theorieblog.de | Honneth-Lesekreis (8): Divide et impera – Wie der manipulierende Unternehmer den vereinzelten Konsumenten abserviert

23. Januar 2012, Mohseni

Teil C, III.2, Das „Wir“ des marktwirtschaftlichen Handelns: b) Konsumsphäre (S. 360-410)

Dass der kapitalistische Markt nicht mehr als „unabhängig von normativen Erwartungen und moralischen Rücksichtnahmen“ (320) betrachtet werden darf, sondern das adäquate Verständnis desselben ihn in seiner „sittlichen Einbettung“ (321) zu sehen hat, darauf hat Honneth in seiner Vorklärung bereits hinzuweisen gesucht. Aufgabe der anschließenden beiden Unterkapitel des Abschnitts zum marktwirtschaftlichen Handeln ist es nun, diesen mit Moral und Sitte gefüllten Marktbegriff in seiner geschichtlichen Entwicklung zu verfolgen. Vor diesem Hintergrund widmet sich Honneth zunächst der „Konsumsphäre“ (360-410).

Zuerst betrachtet Honneth die wandlungsreiche Zeit rund um Hegels Schaffensperiode. Damals habe Hegel nicht nur erkannt, dass das Verhältnis von Konsumenten und Produzenten als reziprokes Anerkennungsverhältnis zu betrachten ist (vgl. 363), sondern bereits gesehen, dass dieses normative Verhältnis auch in die Brüche gehen kann. Angetrieben werde diese Gefahr von zwei Tendenzen, die Hegel bereits andeute: Auf der einen Seite nutzen Unternehmen die Fortschritte der allgemeinen Produktionstechnik zunehmend auch zur professionalisierten Manipulation der Konsumentenbedürfnisse; und auf der Seite der Verbraucher entwickelt sich eine Art von Konsum, die nicht wesentlich an der Qualität des konsumierten Gebrauchsgegenstands orientiert ist, sondern an der „distinktionsschaffenden“ Wirkung der Ware. Der mächtige Verwirklichungsprozess dieser beiden Tendenzen hat, so Honneth, nicht lange auf sich warten lassen und den gesamten Gütermarkt erheblich verändert (vgl. 364). Dabei habe der praktische Versuch, die Sphäre der Konsumtion als „Institution sozialer Freiheit“ (377) zu etablieren, es auch jenseits von Manipulation und Luxus von Anfang an nicht leicht gehabt; Honneth erwähnt in diesem Zusammenhang etwa die Massenarmut des Proletariats und die Problematik des »Konsums« von sexuellen Diensten (366-369).

Gegen diese Hindernisse der sozialen Freiheit formieren sich allerdings schon im 19. Jahrhundert soziale Bewegungen, die Honneth in „vier Klassen von normativen Weichenstellungen“ (384) zusammenfasst: Erstens entzündet sich bereits über die Frage, welche Güter überhaupt als Waren auftreten dürfen, ein normativer Diskurs. Zweitens zeigen die Hungerstreiks jener Zeit, dass Produktion und Preisgestaltung gerade bei elementaren Gütern nicht ausschließlich an der profitorientierten Marktlogik ausgerichtet sein sollen. Mit einer solchen Forderung werde der „normative Anspruch“ zum Ausdruck gebracht, dass die Marktwirtschaft „der Befriedigung elementarer Interessen der Konsumenten zu genügen hat.“ (383) Drittens nimmt bereits in jener Zeit die kritische Haltung zum „luxurierend(en) oder privatistisch(en)“ Konsum Gestalt an. Und viertens werde an der zügigen Ausbreitung der Konsumgenossenschaften deutlich, dass – neben der zuerst genannten Frage nach den möglichen Gegenständen des Marktes – auch die Art und Weise des Erwerbs und Konsums gestaltungsoffen ist.

Verzweifelt verfolgt nun Honneth das Schicksal dieser vier normativen Weichenstellungen zunächst etwas genauer für die kurze Zeit vor den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts und anschließend in der Periode der Nachkriegszeit, die sich durch Ideologieverdrossenheit im Konsum auszeichnet. Gäbe es die 68er nicht, dies wäre das Resultat der Suche nach marktvermittelten Gestalten sozialer Freiheit: „(D)er Punkt des Eingeständnisses eines endgültigen Scheiterns“ (390).

