theorieblog.de | Honneth-Lesekreis (7): Markt und Kooperation

16. Januar 2012, Derpmann

Teil C, III.1 (Das „Wir“ des marktwirtschaftlichen Handelns: a) Markt und Moral. Eine notwendige Vorklärung) (S. 317-360)

Wie zuvor gesehen, begreift Honneth wirkliche Freiheit als soziale Freiheit. Die Gliederung von Teil C, der nicht mit I, sondern mit III beginnt, legt nahe, dass diese Form der Freiheit die Defizite sowohl des allein rechtlichen als auch des allein moralischen Freiheitsverständnisses hinter sich lässt. Die Wirklichkeit der Freiheit setzt nach Honneth voraus, dass sich Subjekte „in wechselseitiger Anerkennung derart begegnen, dass sie Ihre Handlungsvollzüge jeweils als Erfüllungsbedingung der Handlungsziele des Gegenübers begreifen können“ (222). Im vorangegangenen Abschnitt hatte Honneth die Angemessenheit eines solchen Freiheitsbegriffs für persönliche Beziehungen aufgezeigt. Marktbeziehungen stellen nun das zweite „relationale Handlungssystem“ dar, in dem Honneth ein „Wir“ ausmacht, in dem sich Formen sozialer Freiheit zeigen.

Der Untersuchung von Marktbeziehungen als Sphären sozialer Freiheit geht eine Vorbemerkung zum Verhältnis von Markt und Moral voraus, die notwendig ist, um Marktbeziehungen überhaupt als Sphären sozialer Freiheit begreifen zu können. Diese Vorbemerkung in Abschnitt a) ist der Auseinandersetzung mit der in ökonomischen und philosophischen Theorien formulierten Überzeugung geschuldet, dass das Verhalten auf Märkten nichts mit dem für soziale Freiheit wesentlichen normgeleiteten und kooperativen Verhalten zu tun hat – vielleicht sogar nichts damit zu tun haben kann oder sollte (318). Honneth legt dar, unter welchen Bedingungen Märkte entgegen dieser Überzeugung als relationale Institutionen und als Sphären sozialer Freiheit verstanden werden können (320). Diese Überlegungen liefern Kriterien dafür, im Weiteren das Handeln auf Gütermärkten und auf Arbeitsmärkten als Ausdruck sozialer Freiheit zu begreifen und gegebenenfalls Defizite realer wirtschaftlicher Verhältnisse identifizieren zu können.

Honneth zeichnet zwei Debatten um zentrale Probleme der Ökonomie nach. Anhand der Diskussion dieser Probleme erhellt er, inwieweit die von ihm formulierte Bedingung sozialer Freiheit in einem plausiblen Verständnis von Marktbeziehungen angelegt und von realen Marktbeziehungen einlösbar ist. Das erste Problem kennzeichnet er als das Marx-Problem. Dieses Problem marktwirtschaftlicher Verhältnisse besteht darin, dass diejenigen Personen, für die es lebensnotwendig ist, einer Lohnarbeit nachzugehen, sich gegenüber Unternehmern in einer ungleichen Verhandlungsposition befinden. Die Verträge, mit denen sie ihre Arbeitskraft scheinbar frei veräußern, münden faktisch in erzwungene Ausbeutungsverhältnisse. Das zweite Problem, auf das Honneth verweist, ist das Smith-Problem. Dieses Problem zeigt sich in der vermeintlichen Unvereinbarkeit einer natürlichen Sympathie, die Menschen füreinander empfinden, mit dem uneingeschränkten Eigeninteresse, das ihr Handeln auf Märkten anleitet.

In Fußnote 154 (326) deutet Honneth an, dass diese beiden Probleme auf unterschiedlichen Ebenen liegen. Während das Marx-Problem ein „Strukturdefizit des Kapitalismus“, also der realen Wirtschaftsordnung benennt, ist das Smith-Problem eines der richtigen Beschreibung der Marktwirtschaft. Die erste Debatte verweist auf ein Problem der Ökonomie im Sinne wirtschaftlicher Verhältnisse; die zweite Debatte verweist auf ein Problem der Ökonomie im Sinne der Sozialtheorie.  Meine Kritik an Honneths Vorklärung richtet sich darauf, dass er nicht explizit genug benennt, auf welcher Ebene er jeweils selbst argumentiert, wenn er aus seiner Behandlung der genannten Probleme Schlussfolgerungen für die Wirklichkeit sozialer Freiheit zieht.

