theorieblog.de | Wilde Geschichten von Wassertrinkern. Oder: Die Flaschen bei der „Zeit“

29. Mai 2012, Hausteiner

In den letzen Tagen sind in der „Zeit“ bzw. auf „Zeit Online“ zwei Kommentare zum Gebaren deutscher PolitikwissenschaftsstudentInnen erschienen –  der Standpunkt einer Dozentin und die Reaktion eines Absolventen –, die erschreckend pauschalisierende Bilder von der Universität zeichnen und dabei an den eigentlich interessanten Fragestellungen vorbeischlittern, wie etwa: Was kann ein Studium der Politikwissenschaft bieten, und was nicht? Wie können DozentInnen den diversen Studienmotivationen gerecht werden? Und braucht Politikwissenschaft Theoriearbeit?

Christiane Florin, Lehrbeauftragte für Medienpolitik an der Uni Bonn, daneben aber offenbar auch Redaktionsleiterin von „Christ und Welt“, richtet ihr Minimanifest „an alle Wassertrinker“, denn bei jedem neuen Betreten eines Hörsaals erkennt sie die Studentenschaft – bei ihr stets eine undifferenzierte Masse –  an mitgebrachten Wasserflaschen, die für den Mangel an kritischem Interesse und Diskussionswillen stehen sollen: „Ihr aber trinkt über alle autoritären und totalitären Regime, über alle parlamentarischen, semipräsidentiellen und präsidentiellen Systeme hinweg.“ (Das war natürlich in den 1960ern, als in Frankfurter Hörsälen zwar offenbar  niemand trank, aber jeder rauchte, etwas völlig anderes.) Statt Wasser-, sollten die Studierenden lieber Wissensdurst beweisen, aber stattdessen sieht Florin all überall nur Passivität, Interesselosigkeit, instrumentelle Fokussiertheit auf Prüfungen. Ihre beißend-schräge Fundamentalkritik („Ihr unterwerft euch einem 3-Liter-Wasser-am-Tag-Diktatürchen“) kleidet sie in ein vergiftetes Kompliment: Die Studierenden von heute hätten einfach einen anderen Politikbegriff – obgleich der doch sehr unpolitisch sei. Denn ihnen gehe es allein um sich selbst, um „Körperfeeling“, Nachempfindbarkeit politischer Ereignisse, schnell konsumierbare Erlebnispädagogik. Infantile Knechte der eigenen Selbstbezogenheit, hängengeblieben in der oralen Phase – so ist also der Student oder die Studentin von heute; kein politisches Interesse, keine ethische Ambition, schon gar kein theoretisches Abstraktionsvermögen. Diese immer gleichen Litaneien über die Verkommenheit der Jugend waren schon bei Platon nicht originell.
Florins Pauschalisierungs- und Beleidigungspamphlet blieb in der „Zeit“ nicht ohne Reaktion, doch die einzige „offizielle“ Replik stammt – als wäre sie von Florin selbst zur Untermauerung des eigenen Standpunkts geordert – von einem jungen B.A.-Absolventen, der sich tunlichst bemüht, die vorangegangene Dekadenz-Jeremiade zu bestätigen. Unter der konzisen Überschrift „Politikwissenschaft ist Mist“ schreibt Julian Kirchherr denn auch: „Wir wollen in unseren Seminaren endlich etwas Nützliches lernen. Aber Sie bringen uns nichts Nützliches bei. Das Studium der Politikwissenschaft ist für uns ein Mittel zum Zweck. Wir erwarten, dass die Dozenten uns die Werkzeuge an die Hand geben, die wir brauchen, um etwas zu bewirken: Als Entwicklungshelfer in Mali, Freelancer bei Spiegel Online oder auch als Berater bei McKinsey. Das sind unsere Träume […].“ Zu trocken und theoretisch, lautet daher Kirchherrs Vorwurf an die akademische Politikwissenschaft. Statt ständig über Weber und Adorno diskutieren zu müssen, will er Budgetierung, Controlling und Ökonometrie erlernen, oder besser gleich im „Anzapfen“ von EU-Fördergeldern geschult werden… Kann man sich einen Studenten vorstellen, der die Lektüre von „Wissenschaft als Beruf“ oder der „Dialektik der Aufklärung“ je bitterer nötig gehabt hätte?
Auf dieses Scheingefecht sollte man sich aber nicht einlassen, zumindest jedenfalls dabei nicht mit den gleichen, blamablen Waffen kämpfen: Kirchherr ist glücklicherweise nicht kompetent, für oder über die Studierenden der Politikwissenschaft insgesamt zu sprechen, ebenso wenig aber wie Florin, die mit ihrer resignierten und gleichzeitig herablassenden Haltung übrigens auch für die Politikdozentenschaft nicht eben repräsentativ ist. Es versteht sich von selbst, dass die Motivationen und Ziele von Studierenden so divers sind wie ihre Träger.
Manchen Motivationen und Wünschen kann ein Studium der Politikwissenschaft gerecht werden, anderen möglicherweise nicht. Wer ausschließlich die Vermittlung praxistauglichen Lösungswissens sucht wie Kirchherr, wird mit einem zu guten Teilen geisteswissenschaftlich geprägten Studiengang nicht froh werden: Als Kompositfach unterschiedlicher Teildisziplinen vermittelt die Politikwissenschaft immer auch theoretische Grundlagen und ideengeschichtliche Kontextualisierungen; ein geistes- oder sozialwissenschaftliches Studium zielt für gewöhnlich darüber hinaus darauf ab, nicht nur Buchwissen, sondern gerade Abstraktionsvermögen und analytische Fähigkeiten zu fördern (wie sie übrigens wohl selbst bei McKinsey gern gesehen werden). Am Ende eines akademischen Studiums, so das immer noch hochgehaltene Bildungsideal, soll neben Fachwissen auch kritisches Denkvermögen stehen – diesem Aspekt sieht sich insbesondere die Politische Theorie verpflichtet.
Dieses Ideal – Kanzlersukzessionen auswendig kennen, leidenschaftlich Theorie betreiben und dazu noch politische Ideale pflegen –  hält Christiane Florin hoch und vertritt es als einzig Sinnvolles; sie vermutet hinter mühsamem Auswendiglernen und stockenden Diskussionen nicht nur pragmatische Karrieristen wie Kirchherr, sondern begeisterungsunfähige Spätpubertierende, die die Relevanz des Fachs nicht begreifen und eigentlich keinerlei Wünsche und Interessen an die Politikwissenschaft richten.

