theorieblog.de | Quo vadis Demokratie(theorie)? Über Verfassungsentwicklung und demokratischen Fortschritt

30. März 2012, Olesen

Sinkende Wahlbeteiligungen, schwindendes Vertrauen in gewählte VolksvertreterInnen und abnehmende Mitgliederzahlen der politischen Parteien haben die Bedingungen, unter denen repräsentative Demokratien operieren, verändert. Wie repräsentative Demokratien auf diese Veränderungen reagieren sollten, was Repräsentanten eigentlich repräsentieren (Ideen, Interessen oder die Zusammensetzung ihrer Wahlkreise) und in welcher Form sie dies tun sollten, sind Fragen, die innerhalb der Politischen Theorie wieder verstärkt diskutiert werden. Grundsätzlichere Fragen, welche die Ausgestaltung und Angemessenheit der Verfassungen betreffen, auf denen diese Demokratien basieren, werden in der einschlägigen Literatur allerdings kaum thematisiert. Doch in welchem Maße repräsentieren die Verfassungstexte Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte nach ihrer Ratifizierung eigentlich noch die Überzeugungen und Werte der politischen Gemeinschaften, für die sie entworfen wurden? Und nach welchen Maßstäben kann das Volk zwischen Reformbemühungen unterscheiden, die seine Unterstützung verdienen und solchen, die es ablehnen sollte, wenn einzelne Passagen der Verfassungen als nicht mehr zeitgemäß erachtet werden?

Im öffentlichen Bewusstsein finden diese Fragen unter dem Druck drängenderer Probleme kaum Aufmerksamkeit. Bemerkenswerter ist wohl, dass sie auch in der einschlägigen Literatur nicht oder nur am Rande behandelt werden. Dort stehen sich seit einigen Jahren zwei Demokratietheorien unversöhnlich gegenüber—Befürworter deliberativer Theorien auf der einen, Vertreter des agonistischen Pluralismus auf der anderen Seite. Doch keine der beiden Theorien bietet Bewertungsmaßstäbe an, die uns erlauben würden, zwischen legitimen und illegitimen Forderungen nach Verfassungsrevisionen zu unterscheiden. Damit entziehen sich TheoretikerInnen beider Lager dem Problem, wie Verfassungen jenseits juristischer Auslegungskünste, deren Ziel darin besteht, dem Verfassungstext so viel an zeitgemäßer Einzelfallbedeutung zu entlocken wie möglich, an den demokratischen Fortschritt angepasst werden können.

VertreterInnen deliberativer Demokratietheorien wie Jürgen Habermas und Seyla Benhabib behaupten, dass die existierenden demokratischen Verfassungen trotz gewisser Mängel sehr wohl geeignet seien, den Balanceakt zwischen Stabilität und demokratischem Fortschritt zu bestehen. Denn sie würden Foren der Beratung vorsehen, in denen diese Mängel debattiert und ausgeglichen werden könnten, wobei die vorgenommenen Verfassungsrevisionen stets den demokratischen Idealen der Gleichheit und Freiheit verpflichtet blieben. Dadurch seien Verfassungen flexibel genug, um auf neue Gegebenheiten (wie etwa Forderungen auf Anerkennung seitens bislang unberücksichtigter Gruppen) angemessen zu reagieren, ohne ihren demokratischen Wertekern zu opfern. Doch wie können wir sicherstellen, dass Verfassungsreformen auch tatsächlich zu Fortschritt führen? Habermas zufolge lässt sich demokratischer Fortschritt nur daran messen, dass man sich dem Ideal einer selbstbestimmten Gemeinschaft gleicher und freier Bürger nähert. Doch Habermas’ neo-kantianischer Vorschlag vermag wohl schon allein deshalb nicht zu überzeugen, weil es unklar bleibt, auf welche Weise die eigentlichen Konflikte, die darüber entstehen, wie dieses demokratische Ideal interpretiert und institutionalisiert werden sollte, behoben werden könnten.

Agonisten wie William Connolly, Bonnie Honig und Chantal Mouffe hegen weniger Zuversicht in die existierenden Verfassungen. Zum einen kritisieren sie deliberative Demokratietheoretiker dafür, dass deren Vorstellung von demokratischem Fortschritt auf einer gutgläubigen Geschichtsteleologie basiere, nach der sich alles — jedenfalls in der longue durée — zum Besseren verändere und Verfassungen stets zum Positiven revidiert würden. Zum anderen werfen sie ihnen vor, Konflikte zu entpolitisieren, indem sie das Politische als einen vorweggenommenen Konsens begreifen. Doch mit ihrem Fokus auf Konflikt blenden Agonisten einen der wesentlichen Bestandteile des Politischen aus: nämlich die Tatsache, dass politische Entscheidungen letztlich jeden Deliberationsprozess, ob er nun auf Konsens oder Konflikt basiert, beenden. Anstatt aufzuzeigen, wie die von ihnen beschworenen Diskussionen in politische Entscheidungen überführt werden können, zögern sie den Moment der Entscheidung heraus in dem Bestreben, unterschiedlichen Meinungen ein Sprachrohr zu bieten, was nichts anderes heißt, als dass sie auf der ständigen Umdeutung möglicher Verfassungsentwürfe beharren. Dies jedoch widerspricht der politischen Praxis, da man Verfassungen nicht kontinierlich ändern kann, wenn sie ein stabiles Gemeinwesen gewähren sollen.

