Nekrolog auf Michael Th. Greven

In der Nacht nach seiner Abschiedsveranstaltung an der Universität Hamburg ist Michael Th. Greven am 7. Juli 2012 völlig überraschend im Alter von 65 Jahren verstorben. Zumal für diejenigen, die an dieser Veranstaltung mitgewirkt und teilgenommen haben, ist diese Koinzidenz unfaßlich, hatte sich der Jubilar doch von solch großem Engagement und Tatendurst gezeigt, wie man es von ihm seit jeher gewohnt war.

Nach seinem Studium an der Universität Bonn war Greven im Jahr 1973 ebenda von Karl Dietrich Bracher mit einer Kritik der kybernetischen Systemtheorie promoviert worden. Anschließend wechselte Greven als Assistent des Soziologen Frank Benseler nach Paderborn, wo er sich 1976 mit einer Arbeit zur Interdependenz von innerparteilicher Ordnung und Demokratie in der BRD habilitierte. Nach einer Gastprofessur in Ile-Ife (Nigeria) folgte 1978 der Ruf auf eine Professur für Soziologie in Marburg, von wo aus Greven 1991 auf eine Professur für Politische Theorie und Politische Soziologie an die TU Darmstadt wechselte. Vier Jahre später folgte er einem Ruf an die Universität seiner Heimat- und Lieblingsstadt Hamburg, zunächst für Regierungslehre und schließlich für Politische Theorie und Ideengeschichte. Dazwischen lagen Gastprofessuren in Neu-Delhi (1983) und Toronto (1997/1998) sowie sein Engagement an der Universität Leipzig im Zuge der Evaluierungs- und Umstrukturierungsmaßnahmen infolge der deutschen Wiedervereinigung in den Jahren 1990/1991.

In diesen rund 40 Jahren seines Wirkens hat Michael Greven politikwissenschaftliche, professionspolitische und staatsbürgerliche Aktivitäten zwar stets zu unterscheiden gewußt, aber gleichermaßen engagiert verfolgt. Symptomatisch hierfür war sein erfolgreiches Eintreten gegen die Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Hamburg an den russischen Präsidenten Wladimir Putin im Jahr 2004.

Über drei Jahrzehnte war Greven aktives Mitglied in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW), drei Jahre, von 1994-1997, sogar deren Vorsitzender, und zehn Jahre lang Mitglied der Ethikkommission der DVPW, davon fünf Jahre als deren Vorsitzender. Eng verbunden war er auch der Schader-Stiftung sowie der Humanistischen Union, der er seit Studienzeiten angehörte und in deren Organ »Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik« er regelmäßig publizierte.

Mit der Gründung der Buchreihen »Studien zur politischen Gesellschaft« im Springer VS-Verlag und »Politische Theorie« im LIT-Verlag hat Greven zur Verbesserung der zunehmend schwierigen Publikationsbedingungen des wissenschaftlichen Nachwuchses beigetragen, denn stets interessierten ihn Argumente mehr als Autoritäten.

Seine eigenen wissenschaftlichen Arbeiten waren geprägt vom Grenzgängertum zwischen den Teildisziplinen Politische Theorie, Regierungslehre und Politische Soziologie. Ein durchgängiges Anliegen war Greven dabei die Kritik am systemtheoretischen Funktionalismus, aber auch an einer normativistischen Verengung kritischer Gesellschaftstheorie, der er während seines Abschiedscolloquiums entgegenhielt, er halte es nicht mit Theorien, die »geistreich, aber wirklichkeitsarm« seien. Sein programmatischer Anspruch war vielmehr, Politikwissenschaft als »Wirklichkeitswissenschaft« zu betreiben, wie er es in seinem vielleicht zentralen, 1999 und in zweiter, ergänzter Auflage 2009 erschienenen Buch »Die politische Gesellschaft. Kontingenz und Dezision als Probleme des Regierens und der Demokratie« formuliert hat, für das er 2001 den Luigi-Sturzo-Sonderpreis des Premio Amalfi erhalten hat. Die zentrale These dieses Buches lautet, daß die moderne Gesellschaft infolge von Säkularisation und Pluralisierung eine Fundamentalpolitisierung erfahren hat, derzufolge es keine Alternative mehr zur Politik gibt, weil noch nicht gesetzlich geregelte Fragen nurmehr politisch durch Verhandlung, Einigung oder Autorität entschieden werden können. Dieser unvermeidliche Entscheidungszwang korreliert, Greven zufolge, mit der Kontingenz eben dieser Entscheidungen, denn wenn alles entscheidbar ist, müssen auch Nichtentscheidungen verantwortet werden. Auf diese Weise sind »Kontingenz und Dezision als Probleme des Regierens und der Demokratie« zu verstehen, basiert jene doch auf der Zurechenbarkeit von Entscheidungen. Diese aber sah Greven zunehmend erodieren, und mit ihr die Motivation zum unabdingbaren Eintreten für die Demokratie und die hinreichende Aufmerksamkeit für ihre Bedrohungen. So wenig Greven Politikwissenschaft auf Demokratiewissenschaft reduziert sehen wollte, so wichtig war ihm die Demokratie als essentielle Voraussetzung einer lebenswerten politischen Realität und also auch einer freien Politikwissenschaft.

