theorieblog.de | Etwas Hegel für den Hedge-Fond, oder: was haben die Korporationen mit der Transaktionssteuer zu tun?

25. Juni 2012, Herzog

Wird es einer neuen Steuer gelingen, dass die Finanzmärkte (wieder?) der Gesellschaft dienen? Die Debatte um die Finanz-Transaktionssteuer ist wieder da, auch wenn der Gegenwind von Seiten der Ökonomie heftig bläst. „Wenn man die Finanzmärkte irgendwie in den Griff kriegen will, dann muss man sie regulieren und nicht besteuern“, äußerte zum Beispiel Thomas Straubhaar vor einiger Zeit. Allerdings ist auch eine Steuer eine Form von Regulierung. Sie verändert Anreize, indem sie bestimmte Handlungsoptionen verteuert. Straubhaars eigener Vorschlag, großen Banken höheres Eigenkapital abzuverlangen, verändert andere Kosten, an anderer Stelle. Die Stellschrauben im Rahmenwerk der Finanzmärkte sollen verändert werden – der Streit geht darum, welche Schrauben am effektivsten sind.

Beide Vorschläge stammen aus dem Instrumentenkasten der Ökonomie, jener Wissenschaft, die Hegel im frühen 19. Jahrhundert als die Suche nach dem „Scheinen der Vernünftigkeit“ in der „Masse von Zufälligkeiten“ beschrieb. Man spürt sein Staunen darüber, dass überhaupt irgendeine Ordnung im freien Markt erkennbar sein solle, in dem die Individuen frei entscheiden können, was sie tun und lassen wollen. Wie können in jenem Reich der „subjektiven Freiheit“ überhaupt allgemeine Gesetze sichtbar werden?

Hegel vergleicht die Ökonomie mit der Astronomie. Die Ökonomie findet Gesetze in der „Masse von Zufälligkeiten“, indem sie die Akteure im Markt wie Körper in einem physikalischen System beschreibt, auf die eine überschaubare Zahl an Kräften wirkt. Ihre Präferenzen werden als gegeben betrachtet und auf wenige Prinzipien reduziert. Die heutigen Erben der klassischen Ökonomie, die Theoretiker der „rational choice“-Schule hantieren mit „Nutzenfunktionen“, die in der Regel eine sehr begrenzte Zahl an Variablen enthalten. Denn sonst bewegt man sich wieder hin zu Hegels „Masse von Zufälligkeiten“ – die Modelle laufen Gefahr, unübersichtlich zu werden. Besser, man hält so viel wie möglich konstant.

Mit dieser Methodik geht ein bestimmtes Modell von Verhaltenssteuerung einher. Was in den Menschen vor sich geht, wird als gegeben betrachtet, also muss das Rahmenwerk sich ändern, wenn am Ende ein anderes Ergebnis stehen soll. Damit sind wir zurück bei der Debatte Transaktionssteuer oder Eigenkapitalerhöhung: der Rahmen muss sich ändern, nur wie? Davon abgesehen, dass die beiden Instrumente sich überhaupt nicht ausschließen: Das Bild gleicht dem jener Flipperautomaten, in denen Kügelchen von äußeren Hindernissen in eine bestimmte Richtung gelenkt werden. Oder, um eine Metapher zu verwenden, die schon im 18. Jahrhundert von Denkern wie Daniel Defoe oder Adam Smith verwendet wurde: durch die richtigen Staudämme muss das Wasser dahingeleitet werden, wo es zum Wohle der Gesellschaft hin soll.

So weit, so gut – die partielle Gültigkeit dieses Denkmodells soll gar nicht bestritten werden. Aber der Schönheitsfehler liegt darin, dass dieses Bild uns alle schizophren macht und in zwei verschiedene Persönlichkeiten aufteilt. Denn in einer Demokratie sind die Individuen, die reguliert werden sollen, und diejenigen, die die Regeln setzen, eigentlich identisch. Aber: als Person, die innerhalb der Regeln agiert, darf jeder gerne seinen Nutzen maximieren. Als Personen dagegen, die die Regeln setzen, soll man, bitteschön, das Gemeinwohl im Blick haben. Es passt gut in dieses Denken, dass politische Wahlen in vielen Ländern an Sonntagen stattfinden. Am Wochenende kann ich nachdenken über die Gesellschaft und meine Rolle in ihr, und mache gelegentlich mein Kreuzchen bei einer Wahl, natürlich in bestem staatsbürgerlichem Ethos. Unter der Woche dagegen bin ich ein Rädchen in der ökonomischen Maschine und verfolge gnadenlos meine wirtschaftlichen Interessen. Nur: ein politisches Ethos entsteht nicht von selbst. Es braucht Zeit, sich zu entwickeln, und vielleicht braucht es auch so etwas wie eine praktische Einübung. Dass wir alle gut Rousseau’sche „citoyens“ sind, aber nur am Wochenende, ist ein psychologisch wie soziologisch unplausibles Bild.

