theorieblog.de | Anreize als Form der Machtausübung: Lesenotiz zu Ruth Grant „Strings Attached“

3. September 2012, Voelsen

In dem sehr gut lesbaren Buch “Strings Attached. Untangling the Ethics of Incentives” diskutiert Ruth Grant Anreize bzw. Anreizstrukturen als eine Form der Machtausübung. Anreize begegnen uns im privaten und auch im öffentlichen Bereich sehr häufig; ein vieldiskutiertes aktuelles Beispiele ist das Betreuungsgeld, doch auch im akademischen Umfeld gibt es jede Menge Anreizstrukturen, höchstprominent die Exzellenzinitiative. In Abgrenzung zum weit verbreiteten Verständnis von Anreizen als Aushandlungsprozess schlägt Grant vor, Anreize als eine Form der Machtausübung zu verstehen, und definiert einen Anreiz als “an offer intentionally designed to alter the status quo by motivating a person to choose differently than he or she would likely choose in its absence” (43). Ausgehend von diesem Verständnis von Anreizen als Machtausübung diskutiert sie dann, inwiefern sich zwischen legitimen und illegitimen Arten von Anreizen unterscheiden lässt.

Als Grundlage für diese Diskussion wählt Grant dabei Kriterien, wie sie auch zur Bewertung anderer Formen der Machtausübung verwandt werden:

“Power is legitimate only to the extent that the parties involved are treated with human dignity, which is to say treated as beings capable of moral agency on account of their rationality and capacity for freedom. […] Somewhat more concretely, this means that acts of power can be judged by whether they serve a rationally defensible purpose, whether they allow for a voluntary response or are based on freely given consent, and whether they accord with with the requirements of moral character. These are the conceptual materials we can use to distinguish between legitimate and illegitimate incentives […]” (58)

Entscheidend ist für Grant dabei, dass es bei der Bewertung von Anreizen eben nicht nur um die Frage der Freiwilligkeit geht, sondern auch um die Frage des Zweckes der Anreize und um die Auswirkungen auf den Charakter der Betroffenen. Durch das Kriterium des Zwecks wird es möglich, gewisse Formen von Anreizen aus den gleichen normativen Gründen abzulehnen wie andere Formen der Machtausübung. Ein Beispiel hierfür ist etwa Bestechung, wenn diese als Anreiz dafür genutzt wird, öffentliche Ämter auf eine Weise auszuüben, die der Öffentlichkeit schadet. Vielleicht am kontroversesten ist das Kriterium der Auswirkung auf den Charakter der Betroffenen. Hierbei geht es Grant vor allem darum, in den Blick zu nehmen, wie sich Anreize als eine besondere Form der Machtausübung auf die Haltung der Betroffenen gegenüber ihrem sozialen Umfeld und die Motivation ihres Handelns auswirken: Bewirken Anreize zum Beispiel eine solidarische Haltung gegenüber anderen, oder fördern sie egoistisches Denken? Unterminieren sie möglicherweise altruistische Motive und intrinsische, nicht anreizgeleitete Interessen?

Grant verdeutlicht ihre Überlegungen im weiteren Verlauf durch vier Beispiele: (1) die amerikanische Gerichtspraxis des “plea bargaining”, (2) Zahlungen für Teilnehmer an medizinischen Versuchen, (3) die Praxis des internationalen Währungsfonds, die Zahlung von Krediten für Entwicklungsländer an Bedingungen zu knüpfen, (4) Anreize als Mittel, um Kindern zum Lernen zu motivieren. Diese Diskussionen sind spannend, weil sie zeigen, wie sich die konzeptionellen Überlegungen von Grant auf konkrete Fragen übertragen lassen. Auf den ersten Blick ein wenig enttäuschend bleiben sie dabei jedoch insofern, als Grant sich mit diesen vier Beispielen immer noch sehr große und vielfältige Phänomene ausgesucht hat und so auch nur zu eher allgemeinen Feststellungen kommen. So kann sie etwa am Beispiel der Zahlungen für Teilnehmer an medizinischen Tests sehr gut aufzeigen, welche Erwägungen bei der Beurteilung derartiger Zahlungen relevant sind – darüber hinaus muss sie dann aber mit der Feststellung enden, dass es letztlich natürlich immer auf die Details des einzelnen Falls ankommt. Lediglich im letzten Fall, der Anreizsteuerung als Mittel der Bildung und Erziehung von Kindern, kommt Grant zu eindeutigeren Ergebnissen: Zwar räumt sie ein, dass in eng beschränktem Maße solcherlei Anreize hilfreich sein könnten, grundsätzlich sieht sie diese jedoch hier eher als Problem: “They have been shown repeatedly to undermine motivation and performance, as well as to corrode character. We have seen them backfire. Moreover, there are inherent limits to their usefulness over the long term.” (122)

Als Leser hätte ich mir gewünscht, dass Grant auch die anderen Beispiele in ähnlicher Weise zugespitzt diskutiert hätte, was es wohl vor allem nötig gemacht hätte, sich auf noch spezifischere Formen von Anreizstrukturen zu konzentrieren. Letztlich ist hier Grant jedoch zugute zu halten, dass es erklärterweise nicht ihr Ziel ist, mit “Strings Attached. Untangling the Ethics of Incentives” alle substanziellen Fragen, die sich in der Diskussion um verschiedenste Formen von Anreizen stellen, zu beantworten. Stattdessen geht es ihr darum, einen konzeptionellen Rahmen – in Form der Kriterien legitimer Machtausübung durch Anreize – zu entwickeln, durch den es dann möglich wird, derartige Fragen systematisch zu beantworten. Und dies gelingt ihr nach meinem Empfinden in der Tat außerordentlich gut. Grant sagt uns nicht, was von Betreuungsgeld und Exzellenzinitiative zu halten ist, macht aber einen überzeugenden Vorschlag dazu, wie man über diese Formen politischer Machtausübung diskutieren kann.

Grant, Ruth 2012: Strings Attached. Untangling the Ethics of Incentives, Princeton University Press, Princeton NJ


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