theorieblog.de | Gegen die Verzweiflung anzudenken ist eine Verpflichtung – Habermas und der Marxismus

13. April 2012, Förster

Es war eine eigentümliche Tagung, die Smail Rapic vom Philosophischen Seminar der Bergischen Universität Wuppertal vom 23. – 25. März konzipiert hat. Schon das Tagungsthema Habermas und der Historische Materialismus leuchtet nicht unmittelbar ein, wenn man an das Werk von Habermas denkt. Das ließ Habermas lange zögern, die Teilnahme zuzusagen. Diese Teilnahme war gleichsam die zweite Eigentümlichkeit: Er wohne seiner Historisierung bei, ja, das Konzept der Tagung dränge ihn in die Rolle der Selbsthistorisierung, was für ihn das Schlimmste sei. Er wolle lieber etwas lernen und über gesellschaftliche Probleme diskutieren.

Die Veranstalter beabsichtigten keineswegs die Historisierung, sondern gingen im Lichte der gegenwärtigen Systemkrise des Kapitalismus von der Aktualität der Marxschen Kapitalismuskritik aus. Allerdings erwies es sich als äußerst schwierig, sich über das Verhältnis von Habermas zum Marxismus zu verständigen. Trotz der Kritik am zügellosen Finanzkapitalismus fühlte sich Habermas in der ihm zugewiesenen Rolle des Ideologiekritikers sichtlich unwohl. Rapic fragte ihn nach der Möglichkeit eines dritten Weges und darauf, dass die Ökonomisch-Philosophischen Manuskripte von Marx mit der dort entfalteten Idee der Vergesellschaftung eine Alternative zur Verstaatlichung und zum Neoliberalismus bereitstellen würde. Dies könne, so Habermas, durchaus sein, aber die Politik des dritten Weges in all ihren Varianten sei wohl endgültig gescheitert. Und er glaube, dass es gut Gründe dafür gibt, dass heute keine soziale Bewegung Forderungen dieser Art erhebe. Die heutige Situation der globalisierten Welt sei so komplex, dass jeder Gedanke an Revolution a priori versage. Es lasse sich höchstens eine Ausbalancierung des unauflöslichen Spannungsverhältnisses von Demokratie und Kapitalismus erreichen. Deshalb hätte bereits 1973 von „Legitimationskrisen im Kapitalismus“ gesprochen. Ob die Regulierung gelinge, sei überhaupt noch nicht ausgemacht.

Rapic stilisierte Habermas in seinem Vortrag Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus zu einem lupenreinen Ideologiekritiker und wies darauf hin, dass das politische Potenzial der Marxschen Frühschriften noch nicht ausgeschöpft sei. Habermas kommentierte, er habe das Konzept bereits in den frühen siebziger Jahren durch das Konzept der Rekonstruktion ersetzt. Allerdings räume er ein, dass Ideologien immer noch wirkmächtig seien. Nur bezüglich der aufklärerischen Effekte der Ideologiekritik sei er skeptisch. Bewusstmachung durch Selbstreflexion sei nicht mehr der erste Schritt der Emanzipation, da die Menschen die neoliberale Maxime Margaret Thatchers TINA (There is no Alternative) so verinnerlicht hätten, sei ihr Bewusstsein zynisch geworden. Aufgeklärtheit und Apathie seien unlösbar miteinander verschweißt.

Das motivierte Stefan Müller-Doohm in seinem Vortrag Die Zivilisierung des globalen Kapitalismus und die Zukunft Europas zu der Frage, was das konkret bedeute. Wäre es beispielsweise vorstellbar, dass die hypnotische Fixierung auf das Wachstumsdogma und Akkumulationsmechanismus überwindbar sei. Berge die Zügelung der Märkte nicht die Gefahr eines technokratischen Etatismus? Habermas bemerkte, dass Müller-Doohm auf den öffentlichen Intellektuellen rekurriere und seinen Reformismus ausgebreitet hätte. In der Praxis vertrete er eine optimistische Haltung, nicht aber in der Theorie. Hier sei er eher pessimistisch, was die Erreichbarkeit der Ziele anginge. In dieser Haltung folge er dem Vorbild Kants. Georg Lohmann ging in seinem Vortrag Ernüchterte Geschichtsphilosophie, der im Kern an seinen frühen Aufsatz Kritische Gesellschaftstheorie ohne Geschichtsphilosophie? (1998) anknüpft, dieser Haltung nach. Lohmann vertrat die These, dass diese Haltung das Resultat einer philosophischen Ernüchterung sei, die sich nach dem jugendlichen Rausch seiner Dissertation Das Absolute in der Geschichte einstellte. Allerdings sei es Habermas nicht restlos gelungen, den geschichtsphilosophischen Ballast abzuwerfen. Habermas’ ganzes Nachdenken über die Geschichte sei ein Nachhall der frühen Beschäftigung mit der Geschichtsphilosophie Schellings und speise sich aus zwei Quellen: Benjamin und Kant. Somit besitze seine uneingestandene Geschichtsphilosophie messianische Wurzeln. Habermas stimmte dem zu, müsse aber nochmals nachlesen, ob er das alles gedacht hätte. Sicher sei jedoch, dass er es nicht nur als ein Motiv, sondern als eine Verpflichtung betrachte, gegen die Verzweiflung anzudenken, da ansonsten jegliches Handeln unmöglich würde. Mit dieser Bezugnahme auf die Hoffnung um der Hoffnungslosen willen Benjamins wendet Habermas sich implizit gegen die Absage an jeden Pragmatismus, die Horkheimer 1946 formulierte: „Die Hoffnung der Vernunft liegt in der Emanzipation von ihrer eigenen Furcht vor der Verzweiflung.“ (Horkheimer 1985: Gesammelte Schriften, Bd. 12, S. 118). Nebenbei bemerkte Habermas, dass für ihn der griechischen Ethik im Vergleich zum jüdischen Messianismus der Stachel fehle.

