theorieblog.de | Honneth-Lesekreis (3): Das Negative der negativen Freiheit

5. Dezember 2011, Loh

Teil B, Kapitel I: Rechtliche Freiheit (S. 129-172)

Mit dem Namen Böckenförde verbindet sich seit den 70er Jahren ein Paradoxon, das besagt, dass die liberale Demokratie die Voraussetzungen nicht selbst bereitstellen kann, von denen sie zehrt. Auf ein ähnliches Dilemma zielt auch Honneths Darstellung der rechtlichen Freiheit, wenn er ihre Grenzen und Möglichkeiten analysiert und dabei ihr „Unvermögen“ und ihre „Pathologien“ sichtbar machen will. In seinem Kapitel zur rechtlichen Freiheit zeichnet er zunächst die historische Genese der Individualrechte als Freiheitsrechte nach und folgt dabei vordergründig der klassischen Einteilung in drei Generationen von Rechten. Dabei geht er – anders als viele historische Darstellungen – systematisch vor und beschreibt nach den Freiheits- und Abwehrrechten zunächst die sozialen Rechte als „zweite Klasse von Rechten“ (142), bevor er sich in einem dritten Schritt den politischen Teilhaberechten zuwendet. Der Grund hierfür liegt darin, dass Honneth die Freiheitsrechte (und die sie ergänzenden sozialen Rechte) als negative Freiheit von den politischen Teilhaberechten getrennt betrachtet, welche aufgrund ihrer sozialen Komponente in den Bereich sozialer Freiheit fallen und deshalb an späterer Stelle des Buches gesondert behandelt werden. „Die Spannung zwischen privater und kollektiver Autonomie“ (144) verhindert Honneth zufolge, dass die Individuen ihre Rolle als Adressaten und als Autoren der Freiheitsrechte gleichzeitig adäquat wahrnehmen können. Dazu später mehr.

Mit Hegel sieht Honneth den Wert der rechtlichen Freiheit als negative Freiheit vor allem darin, dass das Individuum die Möglichkeit erhält, sich aus der kommunikativen Praxis von Rechtfertigungsbitten, -forderungen und -verpflichtungen zurückzuziehen, um in einer „ethischen Selbstbefragung“ (137) die Motive des eigenen Handelns zu evaluieren und dadurch seine „eigene Vorstellung des Guten zu erkunden“ (132). Das Individuum kann also nicht nur nach außen die Rechtfertigung für eine bestimmte Handlung verweigern und auf seine rechtlich garantierte Willkürfreiheit verweisen, sondern dadurch gleichzeitig in der Innenschau „alternative Lebenspläne“ (152) erwägen. In der Folge eines derartigen Selbstrückbezuges wird aber auch notwendig jegliche weitere Kommunikation unterbrochen. Aus diesem Grund kann von der rechtlichen Freiheit immer nur in Ausnahmefällen und vorübergehend Gebrauch gemacht werden. Denn sie kann nur Rückzugsräume eröffnen, nicht aber die Wiederanknüpfung an die nichtrechtliche Lebenswirklichkeit leisten.

Darin besteht laut Honneth dann auch das „Unvermögen aller rechtlichen Freiheit“ (151): Als negative Freiheit sichert sie die Privatautonomie des Einzelnen; letztlich kann aber der Zweck dieser Autonomie, also die Verständigung darüber, was ein gutes Leben ausmacht, nur im Austausch mit anderen gelingen. Hier wird der Zusammenhang mit dem eingangs erwähnten Böckenförde-Paradoxon überdeutlich. Das Paradoxe besteht jedoch nicht nur in der Tatsache, dass die liberal-demokratische Rechtsordnung einer ethisch-moralischen Vorverständigung über ihre eigenen Werte bedarf, sondern vor allem auch darin, dass ohne sie eine solche Vorverständigung keineswegs garantiert ist. Dass rechtliche Freiheit Räume eröffnet, die kommunikatives Handeln erst ermöglichen, will Honneth keineswegs leugnen. Dennoch trennt er diese Form der rechtlichen Freiheit als politische Freiheit methodisch von der in diesem Teil isoliert behandelten rechtlichen Freiheit als negativer Freiheit ab.

