theorieblog.de | Honneth-Lesekreis (9): Freiheit nine to five?

30. Januar 2012, Herzog

Teil III.2: Das „Wir“ des marktwirtschaftlichen Handelns: c. Arbeitsmarkt (410-470)

Die Bürger marktwirtschaftlicher Gesellschaften verbringen einen großen Teil ihrer wachen Lebenszeit nicht in der Familie oder beim Konsum, sondern in der Arbeit. Für viele Menschen stellt sie nicht nur einen Einkommenserwerb dar, sondern auch einen Ort des sozialen Austausches und vielleicht auch der Selbstverwirklichung. Honneths Frage danach, ob und wie im Arbeitsmarkt ein „Wir“ der sozialen Freiheit möglich ist, besitzt daher große Plausibilität.
Ausgehend von dem Hegelschen Ansatz, dass der moderne Bürger in seinem Berufsstand seine „Ehre“ habe, folgt Honneth den Entwicklungen des Arbeitsmarktes vom frühen 19. Jahrhundert bis heute. Sein Ziel ist, die “moralische Tiefengrammatik” (421) der Kämpfe um Anerkennung im Arbeitsmarkt nachzuzeichnen. Der „pure Überlebensdruck“ (415) habe in der frühkapitalistischen Phase zu einer weitgehenden Akzeptanz der ausbeuterischen Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt geführt. Erst mit der Entstehung der Gewerkschaften sei wirklich Bewegung in die Fronten gekommen. Allerdings, so Honneth, habe die „verrechtliche Form der im Entstehen begriffenen Sozialpolitik“ (426) dem entgegengestanden, weil dadurch das Individuum “administrativ aus den mittlerweile entstandenen Gemeinschaften” herausgelöst werde (427).
Diese Bewertung erstaunt – in der Regel werden die Schutzmaßnahmen, die im ausgehenden 19. Jahrhundert entstanden, als Fortschritt gewertet. Doch wird gerade daran klar, dass Honneth, wie er auch immer wieder betont, den Arbeitsmarkt unter einer ganz spezifischen Perspektive sieht: der Frage nach sozialer Freiheit. Dies wird auch darin sichtbar, wie er die bewegte Geschichte der Gewerkschaftsbewegung bis ins 20. Jahrhundert hinein nachzeichnet. Das geht so weit, dass er den Gewerkschaften vorwirft, ein „normative[s] Selbstverständnis“ als Akteure, die auf eine „soziale Umgestaltung der Marktwirtschaft im ganzen“ hinwirken würden, nicht erreicht zu habe; sie seien im wesentlichen Interessensorganisationen geblieben (433)
Die positivste Phase in der Geschichte einer Versittlichung des Arbeitsmarkts sieht Honneth in den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg, in denen eine „Grundstimmung des sozialen Egalitarismus“ geherrscht habe (445). Danach sei Bewegung allerdings ins Stocken geraten, und Honneths Schilderung der jüngeren Vergangenheit ist pessimistisch. Der Arbeitsmarkt habe sich, nicht zuletzt durch die Bildungsreformen der 1970er, segmentiert, und insbesondere die „periphere“ Lohnarbeiterschicht an dessen unterem Rand sei sozial abgehängt worden (451). Seit den 1990ern habe die immer stärkere Orientierung am Shareholder Value und die verstärkte internationale Konkurrenz zu einer Erosion des normativen Status der Lohnabhängigkeit geführt – ein „reale[r] Verlust der bislang erkämpften Errungenschaften“ (456). Heute sieht Honneth eine Arbeitnehmerschaft, die von ständiger Unsicherheit bedroht ist (457). Anstatt sich gemeinschaftlich zu organisieren, verfielen die meisten in Fatalismus, es gebe „kaum mehr kollektive Abwehrreaktionen“ (459) und eine „beklemmende Sprachlosigkeit“ (462). Auch hierbei liegt Honneths Schwerpunkt nicht so sehr auf den materiellen und rechtlichen Verschlechterungen, sondern vor allem darauf, dass die „Chancen, sich als ein Gleicher unter Gleichen in den Kooperationszusammenhang des kapitalistischen Marktes einbezogen zu wissen“ sich kaum verbessert hätten (458). Als Ausblick bleibt nur die Hoffnung auf eine „nachholende Internationalisierung von Gegenbewegungen, die eine „schrittweise Vergesellschaftung des Arbeitsmarktes“ ermöglichen würden (469f.).

Aus den vielen Diskussionsfäden, die sich hier anknüpfen ließen, kann ich hier nur einige wenige herausgreifen – ich nehme insbesondere Punkte auf, die in den vergangenen Wochen schon andiskutiert wurden.

