uns, an dieser Stelle die Kooperation mit der ZPTH fortsetzen und euch den Artikel als pdf zum Download bereitstellen zu können. Unter dem Strich findet ihr den einleitenden Kommentar von Jan Brezger als Auftakt für die Diskussion. Wir freuen uns auf eine lebhafte Diskussion, in der sich wie üblich auch der Autor auf eure Fragen und Anmerkungen reagieren wird.

A Right to Wrong Potential Immigrants? – Kommentar von Jan Brezger

Dürfen BürgerInnen demokratischer Staaten potentiellen MigrantInnen die Einreise verweigern oder haben letztere das Recht, den eigenen Lebensmittelpunkt frei zu wählen und auch international von ihrer Bewegungsfreiheit Gebrauch zu machen? In der normativen Migrationsdebatte werden das Recht auf Einwanderung und das Recht auf Ausschluss gewöhnlich als unvereinbare Gegensätze gedacht: Entweder lässt sich ein generelles Recht auf Einwanderung oder ein generelles Recht auf Ausschluss begründen. Zwar sind Einschränkungen des jeweils favorisierten Rechts möglich, doch ändert dies nichts an der Annahme einer prinzipiellen Unvereinbarkeit beider Rechte. Im vorliegenden Aufsatz unternimmt Oliviero Angeli den äußerst spannenden und die Debatte bereichernden Versuch einer „kompatibilistische[n] Interpretation“ beider Rechte (181, Hervorhebung im Original). Die Attraktivität dieses Ansatzes besteht also insbesondere in dem Versprechen, das Spannungsverhältnis zwischen dem Recht auf Einwanderung und dem Recht auf Ausschluss derart aufzulösen, dass sie koexistieren können. Ob dieses Unterfangen gelingt, ist Gegenstand meines Diskussionsvorschlags. Zunächst soll jedoch Angelis Argumentationsgang knapp zusammengefasst werden

Im ersten Argumentationsschritt zeigt Angeli, dass ausschließlich eine autonomiebasierte Rechtfertigung eines Rechts auf Einwanderung überzeugen kann. Internationale Bewegungsfreiheit eröffne wertvolle Handlungsoptionen, „indem sie allen Menschen eine Bandbreite an möglichen Zielen, unter denen sie frei entscheiden können, offenhält“ (176). Dadurch diene sie der individuellen Autonomie, die Angeli in Anlehnung an Raz als „das Interesse, sich selbst Ziele setzen zu können und sein Leben weitgehend selbstbestimmt zu gestalten“ definiert (ebd.). Zwei alternative Begründungsversuche müssen hingegen scheitern: Zum einen verfange jene Argumentation nicht, die auf (vermeintliche) Inkonsistenzen zwischen dem Recht auf Aus- und Einwanderung, dem freiem Kapitalverkehr und Personenfreizügigkeit oder zwischen innerstaatlicher und internationaler Bewegungsfreiheit verweist. Denn zwischen dem Recht auf Ausreise und dem Recht auf Einwanderung ließen sich signifikante Unterschiede ausmachen, die eine Ungleichbehandlung beider Fälle rechtfertigten. Vor allem aber lieferten Konsistenzargumente selbst keinen Anhaltspunkt dafür, ob die Inkonsistenz zugunsten größerer Bewegungsfreiheit oder verstärkter Einwanderungskontrolle aufgelöst werden sollte. Zum anderen schlügen konsequentialistische Begründungsversuche fehl, da sie in hohem Maße empirisch kontingent seien. Außerdem könnten sie kein generelles Recht auf Einwanderung begründen, weil je nach zu erzielendem Zweck lediglich einem gewissen Teil der Menschen ein Recht auf Einwanderung zustände.

Anschließend verteidigt Angeli in seinem zweiten Argumentationsschritt das (demokratische) Recht auf Ausschluss. Auch dieses Recht sei ein Gebot der Entscheidungsautonomie: Als autonome Personen wollen wir nicht nur die Autorin bzw. der Autor unseres eigenen Lebens sein, sondern auch an den Gesetzen unseres Gemeinwesens mitwirken. Würde uns bzw. dem Demos, dessen Teil wir sind, die Entscheidung über Fragen der Einwanderung entzogen, fühlten wir uns in unserer politischen Autonomie eingeschränkt. Es lassen sich daher laut Angeli sowohl ein Recht auf Einwanderung als auch ein Recht auf Ausschluss begründen. Beiden Rechten, so das Zwischenfazit, liege eine autonomiebasierte Rechtfertigung zu Grunde.