Dabei ist das Recht und damit die rechtliche Freiheit immer auch schon Teil von diskursiven Praktiken. Die Anerkennungskämpfe der Vergangenheit und Gegenwart zeigen, dass rechtliche Freiheit eben nicht nur die Möglichkeit einräumt, „entlastet von kommunikativen Zumutungen seine eigene Vorstellung des Guten zu erkunden“ (132), sondern dass diese Zumutungen als Forderungen nach Rechtfertigung im Namen des Rechts an die Gesellschaft herangetragen werden. Denn als Rechtspersonen, das erkennt auch Honneth an, müssen sich die Individuen als Freie und Gleiche gegenseitig anerkennen; Honneth spricht hier von „personalem Respekt“ (149). Diese gegenseitige Anerkennung kann aber nicht aus der rein negativen rechtlichen Freiheit selbst abgeleitet werden. Vielmehr setzt sie eine Vorverständigung darüber voraus, wer in welchem Umfang an ihr teilhaben soll. Die Frage, wer wie frei und wie gleich ist, kann die rechtliche Freiheit als negative Freiheit allein nicht beantworten. Die reziproke Anerkennung als Rechtsperson allein wäre beispielsweise auch mit einem Apartheitsregime vereinbar. Daher muss die strikte Trennung zwischen der Rolle des Individuums als Adressat und Autor, die laut Honneth „mitten durch die Rechtsperson hindurch verläuft“ (144), mindestens verwundern.* Rechtliche Freiheit befreit eben nicht nur von Rechtfertigungszwängen, sondern erlegt den Autoren des Rechts gleichzeitig neue Rechtfertigungszwänge auf.

Aus dem verengten Blickwinkel einer rein negativen Freiheit lassen sich auch die „Pathologien der rechtlichen Freiheit“, die Honneth identifiziert, leichter verständlich machen. Honneth beschreibt hier eine Doppelbewegung: Da das Recht immer mehr Lebensbereiche einnimmt, beginnen wir, primär im Recht zu denken. Der negative, temporäre Sinn von rechtlicher Freiheit wird nicht mehr begriffen, sondern rechtliche Freiheit wird als „das Ganze genommen und zum ausschließlichen Bezugspunkt des eigenen Selbstverständnisses erhoben“ (159). Die Rede von der „abgebrochenen Kommunikation“ (152) macht jedoch nur Sinn, wenn man die rechtliche Freiheit rein negativ deutet und ihren partizipativen Aspekt außen vor lässt. Wenn jedoch die These richtig ist, dass die Schutzfunktion des Rechts nicht ohne seine Ermöglichungsfunktion zu denken ist, so kann die „kommunikative Zumutung“ mindestens dort nicht ausgesetzt werden, wo die Rechte des anderen betroffen sind. Hier generiert die rechtliche Freiheit ein Recht auf Rechtfertigung, das den Rückzug in die eigene negative Freiheit nicht mehr zulässt.

Rechtliche Freiheit ist für Honneth eine Möglichkeit von Freiheit, aber keineswegs ihr Ganzes. Was sie ermöglicht, ist Selbstrückbezug und zeitweiliger Ausbruch aus kommunikativen Zwängen. Was sie nicht ermöglichen kann – und nach Honneth auch gar nicht soll – ist die darunter liegende Lebenswelt, die sich im Recht spiegelt. Eine Verständigung über die moralischen Grundlagen der Gesellschaft ist aber immer auch eine Verständigung über die rechtliche Freiheit selbst, ihren Umfang und ihre Adressaten. An dieser Stelle besteht für die Rechtspersonen immer ein Zwang zur Rechtfertigung, nicht zuletzt in Bezug auf Inklusion und Exklusion. Der Einspruch gegen Exklusionsmechanismen wird immer auch auf der Grundlage der rechtlichen Freiheit geführt und mit dem Verweis auf sie untermauert. Daher stellt sich die Frage, ob sich die beiden Aspekte der rechtlichen Freiheit tatsächlich voneinander trennen lassen – und sei es auch nur methodisch. Ohne die negativen Freiheitsrechte ist politische Partizipation immer gefährdet. Umgekehrt jedoch ist individuelle Freiheit ohne politische Teilnahmerechte blind für die Anerkennungskonflikte einer Gesellschaft und kann nur einen Status quo abbilden. Die Ermöglichung von Freiheit durch das Recht gelingt also nur durch das Ganze der rechtlichen Freiheit, ein einzelner Teil muss zwangsläufig „pathologisch“ sein.

 

* Klarheit in diesem Punkt verdanke ich einer Diskussion mit Hauke Behrendt.

[Gesamtübersicht zum Lesekreis]

Wulf Loh promoviert in Philosophie am Graduiertenkolleg „Verfassung jenseits des Staates“ der HU Berlin. In seiner Dissertation versucht er, den Begriff der kollektiven Selbstbestimmung im Anschluss an Rawls‘ „Recht der Völker“ neu zu denken.


Vollständiger Link zum Artikel: https://www.theorieblog.de/index.php/2011/12/honneth-lesekreis-3-das-negative-der-negativen-freiheit/