(1) Das Verhältnis negativer/rechtlicher und sozialer Freiheit im Markt. Honneth steht rechtlichen Maßnahmen, insofern sie „vereinzelnd“ wirken, skeptisch gegenüber. Aber sind es nicht oftmals gerade die rechtlichen Absicherungen, die es den Individuen erlauben, sich auf Augenhöhe zu begegnen und gerade deshalb möglicherweise so etwas wie soziale Freiheit zu erfahren. Oder stehen die soziale Freiheit (der einen?) und die rechtliche Freiheit (der anderen?) hier in einem grundsätzlichen Widerspruch? Oder möglicherweise sogar die sozialen Freiheiten verschiedener Akteure, so dass wiederum eine rechtliche Regulierung nötig ist? Vielleicht wird soziale Freiheit im Markt am ehesten unter Kollegen in stabilen, langfristigen, fairen Beschäftigungsverhältnissen erlebt (vgl. Hegels Korporationen) – diese müssten dann aber auch entsprechend rechtlich abgesichert sein.
(2) Effizienz und soziale Freiheit. Wäre ein Markt, der so funktioniert, wie Honneth das als normativ wünschenswert beschreibt, noch so effizient wie ein freierer? Falls nein, wäre die Frage, wer die Bürde der verminderten Effizienz zu tragen hätte. Eine Verschiebung hin von materieller Effizienz zu mehr sozialer Freiheit mag wünschenswert sein – aber wenn dies z.B. auf dem Rücken der material am schlechtesten gestellten Gruppe passieren würde, könnten evtl. Gerechtigkeitsgründe dagegen sprechen. Auch hier müsste explizit gemacht werden, wo es potentielle Konflikte gibt.
(3) Verhältnis Arbeitsmarkt – Familie. Honneth greift das hier nicht noch einmal auf, würde aber möglicherweise mit seiner Kritik an der Unplanbarkeit des Arbeitsmarktes an das anschließen, was er im Kapitel zu Familie an sozialpolitischen Veränderungen gefordert hat. Aber gerade in Bezug auf flexible Arbeitszeiten und überhaupt die Erwerbsbeteiligung von Frauen hat sich einiges getan in den letzten Jahrzehnten – auch wenn natürlich noch viel mehr passieren muss. Eine traurige Ironie dabei ist allerdings, dass gerade mit der normativen Aufwertung von Erwerbsarbeit die Gefahr einhergeht, nicht-marktliche Formen von Arbeit (egal, von wem sie erbracht wird) implizit abzuwerten. Ich denke nicht, dass man das Honneth unterstellen sollte – jedenfalls schade, dass zum Verhältnis von Familie und Arbeitsmarkt kaum etwas ausgeführt ist.
(4) Zur Theoriebildung – das halte ich für die schwierigste Frage zu dem ganzen Abschnitt über den Markt. Amir hat schon angesprochen, dass es problematisch sein könnte, dass Arbeits- und Konsumsphäre getrennt voneinander betrachtet werden. Hier möchte ich noch einen Schritt weiterfragen. Honneths Betrachtungsweise ist im Wesentlichen eine soziologische. Eine systemische (ökonomische?!) würde ganz andere Dinge in den Vordergrund stellen – z.B. den Wettbewerb als einen Mechanismus, der Macht unterminieren kann, über das Preissystem Informationen verteilt, und positive Effekte nicht als Ergebnis von gemeinschaftlichem Handeln, sondern als nichtintendierte Folgen vernünftigen Eigeninteresses hervorbringt. Natürlich hat die mangelnde Regulierung dieses Systems in den letzten Jahren zu zahlreichen Problemen geführt. Trotzdem scheint mir, dass eine systemische Betrachtung des Marktes mitsamt all seinen indirekten und teilweise kontraintuitiven Effekten nicht vollkommen fehlen darf, gerade auch, wenn es um soziale Freiheit geht – möglicherweise sind es gerade systemische Prozesse, die diese ermöglichen oder zerstören. Nur: wie können einen systemische und eine soziologische Betrachtung von wirtschaftlichen Prozessen verbunden werden? Dass beides zusammenkommen müsste, um das, was derzeit in der globalen Wirtschaft passiert, zu erfassen, scheint mir unvermeidbar – aber wie kann das theoretisch geleistet werden?

Trotz mancher Kritik im Detail sei noch einmal betont, dass Honneth sehr hoch anzurechnen ist, derartige Fragen überhaupt philosophisch zu erörtern und damit gegen die gefühlte Deutungshoheit der Ökonomen anzuschreiben. Egal, wie man seine Vorschläge konkret bewertet – die Relevanz der sich ergebenden Fragen dürfte kaum zu leugnen sein.

Gesamtübersicht zum Lesekreis

Lisa Herzog ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich der Philosophie der Universität St. Gallen. Im September 2011 hat sie ihre Promotion mit dem Titel „Inventing the Markt – Smith, Hegel and Political Theory“ an der Universität Oxford abgeschlossen.


Vollständiger Link zum Artikel: https://www.theorieblog.de/index.php/2012/01/honneth-lesekreis-9-freiheit-nine-to-five/