Honneth-Lesekreis (10): Die Institution der demokratischen Öffentlichkeit

Teil C, Kapitel III.3 (Das „Wir“ der demokratischen Willensbildung: a. Demokratische Öffentlichkeit) (S. 470-567)

Ohne die beiden anderen Sphären der sozialen Freiheit, persönliche Beziehungen und marktwirtschaftliches Handeln, abwerten zu wollen, nennt Honneth die politische Sphäre, verstanden als öffentliche Deliberation und Willensbildung, das „Herzstück“ (470) der sozialen Freiheit in Gesellschaften unseren Typs. Dabei soll die Zentralität dieser „dritten Sphäre“ (483) ausdrücklich nicht substanzhaft und „freistehend“ (472), wie bei Hegel und modernen Demokratietheoretikern, verstanden werden. Honneth verspricht, die Frage nach dem „Verweisungszusammenhang“ (473) der unterschiedlichen Sphären sozialer Freiheit später zu klären. Ich selbst werde im Folgenden seine Kernaussagen zusammenfassen und am Schluss einige Kritikpunkte auflisten. 

Honneth resümiert zunächst die Entwicklung der bürgerlichen und plebejischen Öffentlichkeiten im 18. und 19. Jahrhundert als eine Fortschrittsbewegung von der Verankerung liberaler Freiheitsrechte zur Durchsetzung und allmählichen Ausdehnung von politischen Teilnahmerechten auf bisher ausgeschlossene Gruppen (Frauen, Besitzlose usw.). Während die liberalen Freiheitsrechte die Ausübung negativer und reflexiver Freiheit garantieren, bilden das Versammlungs- und Vereinsrecht die institutionelle Grundlage der sozialen Freiheit, weil diese Rechte zur „deliberativen Kommunikation“ (482) einladen und die geäußerten Gedanken und Handlungen von Einzelnen und Gruppen einem öffentlichen Rechtfertigungszwang aussetzen. Von bereits bekannten Darstellungen dieser Zusammenhänge (Habermas, Marshall u.a.) unterscheidet sich Honneths Rekonstruktion durch den Hinweis, dass der öffentliche Raum für den zwanglosen Austausch von Argumenten nicht selbst argumentativ hergestellt wurde, sondern durch „Barrikaden im Straßenkampf“ (486) und andere materielle Praktiken. Später werden die Partisanen und die Soldaten und Geheimdienste der Alliierten im Zweiten Weltkrieg als letzte Hüter jener befreienden Normen genannt, auf die sich die buchstäblich exilierte Theorie damals allein noch stützen konnte (520).

Im nächsten Schritt versucht Honneth, die Frage zu beantworten, wie sich die von ihm rekonstruierten Normen zur Wirklichkeit der europäischen Gesellschaftsgeschichte verhalten, in der sie nur sehr bruchstückhaft durchgesetzt werden konnten. Vor allem zeigt die Geschichte, dass der Antisemitismus und der Fremdenhass durch dieselben Institutionen der demokratischen Öffentlichkeit genährt und befördert worden sind, die doch eigentlich Instrumente der Kontrolle der politischen Macht durch Argumente sein sollten. Honneth spricht von einer „grundsätzlichen Ambivalenz der Institution der Öffentlichkeit“ (492). Der Grund für diese Ambivalenz ist selbst nicht ganz eindeutig. Honneth nennt zum einen den „nationalstaatlichen Rahmen“ (490) der Öffentlichkeit, zum anderen die „naturalistische Interpretation nationaler Zugehörigkeit“ (492). Sodann fragt er nach den Voraussetzungen für die Aufhebung jener Ambivalenz und findet Hinweise bei Durkheim und John Dewey. Auf die Frage nach der Quelle jener „solidarischen Empfindungen“ (495), die die Institution der Öffentlichkeit vor ihrer Verwandlung in eine Propagandamaschine der Fremdenfeindlichkeit bewahren können, antwortet Honneth mit dem Hinweis auf Durkheims Begriff der „staatsbürgerlichen Moral“, einem Vorläufer des „Verfassungspatriotismus“.

Der nächste Kronzeuge ist Dewey, der die Demokratie an die freie Zirkulation von Ideen und eine allseits zu erlernende „Kunst“ der offenen Kommunikation bindet. Dewey formuliert ein Ideal der demokratischen Öffentlichkeit und kritisiert die Ausbreitung einer Medienlandschaft, die nur noch Nervenkitzel erzeugt. Im Text funktioniert das von Dewey und anderen formulierte Ideal der Öffentlichkeit nicht anders als das von Honneth verworfene Konzept eines externen Maßstabs der Kritik. So vermisst Honneth mit Dewey z.B. ein „hohes Niveau“ der Berichterstattung in den Massenmedien und sieht darin eine „Abweichung vom Ideal“ (514, 508) einer wohlinformierten Bürgerschaft.