Die Studentenbewegung bringt noch einmal Bewegung in das „strukturelle Ungleichgewicht“ (389) zwischen den manipulierenden Unternehmen und den vereinzelten, kommunikationslosen Verbrauchern. Sie unterwirft den ausufernden Konsumismus einem „öffentlichen Rechtfertigungsdruck“, sie bewirkt die Kritik an den moralischen und ökonomischen Kosten der „industriellen Anstachelung des Privatkonsums“ (393) und kann wohl insgesamt als Wiederaufnahme jener vier normativen Weichenstellungen betrachtet werden. Den vorherigen Versuchen sei diese Phase aber insofern überlegen, als es ihr besser gelingt, ihrer Kritik auch einen „institutionellen Niederschlag in politischen Bewegungen und rechtlichen Aktivitäten“ (394) zu verleihen.

Auf dieser Grundlage sei das, was wir heute „Moralisierung“ des Konsumverhaltens nennen, erst etabliert geworden (vgl. 397). Freilich weist Honneth darauf hin, dass dieser „ethisierende“ Konsum nur in einem Bruchteil unserer Gesellschaften zu finden ist. Neben dieser kleinen, „akademisch gebildeten“ Gruppe (ebd.) stehen auf der einen Seite die Sozialhilfeempfänger, für die es keine materielle Grundlage zur moralischen Deliberation gibt, und auf der anderen Seite die wohlhabenden Schichten, die ihren Porsche Cayenne durch die 30er Zonen der Großstädte steuern (vgl. 397-402). Bedauerlicherweise gäbe es gegenwärtig auch keine diskursiven Mechanismen, die zwischen diesen verschiedenen Konsumgruppen vermitteln würde. Dies sei insbesondere vor dem Hintergrund misslich, dass ihre Interessen aufgrund der fehlenden Vermittlung „sich gegenseitig im Weg stehen, ja, wechselseitig sogar behindern“ (402). Wenn sich aber drei streiten, freut sich der Vierte: Die auf dem Konsumgütermarkt tätigen Unternehmen riechen diese „Segmentierung der Verbraucherinteressen“ natürlich und servieren den unverbundenen Konsumenten jeweils das extra Zugeschnittene. Darum gilt letzten Endes: „Ein Baustein demokratischer Sittlichkeit ist […] die marktvermittelte Sphäre des Konsums in den letzten Jahrzehnten nicht geworden.“ (405)

An diesem material- und thesenreichen Abschnitt zur „Konsumsphäre“ ließe sich vieles diskutieren. Ich stelle einfach vier Aspekte zur Diskussion, die mir selbst unklar geblieben sind:

1. Welchen analytischen Vorteil liefert die methodische Abstraktion von der Komplexität des Marktgeschehens zur Einfachheit des Dualismus von „Unternehmen“ und „Konsumenten“, die im Zuge der normativen Rekonstruktion dann als reale Gruppen in einem Interessenkonflikt stehen sollen? Droht diese Abstraktion nicht die Tatsache zu vernachlässigen, dass der von Honneth kritisierte SUV-Konsument (401) wenige Minuten bevor er in sein Vehikel steigt noch selbst als Unternehmer die Produktion eben solcher Güter angewiesen hat? Honneth macht auf diese Verknüpfung von Zirkulation und Produktion am Schluss des Abschnitts selbst aufmerksam, um die Auseinandersetzung mit dem Arbeitsmarkt zu motivieren. Die Frage ist, ob eine engere Zusammenschau von Arbeit und Konsum nicht dabei geholfen hätte, jenes „strukturelle Ungleichgewicht“ des Marktes, das „schon immer bestanden hatte“ (389), auch systematisch zu erklären, statt es bloß historisch-punktuell zu beleuchten.

2. Wer von Manipulation spricht, der setzt ein Verständnis davon voraus, wie die „ursprüngliche“ (381, 404) Behandlung der Bedürfnisse auszusehen hat. Darüber würde ich gerne mehr hören.

3. Es ist davon auszugehen, dass die Antwort auf die zweite Frage irgendwie auf „soziale Freiheit“ hinauslaufen soll. An welchen Stellen aber – und das ist ja in den bisherigen Kommentaren schon angesprochen worden – die in diesem Abschnitt verfolgte Entwicklung der Konsumsphäre wirklich die Anforderungen dessen erfüllt, was nicht bloß normativ oder moralisierend, sondern als Verwirklichung von „sozialer Freiheit“ bezeichnet werden kann, ist mir noch nicht klar geworden.

4. Mit diesem dritten Punkt hängt wiederum die Frage zusammen, ob die von Honneth referierten sozialen Bewegungen explizit nach der Normativität sozialer Freiheit rufen müssen, oder ob es nicht ausreicht, dass sie praktisch nach „sozialer Freiheit“ streben. Honneth greift auf diesen Unterschied mehrfach zurück (vgl. z.B. 386, 392 und 402), widmet ihm aber keine klärende Auseinandersetzung.

[Gesamtübersicht zum Lesekreis]

 

Amir Mohseni ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Exzellenzcluster der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und promoviert über den Eigentumsbegriff bei Hegel. 


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