Hier lohnt sich der Blick zurück auf Hegel, und insbesondere die Ausführungen zur „bürgerlichen Gesellschaft“ in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts. Auch Hegel erkannte die Notwendigkeit einer guten Rahmenordnung, die die richtigen Anreize setzt – dafür ist bei ihm die Institution der „Polizei“ zuständig. Aber er sah darüber hinaus, dass die Ökonomie eine wesentliche Frage unbeantwortet lässt: woher kommen eigentlich die konkreten Präferenzen der Individuen? Um diese Frage zu beantworten, setzt Hegel die Brille des Soziologen auf – und sieht, dass es das soziale Umfeld ist, das die Menschen prägt. Insbesondere der soziale Raum, in dem sie ihre tägliche Arbeit verrichten, hat großen Einfluss auf ihren Charakter. Hier sieht Hegel den zweiten Ansatzpunkt für die Domestizierung des Marktes, den er im seinem Begriff der „Korporationen“ fasst, der Vereinigungen derjenigen, die im gleichen Beruf arbeiten. Strukturell sind es die Orte, an denen die wirtschaftlichen Präferenzen der Menschen gebildet werden – dort treffen sie auf diejenigen, die an ähnlichen Dingen arbeiten, erhalten Anerkennung für ihre Leistung, und können sich in der Selbstverwaltung engagieren. Der Clou an Hegels Vorstellung ist, dass dort der Samen gelegt wird für das staatsbürgerliche Ethos: in der gegenseitigen Unterstützung und der Einigung auf gemeinsame Ziele lernen die Einzelnen, was es heißt, mit anderen zu leben und gemeinsam über die Regeln des Zusammenlebens nachzudenken.

Herrscht im beruflichen Miteinander nicht schon ein gewisses Ethos vor, dann kann sich staatsbürgerliches Ethos kaum entwickeln. Und: den Markt „in den Griff“ zu kriegen ist für Hegel – und Denker in seiner Nachfolge, z.B. Emil Durkheim oder jüngst Axel Honneth –ohne diese zweite Säule undenkbar. Beides ist nötig: die „Polizei“, die mitsamt der Rechtsprechung den äußerlichen Rahmen bereitstellt, und die „Korporationen“, die die Wirtschaftsbürger darin anleiten, über ihre individuellen Egoismen hinauszuwachsen.

Die Frage nach derartigen Vereinigungen und dem in ihnen herrschenden beruflichen Ethos scheint heute relevanter denn je. Aufgrund ihrer Bedeutung für die gesamte wirtschaftliche Entwicklung muss sich besonders die Finanzbranche gefallen lassen, dass diese Frage an sie gestellt wird. Die Berichte Betroffener – zuletzt der spektakuläre Abschiedsbrief Greg Smiths an Goldman Sachs, aber auch sozialwissenschaftliche Untersuchungen (z.B. hier) – zeichnen ein ziemlich düsteres Bild vom dort herrschenden Ethos. Wenn es stimmt, dass zur Bändigung des Marktes immer beides nötig ist, die externe Kontrolle und die Mentalität der in ihm Tätigen, müssen Veränderungen auch hier ansetzen.

Wäre es denkbar, dass hier ein Kulturwandel einsetzt, und – wieder? – ein Ethos entsteht, das sich im Dienste der Gesellschaft sieht? Eines, in dem sich Anerkennung nicht nach der Höhe der eigenen Boni, sondern am Mehrwert für die Gesellschaft bemisst? In der Pflicht sind diejenigen, die in der jeweiligen Branche Verantwortung tragen, die als Vorbilder fungieren, über Karrieren entscheiden und das Klima in den Unternehmen prägen. Sie haben die Möglichkeit, langfristig etwas zu verändern. Denn klar ist auch: die Kulturen, die in Firmen und Branchen vorherrschen, ändern sich nicht von heute auf morgen. Aber das ist kein Grund, nicht auf Veränderungen zu pochen – ganz im Gegenteil!

 

Lisa Herzog ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich der Philosophie der Universität St. Gallen. Im September 2011 hat sie ihre Promotion mit dem Titel „Inventing the Market – Smith, Hegel and Political Theory“ an der Universität Oxford abgeschlossen.


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