theorieblog.de | Zwischen »hauchdünnem« Vertragstheoretiker und den Briefen vom Berg: Die Theoriesektion diskutiert Rousseau

10. Juli 2012, Volk

Pünktlich zum 300. Geburtstag von Jean-Jacques Rousseau widmete die Sektion für politische Theorie ihre Jahrestagung dem Genfer Philosophen. Die Tagung wurde von Sandra Seubert in Frankfurt organisiert und sollte nach der Aktualität des Rousseauschen Denkens fragen.

Den Auftakt machte die Veranstalterin selbst. Gleich eingangs wies sie auf die Vorbehalte hin, denen Rousseaus politisches Denken in der deutschen Nachkriegszeit ausgesetzt war. Als „Apostel des Anti-Pluralismus“ (Ernst Fraenkel) reihte man ihn in eine vermeintliche Traditionslinie mit Platon, Marx und Lenin ein. So wurde Rousseau in der Nachkriegszeit zum Rousseau Carl Schmitts. Gegen das Label vom demokratischen Totalitarismus verwies Seubert darauf, dass ab den 60er Jahren von Frankfurt ausgehend mit Iring Fetscher und Ingeborg Maus eine Gegenlesart vorgeschlagen wurde, die die „uneingelösten Versprechen der Freiheit, Gleichheit und Gemeinschaftlichkeit“ des Rousseauschen Denkens ins Zentrum rückte. In einer Zeit nun, in der Entpolitisierung und Postdemokratie den „Horizont der Gegenwart“ (Gadamer) bilden, erlange besagte Trias aus Freiheit, Gleichheit und Gemeinschaftlichkeit eine neue Aktualität.

Karlfriedrich Herb, einer der profiliertesten deutschsprachigen Rousseau-Exegeten, schlug in einem fesselnden Vortrag skeptischere Töne an. Die von Seubert stark gemachte rechtebasierende Lesart relativierte Herb. Rousseaus Republikanismus und sein Kontraktualismus stünden im Widerspruch zueinander. Rousseau könne allenfalls als „hauchdünner Vertragstheoretiker“ durchgehen. Das lasse sich ganz exemplarisch an der Bedeutung erkennen, die Rousseau dem Feiern von Festen als Ausdruck einer lebendigen Öffentlichkeit beimisst. Musik und Tanz seien nach Rousseau der Motor gesellschaftlicher Einheitsbildung – und nicht Deliberation oder die Anerkennung als gleiche Rechtssubjekte. Entsprechend gestand Herb auch zu, dass Rousseau weit eher als Kritiker, denn als konstruktiver Ideengeber für den Um- und Neubau moderner Demokratien tauge.

Robin Celikates hingegen hielt sich bei der Werkexegese nicht lange auf. Er versuchte von Beginn an Rousseau systematisch für aktuelle Debatten der politischen Philosophie fruchtbar zu machen. Im Anschluss an eine Unterscheidung John Simmons charakterisierte Celikates Rousseau im Hinblick auf das Problem politischer Verpflichtungen als einen Anarchisten a posteriori. Für diese Charakterisierung spreche, dass man Rousseau zufolge ausschließlich jenen Gesetzen verpflichtet sei, denen man auch aktiv zugestimmt habe. Politische Verpflichtungen seien insofern zwar möglich, aber in der Realität wenig wahrscheinlich. Zugleich meinte Celikates bei Rousseau ein radikaldemokratisches Moment erkennen zu können und begründete diese Ansicht damit, dass bei Rousseau der Souverän jederzeit das Recht habe, die Regierung abzusetzen. Zwar kenne Rousseau kein Widerstandsrecht; doch vor dem Hintergrund dieses radikaldemokratischen Moments ließe sich argumentieren, dass ziviler Ungehorsam durchaus in Rousseaus Sinne hätte sein müssen.

Den Abschluss eines inspirierenden ersten Konferenztages setzte Fred Neuhouser mit seinen jüngst in deutscher Sprache erschienenen Überlegungen zu Rousseau und der pathologischen Gesellschaft.