Diese „paradoxe Schlussfolgerung“ (181) wird im dritten Argumentationsschritt aufgelöst. Zwar stehe jeder Person ein Recht auf Einwanderung zu, doch enthalte demokratische Selbstbestimmung auch das Recht, etwas moralisch Falsches zu tun. In dieser Verwendung von Waldron’s „right to do wrong“ erteilt Angeli der kollektiven Selbstgesetzgebung den Vorzug, ohne jedoch das Recht auf Einwanderung zu verneinen: „Das Recht auf Ausschluss bedeutet also nur, dass die Bürger eines Staates das Recht haben, dass ihre Entscheidung respektiert wird. Es impliziert nicht, dass sie nicht in der Pflicht stehen, die Rechte der Einwanderer anzuerkennen“ (182).

Zusammengefasst lauten die drei Thesen folgendermaßen:
1. Ein generelles Recht auf Einwanderung lässt sich (allein) anhand der Bewegungsfreiheit begründen, da diese für ein gelingendes autonomes Leben von konstitutiver Bedeutung ist (176).
2. Ein generelles (demokratisches) Recht auf Ausschluss lässt sich ebenfalls mittels des Rekurses auf das „Interesse an individueller Autonomie“ begründen (178).
3. Das Recht auf Einwanderung und das Recht auf Ausschluss sind nicht notwendigerweise unvereinbar – eine „kompatibilistische Interpretation“ ist sogar überzeugender (181).

Im verbleibenden Part möchte ich vor allem die originelle dritte These in drei Hinsichten problematisieren. Erstens ließe sich fragen, ob bzw. inwiefern es sich tatsächlich um eine „kompatibilistische Interpretation“ handelt. Ist in Angelis analytischem Vermittlungsvorschlag noch hinreichend Platz für ein moralisches Recht auf Einwanderung oder scheint vielmehr die Öffnung der Grenzen eine moralisch richtige Handlung zu sein, ohne dass potentielle Migrantinnen jedoch ein Anrecht darauf hätten? Angeli betont, der Demos sei nicht befreit von der Pflicht, die Rechte der potentiellen Migrantinnen anzuerkennen (182). Das ist ein wesentlicher Unterschied zu jenen Positionen, die ein Recht auf Einwanderung verneinen und allein ein Recht auf Ausschluss einfordern (wie etwa David Miller oder Christopher Wellman). Gleichzeitig räumt Angeli aber den BürgerInnen demokratischer Staaten das Vorrecht ein, gegen diese Pflicht zu handeln. Was bedeutet das nun für das Recht auf Einwanderung? Es kann nicht die Gestalt eines Hohfeld’schen „Freiheitsrechts“ (liberty) haben, da MigrantInnen die Entscheidungen des Demos respektieren müssen und gegebenenfalls die Pflicht haben, nicht von ihrer Bewegungsfreiheit Gebrauch zu machen. Es kann allerdings auch nicht die Form eines genuinen „Anspruchsrechts“ (claim) annehmen, da das Recht auf Einwanderung gegenüber dem Pflichteninhaber (dem demokratischen Gemeinwesen) im Zweifel nicht eingefordert werden kann. Sofern man der Rede von moralischen Rechten einen Mehrwert gegenüber der Bestimmung moralisch richtiger Handlungen zumisst, erscheint es mir daher fraglich, ob das Recht auf Einwanderung in Angelis Vermittlungsvorschlag fortbesteht.

Im Anschluss hieran stellt sich zweitens die Frage nach der Grundlage für die Bevorzugung des demokratischen Rechts auf Ausschluss in Form des „right to do wrong“. Es bleibt meines Erachtens unklar, weshalb dieses gegenüber dem Recht auf Einwanderung den eingeforderten Vorrang genießen sollte. Wenn beide Rechte, wie Angeli konstatiert, vom Wert der individuellen Entscheidungsautonomie abgeleitet werden können – was sich im Übrigen für das Recht auf Ausschluss mit Ryan Pevnick (2011) und anderen AutorInnen aus guten Gründen bestreiten lässt –, scheint ein Autonomiegewinn auf der einen Seite tatsächlich nur auf Kosten eines Autonomieverlustes auf der anderen möglich zu sein. Weshalb sollte aber das Pendel nicht zugunsten der internationalen Bewegungsfreiheit ausschlagen? Schließlich anerkennen und gewährleisten Demokratien zahlreiche autonomiebasierte Grundrechte, die der demokratischen Deliberation – zumindest zu einem gewissen Grad – entzogen sind. Ferner beanstanden Institutionen wie das Bundesverfassungsgericht und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte manch demokratisch getroffene Entscheidung. Das mag als Verlust an Freiräumen der kollektiven Selbstgesetzgebung kritisiert werden, dient aber in vielen Fällen gerade dem Schutz der individuellen Autonomie der betroffenen Personen. Aus der Entscheidungsautonomie allein lässt sich meines Erachtens keine Präferenz für das demokratische Recht auf Ausschluss gewinnen, da sie mindestens ebenso für die Bewegungsfreiheit in Anschlag gebracht werden kann. Es bedarf daher eines zusätzlichen Arguments, um die These zu verteidigen, dass der demokratischen Selbstbestimmung hier Vorrang in Form eines „right to do wrongs“ eingeräumt werden sollte.