Somit bleibt bei beiden Demokratiemodellen die Frage nach den Bewertungsmaßstäben unbeantwortet, die es erlauben würden, zwischen legitimen und illegitimen Forderungen nach Verfassungsänderungen zu unterscheiden. Für Vertreter deliberativer Theorien scheint sich die Frage nicht zu stellen, weil die demokratischen Institutionen für sie ohnehin so konzipiert sind, dass sie sich auf Dauer dem demokratischen Fortschritt nicht versperren können. Den Agonisten, für die Fortschritt ohne Teleologie undenkbar ist, sind demokratische Maßstäbe wenig hilfreich, wenn nicht sogar schädlich, da diese als externe Standards den BürgerInnen (auf)oktroyiert würden und somit deren Handlungsspielraum einschränkten.

Greift man nun die Bedenken auf, die von TheoretikerInnen beider Seiten zu Recht geäußert werden, dann stellt sich die Frage, ob Maßstäbe entwickelt werden können, die demokratischen Fortschritt anzeigen, ohne einer Geschichtsteleologie anheim zu fallen. Damit wir als BürgerInnen selbst mit darüber entscheiden können, ob unsere Institutionen wirklich demokratisch sind und unseren Willen verkörpern, müssen die Maßstäbe, die wir entwickeln, unabhängig genug sein, damit wir aus kritischer Distanz unsere Institutionen bewerten können. Anstatt existierende Institutionen ausschließlich an praxisfernen Idealen zu messen, sollte man sie daher untereinander in Beziehung setzen und vergleichen. Denn dies sorgt dafür, dass das Beharren auf dem Status quo aufgebrochen und die involvierten Parteien in den Zustand einer reziprok-kritischen Beziehung gesetzt werden, deren Interpretation und Umsetzung demokratischer Ideale miteinander in Konkurrenz treten. So jedenfalls könnte die Hybris bestehender Institutionen aufgebrochen werden, die von sich behaupten, am besten dafür geeignet zu sein, über die angemessene Umsetzung demokratischer Ideale zu entscheiden.

Ein aktuelles Beispiel soll dies veranschaulichen. Wenn uns Umfragen suggerieren, dass die vom Grundgesetz vorgesehene Form der Wahl des Bundespräsidenten von einer breiten Mehrheit des Volkes als nicht mehr zeitgemäß empfunden wird, dann stellt sich in der heutigen Situation, in der unsere Demokratie als gefestigt angesehen werden kann, die Frage, wie man die Verfassung ändern könnte, um diesen Gegebenheiten Rechnung zu tragen. Anstatt der Wahlbevölkerung von vornherein jedwede Möglichkeit zu nehmen, einen unmittelbaren Einfluss auf Beratungen über eine mögliche Verfassungsänderung auszuüben, wären durchaus Instrumente vorstellbar, das Volk aktiv einzubinden, anstatt lediglich auf Umfragen als Pseudo-Plebiszite zu verweisen. So wäre es nach dem Vorbild von Aufsichtsräten großer Unternehmen, die jeweils zur Hälfte aus AnteilseignerInnen und ArbeitnehmerInnen bestehen, denkbar, die Abstimmung zwischen der Bundesversammlung und dem Volk zu splitten und so dem Auftrag, einen Kandidaten bzw. eine Kandidatin zu küren, die bereits durch den Wahlakt ‚über den Parteien’ steht, gerecht(er) zu werden.

Was wäre damit gewonnen? Aus dem Institutionenvergleich ergäbe sich ein konkreter Vorschlag zur Umsetzung eines Ideals, nämlich zur Bestimmung eines überparteilichen Bundespräsenten, sowie ein Vorschlag zur Änderung der bestehenden Verfassung, die dem demokratischen Fortschritt unseres Landes entspräche. Dadurch würde die repräsentative Demokratie unter Beweis stellen, dass sie in der Lage ist, sich zu reformieren und vielleicht sogar direkt-demokratische Elemente aufzunehmen, ohne ihren Wertekern zu opfern. Ob unsere Demokratie — theoretisch wie praktisch — zu solchen Veränderungen bereit ist, wird die Zeit zeigen müssen.


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