Zunächst wendet sich Honneth dem „logisch vorgeordnet[en]“ (331) Smith-Problem zu, um dann aus dessen Lösung Schlussfolgerungen für die Behandlung des Marx-Problems zu gewinnen. Nur wenn Akteure an Märkten als normativ eingebettet verstanden werden können, und nur wenn Märkte faktisch nicht ihre eigenen normativen Ansprüche untergraben, ist es nach Honneth möglich, marktwirtschaftliches Handeln als potentielle Sphäre sozialer Freiheit zu begreifen. Honneth zieht Autoren wie Durkheim, Hegel, Polanyi und Parsons heran, die in unterschiedlichen Weisen aufzeigen, dass Marktbeziehungen notwendig normative Bedingungen aufweisen, die das Handlungsverständnis von Marktteilnehmern prägen.

Die zentrale Einsicht dieser Debatten, „die gegen die von der herrschenden Wirtschaftstheorie fabrizierte Vorstellung des Marktes Einspruch erheben“ (343), ist, dass Märkte nicht wie in der Lehrbuchökonomie als virtuelle Orte beschrieben werden können, auf denen Angebot und Nachfrage aufeinander treffen. Märkte sind vielmehr regulierte soziale Institutionen, die normativ strukturiert sind. Das Verhalten individueller Akteure auf Märkten ist nicht allein von eigeninteressierten Nutzenkalkülen abhängig, sondern ist beeinflusst von formellen und informellen Normen, ihrer sozialen Prägung und persönlichen Wertvorstellungen. Für Honneth ist allerdings ein besonderes Verständnis der Normativität von Märkten entscheidend. Denn zur Erfüllung der Bedingung sozialer Freiheit genügt es nicht, dass marktwirtschaftliches Handeln als normativ eingebettet verstanden werden kann. Honneth formuliert vielmehr eine normative These über den generellen Zweck von Märkten, die als Institutionen der für alle Teilnehmer vorteilhaften Kooperation verstanden werden sollten.

Insgesamt ist es nicht einfach, Honneths Vorklärung einzuordnen, denn er vertritt Thesen zur gegenwärtigen Entwicklung wirtschaftlicher Verhältnisse, zur Wirtschaftstheorie und zu den normativen Anforderungen, die an Marktteilnehmer und an die Marktinstitutionen zu richten sind. Zunächst scheint er gegen eine Position innerhalb der neoklassischen Wirtschaftstheorie zu argumentieren, in der das Verhalten von Individuen auf Märkten fehlerhaft modelliert wird. Diesen Fehler in der Beschreibung von Marktteilnehmern als allein eigeninteressiert kann Honneth leicht aufzeigen. Mit den Autoren, die Honneth anführt, kann er überzeugend darlegen, dass moderne ökonomische Modelle zum Teil einen Rückschritt hinter klassische gesellschaftstheoretische Einsichten darstellen, weil eine adäquate Beschreibung von Märkten nicht die normative Einbettung von Marktteilnehmern ignorieren darf. Honneth vertritt allerdings eine stärkere These. Es geht ihm nicht allein um die Notwendigkeit des Rekurses auf soziale Beziehungen, um Märkte verstehen zu können, sondern vielmehr um eine besondere normative Überzeugung, die im Selbstverständnis von Marktteilnehmern laut Honneth vorausgesetzt ist und für die Legitimität von Märkten notwendig ist: „das Versprechen durch Tauschprozesse zu einer komplementären Ergänzung individueller Handlungsabsichten beizutragen“ (348). Diese These scheint jedoch weder eine These der Ökonomie noch der Wirtschaftssoziologie zu sein. Sie formuliert vielmehr eine normative Erwartung an die institutionellen Rahmenbedingungen marktwirtschaftlichen Handelns und an die Einstellungen der Akteure innerhalb marktwirtschaftlicher Beziehungen.

 

Simon Derpmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am philosophischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und assoziiert an die Kollegforschergruppe „Normbegründung in Medizinethik und Biopolitik“. Er hat Ende 2011 sein Promotionsverfahren mit einer Arbeit zum Thema „Gründe der Solidarität“ abgeschlossen.

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