theorieblog.de | Bentham in Darmstadt

2. April 2012, Marciniak

Als „Gesetzgeber der Welt“ wurde er von einem seiner Bewunderer ehrfürchtig bezeichnet, und tatsächlich operierte der britische Denker Jeremy Bentham (1748-1832) zu seinen Lebzeiten äußerst umtriebig weltweit als anerkannter Verfassungsberater. Bentham war damals ein Denker von internationaler Reputation, und heute ist seine Stellung als philosophischer und politischer Klassiker im englischsprachigen Raum gänzlich unumstritten. In die deutschsprachige Ideengeschichtsschreibung fand der Philosoph und Sozialreformer bislang allerdings nur mit Mühe Zugang. Diesem Defizit Abhilfe zu schaffen und Bentham den Weg in die deutschsprachige Politische Theorie ein wenig zu ebnen, war das Ziel einer Tagung in Darmstadt am 23. und 24. März, die sich (vermutlich als erste ihrer Art in Deutschland) ausschließlich der politischen Philosophie Jeremy Benthams widmete.

Die Tagung stand angesichts der Entwicklung, die die Bentham-Forschung in den vergangenen Jahrzehnten genommen hat, unter dem Motto „Beyond the New Bentham?“. In seiner Einleitung verwies Peter Niesen auf die vielfältigen Möglichkeiten, sich Benthams üppigem und thematisch facettenreichem Werk zu nähern: von einer autoritären bis hin zu einer liberalen Lesart, von eher systematischen bis hin zu vorrangig interpretativen Ansätzen. Auch die Frage, über welchen Kanon man sich Benthams Oeuvre erschließt, ist von nicht geringer Relevanz. Im Mittelpunkt der Darmstädter Konferenz stand der liberale und demokratische Gehalt der Theoriebildung Benthams.

Ausgangspunkt der Diskussionen zwischen internationalen Gästen und Vertretern der deutschen Politischen Theorie waren die bahnbrechenden Neuinterpretationen der letzten Dekaden: Dank der Arbeiten des am Londoner University College angesiedelten Bentham Project  ist in den vergangenen Jahrzehnten aus tausenden bisher unveröffentlichten Manuskriptseiten in den Collected Works ein neuer kanonischer Bentham entstanden, der die Literatur zu unorthodoxen Lektüren inspiriert hat. Im Rahmen der Tagung wurde nun erörtert, ob diese revisionistischen Interpretationen eines insbesondere liberalen und/oder demokratischen Benthams sich im Rückblick als tragfähig erweisen und inwieweit der gegenwärtige „New Bentham“ nicht nur „authentisch“, sondern auch von bleibender Aktualität ist. In Darmstadt waren eine Reihe der Wissenschaftler zu Gast, die den Umbruch in der Bentham-Forschung geprägt haben: Philip Schofield, Leiter des Bentham-Projects am UCL und Herausgeber der Collected Works, sein Kollege Michael Quinn, Paul Kelly (London School of Economics)  und David Lieberman (UC California, Berkeley). Auch die produktive französische Bentham-Forschung war mit drei Mitgliedern des Pariser Centre Bentham (Emmanuelle de Champs, Malik Bozzo-Rey und Anne Brunon-Ernst) in Darmstadt gut repräsentiert.

Das erste Panel zum Thema „What was liberal Bentham?“ eröffnete Paul Kelly (LSE), der Benthams politisches Denken als liberale Gerechtigkeitstheorie liest und so für aktuelle Debatten anschlussfähig gemacht hat. Die anschließenden Panel-Beiträge von Michael Quinn (UCL), Michael Schefczyk (Lüneburg), Wilhelm Hofmann (TU München)  und Emmanuelle de Champs (Paris VIII) kommentierten Kellys Position oder widmeten sich verschiedenen einzelnen Aspekten eines „liberalen Bentham“. In der lebhaften Diskussion standen die Fragen im Vordergrund, wie sich der „liberale Bentham“ zur schonungslosen Aggregation des Gesamtnutzens verhält, und ob es nicht an der Zeit sei, eine vereinheitlichende, „post-revisionistische Ära“ (Stephen Engelmann) der Bentham-Forschung einzuläuten.

Ein solcher Ansatz entspräche eher der Herangehensweise David Liebermans, einem Autor aus dem Umfeld der ‚Cambridge School’, der in seinen Arbeiten darauf abzielt, den historischen Bentham zu rekonstruieren. Lieberman leitete das zweite Panel („Utilitarian Democracy“) mit einem Vortrag zu Benthams Demokratietheorie ein. Im Zentrum standen die herausragende Bedeutung von Kodifizierung sowie das Gewicht von Information und öffentlicher Kommunikation für Benthams demokratisches Reformprogramm. Wie schon am Vortag wurde die Thematik in den sich anschließenden Panelbeiträgen von Peter Niesen, Anne Brunon-Ernst (Paris II), Malik Bozzo-Rey (Lille), Harald Bluhm  (Halle) und Markus Stepanians (Aachen) kommentiert und vertieft.

Beide Panels wurden verknüpft und ergänzt durch den Abendvortrag Philip Schofields, der ebenso kenntnisreich wie unterhaltsam anhand erst kürzlich entdeckter Manuskripte aufzeigte, inwieweit Bentham auch in den Bereichen Sexualpolitik und Religion äußerst liberale Ansichten vertrat (und wie provokativ er diese stellenweise zu Gehör zu bringen suchte).

Die Frage „Beyond the New Bentham“? konnte in Darmstadt nicht abschließend beantwortet werden; nach wie vor gibt es – salopp gesagt – verschiedene Versionen des britischen Denkers. Neben dem liberalen und dem demokratischen Bentham wäre der technokratische Bentham zu untersuchen, der akribisch auf Informationsbeschaffung und -verbreitung bedacht war. Fest zu stehen scheint, dass die unterschiedlichen Benthams zum einen nicht unbedingt in Opposition zueinander stehen müssen (was u. a. für den Beginn einer post-revisionistischen Ära sprechen könnte). Zum anderen bietet der „New Bentham“ in seinen unterschiedlichen Ausprägungen vielfältige Anknüpfungspunkte, um drängende Fragen aktueller normativer politischer Theorie – sei es zu Gerechtigkeit oder zu radikaler Demokratie, zu politischen Ideen wie Freiheit und Sicherheit, zu Globalisierung oder Post-Kolonialismus – zu diskutieren bzw. neu zu akzentuieren. So bleibt zu hoffen, dass der „Gesetzgeber der Welt“, der jetzt in Darmstadt Fußstapfen hinterlassen hat, seinen mühsamen Weg hinein in die deutsche Ideengeschichtsschreibung von nun an etwas erleichtert findet. Anlass zu dieser Hoffnung geben nicht nur die lebhaften Diskussionen des Darmstädter Workshops, sondern auch bevorstehende deutschsprachige Veröffentlichungen von Benthams Schriften, seiner Panopticon-Schriften (Matthes und Seitz 2012) sowie seiner Schriften zur Französischen Revolution (Akademie 2012).

 

Angela Marciniak ist Doktorandin am Exzellenzcluster “Die Herausbildung normativer Ordnungen” in Darmstadt. In ihrer Dissertation untersucht sie die Bedeutung und den Wandel von „Sicherheit“, u. a. im Werk Jeremy Benthams. Die Darmstädter Tagung „Beyond the New Bentham?“ hat sie mitorganisiert.


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