Solche Studierenden mag es geben; manche von ihnen werden ihr Studium vielleicht nicht abschließen, andere nach dem B.A. ein Fach wählen, das ihren Interessen entspricht – diese Flexibilität für Spätentscheider hat das gestaffelte System dem alten Magister vielleicht voraus. Dass Florin einer ganzen Studierendengeneration das Interesse an Politik, ja sogar das Verständnis für ihre Relevanz abspricht, ist abstrus: Heute wie vor Jahrzehnten gibt es allerorts Studenten, die politisch engagiert sind, Studentinnen, die theoretisch den Bedingungen politischen Handelns auf den Grund gehen wollen – und eben auch solche, die von der Politikwissenschaft Anderes, vielleicht Pragmatischeres, oder auch gar nichts erwarten. Kann es die Aufgabe der Lehrenden sein, öffentlich abzuurteilen und mit zweifelhafter Metaphorik und pauschalisierendem Pathos zu verunglimpfen? Ich denke, dass es sich stattdessen lohnen könnte, bei aller Widrigkeit des Bolognasystems, trotz überfüllter Seminare und vielleicht auch gelegentlich desillusionierender Erfahrungen, das Fach Politikwissenschaften gemäß seinem Potential zu vermitteln: Als sehr diverse Disziplin unterschiedlicher Methoden, Theorien und Wissensreserven, die dadurch in der Lage ist, unterschiedliche Studieninteressen zu fördern und ihnen eine Grundlage zu geben für ganz unterschiedliche Bildungs- und Karrierewünsche.

 


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