Ingo Elbe untersuchte in seinem Beitrag Habermas’ Kritik des Produktionsparadigmas die Marx-Rezeption Habermas’, um ihm ein mangelhaftes Verständnis der Marxschen Kategorie der abstrakten Arbeit nachzuweisen. Habermas naturalisiere Marx, da er den Arbeitsbegriff auf die konkrete Arbeit, den Stoffwechsel mit der Natur, reduziert habe. Damit sei das Wertgesetz der abstrakten Arbeit als einer symbolischen Interaktionform der Herrschaft verschleiert. Habermas erweise sich mit der dualistischen Unterscheidung von System und Lebenswelt, der Rede von der Kolonialisierung der Lebenswelt und mit der Annahme, dass Geld ein neutrales Medium sei, als Ideologe der herrschenden Verhältnisse. Leider verspielte Elbe durch die Art seiner Kritik eine fruchtbare Diskussion über spannende Probleme: Inwieweit ist der Dualismus von System und Lebenswelt für eine kritische Gesellschaftstheorie befriedigend? Inwiefern beeinflusst die Wahl der Begriffe den Blick auf den Gegenstand? Wie lässt sich die Annahme von der Alternativlosigkeit der kapitalistischen Produktionsweise verstehen und begründen? Elbe wurde leider nur als Vertreter der Marx-Orthodoxie abgekanzelt, der die Kontexte der Kritik ignoriere. Über die politischen Konsequenzen seiner Kritik konnte Elbe keine Auskunft geben.

Eleganter formulierte Michael Quante (Die Rückkehr des gegenständlichen Gattungswesens) sein Diskussionsangebot und meldete Klärungsbedarf an. Er suche nicht die frontale Konfrontation, sondern versuche wie ein Partisan von einem Randgebiet mit kleinen Nadelstichen in den Kern der Theorie vorzudringen. Dies tat er dann auf beeindruckende Weise. Das Randgebiet, das er sich ausgesucht hat, war die Auseinandersetzung mit Humangenetik, die Habermas in Die Zukunft der menschlichen Natur geführt hat. Quante hinterfragte die starke Betonung der Unverfügbarkeit, die Habermas in seinem Changieren zwischen deontologischer Moral und naturrechtlicher Dogmatik vorgenommen habe. Die Humanisierung der Natur, von der Marx gesprochen hätte, enthalte immer noch emanzipatorisches Potenzial. Quante ermunterte Habermas, den Schritt hin zu einer Gattungsethik offensiver zu vollziehen. Im Bereich der Bioethik würde man mit Tabus nicht weit kommen. Der Aspekt des Heilens sei nicht nur Ideologie. Unverfügbarkeit könne andererseits herrschaftlich wirken. Gefordert sei eine kontextsensible Argumentationsweise, die die Betroffenen ernst nimmt, sich dem Unbehaglichen aussetzt und in ihm einrichtet. Diese Kritik führte zu einem Disput mit Rainer Forst, der den Schritt zur Gattungsethik als gefährlich und überflüssig betrachtete [vgl. Habermas 2001: Die Zukunft der menschlichen Vernunft, S. 121 Fn. 70]. Forst wolle die Garantie der Autonomie nicht von kontingenten Vorstellungen des guten Lebens abhängig machen. Notwendig sei eine kategorische Grenze des Erlaubten. Wer diese Grenze ziehen soll und wie man sich auf sie einigen kann, blieb unklar.

Sicherlich überwog letztlich die Historisierung, was auch an dem mangelnden Raum für Diskussionen lag. Gleichwohl eröffnete die Tagung in der Rückschau, wenn man beispielsweise an die Beiträge von Quante und die Diskussionen mit Rapic denkt, interessante Perspektiven und Fragestellungen, sodass es am Ende trotz des eigentümlichen Themas eine gelungene Tagung war.

 

Jürgen Förster ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft der RWTH Aachen. In seiner Dissertation hat er sich mit der institutionellen Verfassung der Freiheit im politischen Denken Hannah Arendts auseinandergesetzt. Weitere Arbeitsschwerpunkte sind Kritische Theorie und Demokratietheorie.

 


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