theorieblog.de | Honneth-Lesekreis (6): Pro Familia – Die Bedeutung der Familie für Subjekt und Gesellschaft

9. Januar 2012, Schmetkamp

Teil C, III.1 (Das „Wir“ persönlicher Beziehungen: c) Familien (S. 277-317)

Eine Familie, so heißt es in dem Film „Der Eissturm“ von Ang Lee, ist wie die eigene Anti-Materie: Sie sei das Nichts „aus dem du kommst und der Ort, an den du zurückkehrst, wenn du stirbst“. Auch wenn Honneth die Familie wohl weder als persönliche Anti-Materie noch als negative Zone (wie es im Film weiter heißt) bezeichnen würde – denn seine normativ-rekonstruktive Darstellung der Familie ist wesentlich optimistischer – so würde er sicherlich den zyklischen Charakter der Familie bestätigen. Denn auch nach Honneth ist die Familie unter anderem dadurch charakterisiert, dass sich ihre Mitglieder als eine zwischen Geburt und Tod verbundene Solidargemeinschaft verstehen (315). Eine der Leistungen von Familien ist es, dass sie „säkularen Trost“ spenden, den „Kreislauf des Lebens“ erfahrbar machen und von „Einsamkeit und Todesfurcht“ entlasten (310). Freiheit, so lautet eine der zentralen Thesen, wird in der Familie dadurch verwirklicht, dass die heutige Familie a) frei ist von traditionellen Rollenverteilungen, und stattdessen die Person als Ganze in den Blick genommen wird (304) und b) frei ist von Altersgrenzen, insofern, als Kinder Eltern und Eltern Kinder sein können (307).

Die Familie ist die dritte Sphäre persönlicher Beziehungen. Im Unterschied zur Freundschaft und zur Liebe ist die Familie durch eine Triangularität gekennzeichnet, grob gesagt: Vater, Mutter, Kind (278). Diese formale Struktur galt früher wie heute; davon abgesehen aber hat sich in den vergangenen 250 Jahren viel verändert. Das Kapitel lässt sich in fünf grobe Abschnitte gliedern: 1) Geschichte und Wandel der Familie vom 18. Jahrhundert bis heute (277-288), 2) Konsequenzen für die heutige Familie (288-294), 3) Normative Implikationen der Familie (294-302), soziale Freiheit durch Familie (302-310), Politik und Familie.

Zu 1) Geschichte und 2) Folgen: Entscheidend für die Definition der Familie ist das Kind. Ihm gelten in der historischen Familie die Fürsorge durch die Mutter und die finanzielle Absicherung durch den Vater. Die historische Familie ist denn auch noch durch strikte Rollenverteilungen gekennzeichnet. Bei Hegel und Schleiermacher gelten diese Rollen als Verwirklichungsbedingungen der sozialen Freiheit, indem man sich über die Rollen wechselseitig ergänzte und die je spezifische Bestimmung garantierte (280). Diese konservativen Rollenverteilungen haben sich über Kämpfe um Anerkennung der Frauen verschoben, vor allem seit etwa den 1960er Jahren (vgl. die Serie Mad Men). Kindererziehung wird delegiert, Frauen gehen zunehmend arbeiten, Väter sehen sich nicht nur als Ernährer, sondern auch als fürsorgende Bezugsperson (vgl. jüngst die „neuen Väter“), „Gehorsam“ und Autorität sind abgeschafft. Das Kind wird in seiner Persönlichkeitsstruktur und seinem freien Willen anerkannt (284-285). Die Triangularität wird hier zu einer echten Einheit, zu einem „für sich“(285).
Konsequenz dieser Entwicklungen sind zum einen die wechselseitige Anerkennung als ganzheitliche Personen sowie die geteilte Verantwortung der Eltern für das Kindeswohl (290-291). Zum anderen gehören dazu aber auch Konflikte und Scheidungen sowie die Zunahme von Patchworkfamilien und geteiltem Sorgerecht (ebd.). Ferner gebe es eine Tendenz von der sesshaften Kleinfamilie hin zu einer mobilen und über Distanz bestehenden Großfamilie, deren Mitglieder emotional miteinander verbunden blieben. Der moralische Kern der Beziehungen – unabhängig davon, ob die Eltern zusammenleben oder neue Bindungen eingehen – sei die verantwortungsbewusste Elternschaft.