Damit eng verbunden ist eine dritte kritische Nachfrage: Wie umfassend ist das „right to do wrong“ zu verstehen? Sollten wir tatsächlich alle Entscheidungen eines demokratischen Gemeinwesens respektieren, selbst wenn diese gegen die moralischen Rechte von Individuen verstoßen? Nach Angelis Vermittlungsvorschlag existiert ein moralisches Recht auf Einwanderung, doch kann dieses im Namen der demokratischen Selbstgesetzgebung missachtet werden. Das „right to do wrong“ enthielte somit auch ein „right to wrong somebody“. Doch solch ein Recht, jemandem Unrecht zu tun, scheint in den von Waldron (1981) genannten Beispielen nicht angelegt zu sein.

Nun ließe sich an dieser Stelle einwenden, das „right to do wrong“ sei tatsächlich auf einen gewissen Anwendungsbereich beschränkt. So betont Angeli mehrfach, das demokratische Recht auf Ausschluss sei nicht absolut. Es finde „dort seine Grenzen (…), wo es sich gegen Menschen richtet, für die die Einwanderung in ein bestimmtes Land nicht nur eine Option unter mehreren darstellt, sondern eine konsequentialistisch gebotene Schutzhandlung, die die Minimierung von individuellem Schaden zum Zweck hat“ (178). Personen, die sich in einer „Zwangs- oder Notlage befinden“, dürfe die Einreise und der Aufenthalt nicht untersagt werden, was primär Flüchtlinge und nachziehende Familienmitglieder betrifft (ebd.). Das maßgebliche Kriterium scheint also die Existenz mehrerer wertvoller Handlungsoptionen zu sein, was Raz (1986: 373) als zweite Autonomiebedingung begreift. Solange wir weiterhin zwischen verschiedenen, jeweils erstrebenswerten Optionen wählen können, schränkt der Verlust einer einzelnen Handlungsmöglichkeit unsere Autonomie nicht erheblich ein. Das Problem dieser Argumentationsstrategie ist jedoch – wie Arash Abizadeh (2010) in seiner Auseinandersetzung mit David Miller (2010) zeigt –, dass demnach auch zahlreiche Grundfreiheiten wie etwa die Religions-, Meinungs- und die innerstaatliche Bewegungsfreiheit problemlos limitiert werden dürften, sofern Auswahlmöglichkeiten in „ausreichendem“ Maße verfügbar blieben. Das widerspräche jedoch der Unabhängigkeit („independence“), die Raz als dritte Bedingung personaler Autonomie anführt und auf die auch Angeli verweist (176). Kurzum: Autonomiebasierte Grundfreiheiten zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie nicht einfach durch demokratische Mehrheitsentscheidungen eingeschränkt werden dürfen. Die von Angeli vorgeschlagene Verwendung des „right to do wrong“ scheint aber eben jene autonomieerheblichen Eingriffe zu tolerieren.

Entweder müsste also gezeigt werden, dass eine „kompatibilistische Interpretation“ tatsächlich Bestand haben kann. Das scheint mir allerdings mit dem „right to do wrong“ unvereinbar zu sein. Oder es wäre darzulegen, weshalb die kollektive politische Selbstbestimmung – im Namen der individuellen Autonomie – den Vorzug vor dem Recht auf Einwanderung erhalten sollte.

Jan Brezger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsschwerpunkt Theorie und Ideengeschichte am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft. In seinem Promotionsvorhaben befasst er sich mit der Debatte um ein moralisches Recht auf Einwanderung/Ausschluss und versucht das liberale Argument für offene(re) Grenzen zu verteidigen.


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