Folgerichtig reflektierte Greven in seinen letzten Büchern auf die Bedingungen politischen Denkens in einer Verbindung aus Politischer Soziologie und Politischer Theorie; zunächst in seinem Buch »Politisches Denken in Deutschland nach 1945. Erfahrung und Umgang mit der Kontingenz in der unmittelbaren Nachkriegszeit« (Opladen/Farmington Hills 2007), das zum Teil unbekanntere politische Denker in ihrer realgeschichtlichen Signifikanz verortete, und sodann in seiner Analyse von »Kontingenz, Ideologie und Utopie im politischen Denken der 1960er Jahre«, das unter dem Titel »Systemopposition« im vergangenen Jahr, ebenfalls im Verlag Barbara Budrich, erschienen ist. Darin belegt Greven auf der Basis einer luziden Analyse des gesamten Schrifttums der damaligen systemoppositionellen Bewegungen, daß alle wesentlichen ideologischen und strukturellen Merkmale derselben mitnichten erst in dem solchermaßen als »Mythos« entlarvten Jahr 1968 kulminierten, sondern bis in die frühen 1960er Jahre zurückreichten. Hierin sieht Greven ein historisches Datum insofern, als er solche Systemopposition für nicht mehr möglich hält, weil sie von der unrealistisch gewordenen Vorstellung zehrt, es gebe eine hierarchische, relativ autonome politische Machtzentrale, deren Funktionen übernommen werden und zur Umgestaltung aller Verhältnisse genutzt werden könnten.

In allen seinen Aktivitäten war Michael Greven von beeindruckender Toleranz, Vorurteilsfreiheit und Kritikfähigkeit, was wissenschaftliche und politische Positionen betraf. Ausgeprägt war sein Gerechtigkeitsempfinden, wobei er nichts für gerechter hielt als Leistungskriterien. Im unbestechlichen, konsequenten Eintreten für seine Überzeugungen neigte er gelegentlich zu einer Härte, wie sie empfindsamen Menschen zueigen sein kann. Für diese Widersprüchlichkeit hat sein Freund Hans-Peter Müller die treffliche Formel vom »herzensweichen Dickkopf« gefunden.

Als er sich am Ende seiner Abschiedsveranstaltung bei den Anwesenden bedankte, kurzerhand auf einen Stuhl kletternd, um die große Schar seiner Schüler(innen), Kolleg(inn)en und Freunde zu überblicken, lauteten Grevens letzte öffentliche Worte, nun er freue sich auf sein Doktorandencolloquium am kommenden Morgen (einem Samstag!) und er sei glücklich. So unauslöschlich diese Erinnerung für die Anwesenden bleiben wird, so unvergeßlich wird Michael Th. Greven auch für alle anderen Politikwissenschaftler(innen) bleiben: dank seines Werkes, seiner Haltung und als mahnender Analytiker aller Gefährdungen der Demokratie. Beeindruckenderweise finden sich alle diese Aspekte seines Vermächtnisses bereits im letzten, den Mythos von Sisyphos apostrophierenden Satz seines Buches »Systemopposition«, so daß man sein politikwissenschaftliches Fortleben damit beginnen lassen kann, daß man Michael Th. Greven selbst das letzte Wort seines Nekrologs gibt: »Wie jener den von den Göttern auferlegten Felsen immer wieder den Berg hinaufrollt, ohne ihn jemals auf den Gipfel zu bringen, so sind heute diejenigen, die im Wissen um die Vergeblichkeit der Verwirklichung von wahrer Demokratie und endgültiger Gerechtigkeit an ihrem Engagement für beides nicht verzweifeln, politisch ›glücklich‹ zu nennen.«

Karsten Fischer ist Professor für Politische Theorie am Geschwister-Scholl-Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München. Dieser Nachruf erscheint auch in der nächsten Ausgabe der ZPTH.