Honneth bezeichnet die NS-Herrschaft als eine bloße „Unterbrechung“ (517) der Fortschrittsgeschichte. Für die Zeit nach dieser Unterbrechung sieht Honneth vor allem (und viel zu optimistisch) einen enormen Zuwachs der Bedeutung der Menschenrechte in der internationalen Gesellschaft, den Bruch mit der „männlichen Definitionsmacht über das ‚Wir’ der demokratischen Öffentlichkeit“ (535), die Erschütterung der „nationalen Grundlage“ dieser Öffentlichkeit durch die Sichtbarwerdung und schrittweise Inklusion von Migranten (535-8) sowie die Selbstaufwertung von sexuellen Minderheiten.

Auf den Seiten 539-67 diskutiert Honneth zusammenfassend Bedingungen der sozialen Freiheit in der Sphäre der demokratischen Öffentlichkeit. Ich möchte drei Punkte hervorheben. Gegen deliberative Demokratietheorien und den Internet-Hype betont Honneth die Bedeutung der „leibgebundenen Versammlung von Gleichgesinnten“ (543) für das Gelingen von Verständigungsprozessen; das Theorem der „Zivilgesellschaft“ wird als ein artifizielles Medienprodukt kritisiert, das sowohl von Akteuren als auch Theoretikern der demokratischen Öffentlichkeit in einem Akt der Selbstverblendung für bare Münze genommen wurde (551-3); schließlich werden der „digital divide“ und die Aussicht auf eine Weltgesellschaft kritisiert, in der gut vernetzte kosmopolitische Eliten allenfalls noch Fürsprecher jener elektronisch und sozial abgehängten Massen sind, die selbst nicht mehr zu Wort kommen (563-5).

Vier Kritik- und Diskussionspunkte:

(1) Wo steht geschrieben, dass die Aufgabe der Massenmedien nur darin bestehen soll, zur „Lösung sozialer Probleme“ (542) beizutragen? Dies ist eine intellektualistische Verengung. Gegenthese: Die Massenmedien produzieren das moderne Äquivalent eines kollektiven Bewusstseins. Öffentliches wird für den privaten Gebrauch aufbereitet, Privates wird enthüllt und öffentlich gemacht. Dies geschieht in einer Weise, die es den Individuen erlaubt, sich zumindest gelegentlich mit der „Gesellschaft” eins zu fühlen. Auch die triviale, allseits verachtete Medienkultur ist wichtig, weil hier getestet und vorentschieden wird, was Bewunderung und was Verachtung verdient und welche bisher marginalisierten oder abweichenden Gruppen als inklusionswürdig zu betrachten sind.

(2) Woher kommen „solidarische Empfindungen“ (495)? Bei Honneth gibt es einen Zirkelschluss. Durkheims staatsbürgerliche Moral und Habermas’ Verfassungspatriotismus sollen die Entstehung solidarischer Empfindungen erklären, obwohl sie doch selbst ein Produkt solidarischer Empfindungen ist. Im Widerspruch zu sich selbst kritisiert auch Honneth an einer anderen Stelle die Idee des Verfassungspatriotismus wegen „ihrer emotionalen Blässe, ihrer Tendenz zum bloß moralisch Erstrebenswerten“ (546).

(3) Woher kommen Faschismus und Rassismus? Die Passagen zu Fremdenhass und Rassismus in der europäischen Geschichte lesen sich bei Honneth so, als seien diese Phänomene gleichsam aus dem Nichts über die Gesellschaften hereingebrochen. Aus Anlass der Dreyfus-Äffare im Frankreich des späten 19. Jahrhunderts heißt es, die politische Öffentlichkeit habe sich „plötzlich“ und „über Nacht“ von einem Medium der freien Kommunikation in ihr Gegenteil verkehrt (491-2).

(4) Hält Honneth sein Programm der normativen Rekonstruktion durch? Zu Habermas und Arendt heißt es: „… beide Autoren hatten in der jeweils von ihnen präferierten Sozialfigur des öffentlichen Lebens eine Gestalt der sozialen Freiheit verwirklicht gesehen, die von nun an, einmal zu Papier gebracht und publik gemacht, als Anspruch und kritischer Maßstab alle weiteren historischen Entwicklungen begleiten sollte“ (526). Der Satz klingt so, als hätten die beiden mehr getan als nur die Wirksamkeit bereits etablierter Normen und Ideale in der Praxis öffentlicher Akteure aufzuspüren. Vielmehr haben beide ihre eigenen, jeweils unterschiedlichen Präferenzen in ihrem Untersuchungsfeld bestätigt gefunden und „verwirklicht gesehen“. Erst durch den performativen Akt des Aufschreibens und Publizierens dieser Befunde wurde daraus ein „kritischer Maßstab“. Habermas wird auf der nächsten Seite sogar das Kompliment zuteil, das Ideal der freien öffentlichen Willensbildung „gewissermaßen rein und historisch noch unbefleckt“ (527) zur Welt gebracht zu haben. Heißt all das nicht letzten Endes: Nur solange wir kritisch in den Wald der Wirklichkeit hineinrufen, schallt es kritisch aus ihm heraus?