 

Der Vormittag des zweites Tages verbrachte man mit genauem Hinsehen: Christopher Bertram sezierte den Begriff des Gemeinwillens bei Rousseau. Dabei unterschied er zwischen dem Gemeinwillen als Entscheidung eines souveränen Volkes und dem Gemeinwille als transzendentales Ideal, das in legislativen Akten zum Ausdruck komme oder eben nicht, und machte auf die Spannungen zwischen beiden Konzeptionen aufmerksam. Blaise Bachofen erklärte der Zuhörerschaft den Unterschied zwischen Privatinteresse, Gemeininteresse, Individualinteresse und dem Interesse des Citoyen bei Rousseau. Ziel von Bachofens Ausführungen war es, zu zeigen, dass zwischen Individuum und Gemeinschaft keine Opferbeziehung bestehe, in der das Individuum seine Einzigartigkeit aufgebe. Wenn der Einzelne dazu beitrage, den Gemeinwillen innerhalb einer politischen Einheit auszubilden, dann verfolge er sehr wohl auch sein eigenes Interesse. Aus diesem Grund sei auch Rousseaus Gemeininteresse keine leere Fiktion.

Rousseau weniger von den politischen Schriften als von seine pädagogischen Ausführungen her lesend arbeitete Micha Brumlik die Spannung zwischen den beiden erziehungstheoretischen Paradigmen heraus, die Rousseaus Programm untergründig bestimmen. Während Rousseau über weite Strecken im Emil ein individualistisches Erziehungsprogramm entwerfe, müssten seine Überlegungen als Politikberater für Polen und Korsika als „Blaupause für alle Programme einer doktrinären Nationalerziehung“ gelten. Hier trete die Erziehung ganz in den Dienst der Herausbildung von tugendhaften Staatsbürgern und weise eine unangenehme Nähe zu Fichtes Reden an die deutsche Nation auf. Im Gegensatz dazu stehe im Emil die Ausbildung menschlicher Individualität im Zentrum.

Axel Honneth folgte in seinem Vortrag Neuhousers These und wies Rousseaus Überlegungen zur Amour-propre als ersten und wichtigen Schritt für den Entwurf einer Theorie der Anerkennung aus – jedoch mit Abstrichen. Denn obschon Rousseau in seinen Überlegungen zur Amour-propre erkenne, dass der einzelne seine Handlungsfähigkeit intersubjektiver Anerkennung verdanke, so ist es gleichzeitig das Zusammenleben innerhalb einer bürgerlichen Gesellschaft als solcher, das von Rousseau im Gegenzug als zentrale Gefährdung individueller Handlungsfähigkeit gebrandmarkt werde.

Nach der Mittagspause teilte sich die Konferenz in zwei Panels. Während Maik Herold, Ahmet Cavuldak und Oliver Hidalgo  zu dem Themenkomplex Politik und Religion bei Rousseau sprachen, referierten Frederike Kuster, Magdalena Scherl und Karina Korecky über Natur, Begehren und die Politik des Privaten im Werk des Jubilars. Der Austausch mit dem sehr sachkundigen Publikum war dabei gerade beim Religionspanel ausgesprochen lebhaft.

Den Abschluss der Tagung bildeten die Vorträge von Chiara Bottici und Nadia Urbinati. Bottici klärte die Zuhörerschaft mit Rousseau über unsere (empfundene) Isolation beim Spektakel auf; Urbinati vertrat die These, dass Rousseaus Kritik an der politischen Repräsentation keineswegs im Dienste der demokratischen Partizipation der Bürger formuliert sei. Denn an der konkreten Gesetzgebung sollen besagte Bürger ja gar nicht beteiligt werden. Mit seinen Hinweisen auf die individuellen Talente, die man für eine gute Gesetzgebung benötige und die nur wenige überhaupt besäßen, könne Rousseau (fast schon) als elitärer Demokratietheoretiker Schumpeterscher Fasson gelten.

 

Die Gesamtanlage der Konferenz reflektierend muss man feststellen, dass ein deutlicher Fokus auf die prominenten Vortragenden gelegt wurde. Ein derartiges Line-up mag eine gewisse Anziehungskraft haben, warf aber während der einen oder anderen Kaffeepause auch kritische Fragen nach dem Modus der Zusammenstellung des Programms und dem recht extensiv gewährten Rederecht für die Großkopferten auf. Diskutiert wurde zudem, ob es denn wirklich sinnvoll sei, eine ganze Sektionstagung einem einzigen politischen Denker bzw. einer einzigen politischen Denkerin zu widmen. Denn spätestens dann, wenn es um die adäquate Lesart der Briefe vom Berg ging, waren die Rousseau-Exegeten doch weitgehend unter sich. Ein Mehr an Diskussion und dadurch auch ein Mehr an Aktualität mit Blick auf die Ambivalenzen Rousseaus wäre sicher möglich gewesen.

 


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