Kritik: Hier ist die idealtypische und scherenschnittartige Darstellung und die mangelnde Berücksichtigung gegeläufiger Tendenzen zu kritisieren; so werden Werte wie Disziplin und Gehorsam in der Öffentlichkeit wieder zunehmend diskutiert, man denke an Bücher wie „Lob der Disziplin“ von Bernhard Bueb (2006) oder jüngst „Die Mutter des Erfolgs“ von Amy Chua. Auch die Rollenverschiebung ist in Frage zu stellen: Welche Familien hat Honneth hier im Blick, welche gesellschaftlichen Schichten? Doch vor allem die westliche Mittelstandsfamilie, die sich zeitlich und finanziell neue Väter leisten kann (oder sind diese nur ein Mythos?). Hier wie an vielen anderen Stellen zwingt sich die Frage auf, ob Honneth beschreibt, wie es ist, oder schon normativ vorschreibt, wie es idealiter aussehen sollte (vgl. 230); es besteht der Verdacht, dass der gesellschaftliche beziehungsweise familiale Ist-Zustand idealisiert und verklärt wird.
Auch die Konsequenzen sind schablonenhaft und überoptimistisch gezeichnet. Die Zunahme von Scheidungen und Patchworkfamilien könnte man im Gegenteil auch als Fehlentwicklungen familialer Beziehungen analysieren, mitverschuldet über gesellschaftliche Strukturen, die den Anforderungen heutiger Familien (Stichwort: Flexibilität, Mobilität) (noch) nicht gerecht werden. Honneth deutet dies später an, man vermisst es aber bereits hier. Ferner erstaunt die Diagnose der „multilokalen Mehrgenerationenfamilie“ (292), Tendenzen wie familienindependente Mehrgenerationenhäuser sprechen dagegen.

3) Normen: Normativ ist die Familie eine Solidargemeinschaft und geprägt durch das implizite Versprechen, dass jedes Mitglied in der Besonderheit seiner Subjektivität gleichberechtigt mit einbezogen wird, eine seinen spezifischen Bedürfnissen entsprechende Fürsorge erhält (295 f.) und als ganze Person geliebt und anerkannt wird (301) (s.o.). Die besondere Moralität der Familie (vgl. Honneth/Rössler, 2008, 9 ff. u. 279 ff.) besteht in nichtvertraglichen Pflichten, die sich situationspezifisch und flexibel an der jeweiligen Lage und dem Alter der Mitglieder verschieben.

Kritik: Leider fehlt auch hier – wie Andreas bereits bemängelt hat – eine Querverbindung zur rechtlichen und moralischen Freiheit. In der Familie (ebenso wie Freundschaft und Liebe) gelten nicht nur besondere Verpflichtungen, sondern diese Sphären unterliegen m.E. auch universellen Normen wie der moralischen Achtung der Selbstzweckhaftigkeit (195), Autonomie, Handlungsfreiheit und Würde der Person. Eine Verschränkung der drei Sphären – Liebe, Achtung, Wertschätzung – wie sie in Kampf um Anerkennung dargestellt werden, kommt hier ebenso zu kurz wie die konstitutive Bedeutung der (Nicht-)Anerkennung für Selbstvertrauen, Selbstachtung und Selbstwertschätzung.

4) Freiheit: Die soziale Freiheit geht in der heutigen Familie in der Zurückspiegelung existenzieller Lebensvollzüge auf (s.o. Einleitung). Dabei spielt die Gegenwärtigkeit der Leiblichkeit eine entscheidende Rolle (306). „Kinder und Eltern sind sich wechselseitig ein Spiegel der Lebensphasen, die entweder noch vor ihnen oder bereits hinter ihnen liegen; insofern können sie hier am jeweils anderen ein Verständnis nicht nur für die Periodizität des menschlichen Lebens insgesamt gewinnen, sondern auch für die unverfügbare Seite an ihrem je eigenen, biologisch bestimmten Leben“.

Kritik: Auch hier verschwimmt wieder Deskriptives und Normatives. Zudem ist die „organische Rhythmizität“ (306), der „säkulare Trost“ etc., die Honneth für die Familie reserviert, auch in generationenübergreifenden Freundschaften und Lieben zu finden (z.B. Harold and Maude). Was Honneth mit Verweis auf Autoren wie Franzen oder Roth optimistisch stimmt, kann man auch anders lesen: Die Optionenvielfalt, Beschleunigungs- und Fleixbilitätstendenzen werden den Familien dort (Franzen) fast zum Verhängnis, Roths Protagonisten sind im Alter einsam (z.B. Jedermann). Überhaupt geht in der überaus positiven Perspektive der Blick für die Konflikthaftigkeit und die konstitutive Kraft des Kampfes verloren, wie man ihn in negativistischen Anerkennungstheorien (z.B. Sartre) findet. Die heutige Familie wird bei Honneth idealistisch verklärt (310).

5) Was die Politik betrifft, so sieht Honneth diese den Entwicklungen der Familie hinterherhinkend: Sie erkenne nicht die für die Demokratie notwendige reproduktive und politisch-moralische Kraft der Familie, die Zeit bräuchte für die Interaktion mit den Kindern (311/313). Dies wäre nur durch eine „Reform der Sicherungssysteme aufzuheben, deren Ziel eine gesellschaftliche Unterstützung derjenigen wäre, die einen Teil der Erwerbsarbeit der Erziehung und Betreuung ihrer Kinder oder Enkel geopfert haben“ (311).

Kritik: Hier kann ich seiner Diagnose und Forderungen zustimmen.


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