Gesamtübersicht zum Lesekreis

Volker Heins ist Wissenschaftler am Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main und Faculty Fellow am Center for Cultural Sociology, Yale University. Zuletzt erschien: Beyond Friend and Foe. The Politics of Critical Theory, Leiden/Boston: Brill, 2011.

 

3 Kommentare zu “Honneth-Lesekreis (10): Die Institution der demokratischen Öffentlichkeit

  1. Hallo Volker, kurz zu zwei Punkten:
    ad (1): geht es hier um Entweder-Oder-Aussagen, oder um die Frage der Gewichtung zwischen den beiden Perspektiven, die Du aufmachst? Und ist ein Problem nicht gerade deren Vermischung, wenn also z.B. politische Talkshows immer mehr nach Prinzipien von Unterhaltungssendungen gestrickt werden? De facto scheint es aber eine ziemliche Stratifizierung zu geben: wer möchte, kann durchaus qualitativ hochwertige Information bekommen, wer das nicht will, kann alle mögliche anderen Formen von Mediennutzung bekommen. Die Frage fällt dann auch wieder zurück auf die Bevölkerung: wie geht man mit dem bewussten Verzicht auf politische Information und politische Teilhabemöglichkeiten um?
    ad (4): ist der Wald nicht immer schon eine Mischung aus kritisch und unkritisch (um Deine Metapher aufzugreifen)? Und Philosophen können explizit machen, was an kritischem Potential darin liegt, sich die normativen Ansprüche, die es dort schon gibt, klar zu machen. Die Frage wäre doch dann, ob Habermas und Arendt etwas qualitativ anderes gemacht haben als Honneth, oder sie sich nur graduell unterscheiden – oder ob möglicherweise der graduelle Unterschied auch ein qualitativer werden kann, wenn er groß genug ist. Oder meinst Du da etwas völlig anderes?

  2. Danke Lisa!

    Zum ersten Punkt: Richtig, es gibt kein Entweder-Oder. Honneth selbst ja auch von einer „grundsätzlichen Ambivalenz der Institution der Öffentlichkeit“ (492). Aber die Aussage, dass die Öffentlichkeit ambivalent ist, passt nicht recht zu der Aussage, dass alles, was nicht sachlich und zur Lösung sozialer Probleme beiträgt, eine „Abweichung“ von einem in die Realität eingelassenen Ideal darstellt.

    Zum zweiten Punkt: Naja, Honneth findet, dass Habermas und Arendt die Ideale formuliert haben, die in der Institution der demokratischen Öffentlichkeit angeblich kristallisiert sind, auch wenn es empirisch überall „Abweichungen“ gibt. Mein Einwand ist, dass Honneths Formulierungen gegen seine Intention suggerieren, dass die Theorie (von Arendt, Dewey, Habermas etc.) die herrschenden Werte und Normen nicht nur „nachvollzieht“ (vgl. Honneth, 21), sondern eben auch mitproduziert. Das wäre eine alternative Lesart: eine aktive öffentliche Soziologie oder Philosophie vereindeutigt das ambivalente Potential der Öffentlichkeit, indem sie bestimmte normative Elemente hervorhebt und andere abwertet. Das meine ich mit dem etwas zugespitzten Bild vom Wald und seinem Echo.

  3. Hallo Volker, zu dem zweiten Punkt: das finde ich ziemlich plausibel – allein schon deshalb, weil *irgendeine* Form von Artikulation der herrschenden Werte ja existieren muss (und das auf die rechtliche Diskussion zu reduzieren, wäre wohl verengt). Die Frage ist, ob öffentliche Soziologie und/oder Philosophie überhaupt vermeiden können, an so einem Prozess mitzuwirken. Allerdings weiß ich nicht, ob das dem Selbstbild der erwähnten Philosophen entspricht – vielleicht muss es das auch nicht unbedingt; die Wirkmächtigkeit solcher Texte ist nicht gerade planbar, und der Prozess vollzieht sich vermutlich in gewissem Maße auch genau dadurch, dass die Öffentlichkeit (wer auch immer genau das ist) bestimmte Texte zu bestimmten Zeitpunkten mehr oder weniger intensiv aufnimmt.
    Bei dem ersten Punkt könnte man vermittelnd sagen, dass eine „Abweichung“ vielleicht dann vorliegt, wenn bestimmte Funktionen gar nicht mehr oder kaum noch wahrgenommen werden, das muss dann keine Abwertung der anderweitigen Funktionen implizieren.

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