theorieblog.de | Herausforderungen der Finanzkrise für die politische Theorie

15. Dezember 2011, Voelsen

Seit Jahren nun schon prägt die Finanzkrise unsere öffentliche Diskussion. Was 2007 mit der Immobilienkrise in den USA begann, hat sich zu einer Krise der Staatsfinanzen entwickelt, die nicht zuletzt in Folge immer schärferer Sparmaßnahmen auch die Realwirtschaft vieler europäischer Länder bedroht. Nicht nur in Griechenland, sondern zunehmend auch in vielen anderen Teilen Europas steigt die Arbeitslosigkeit und schwindet zugleich die Aussicht darauf, die Staatsverschuldung in den Griff zu bekommen. Zugleich entwickelt sich die Wirtschaftskrise zunehmend auch zu einer politischen Krise, ohnmächtig erscheinen die nationalen Regierungen angesichts der Macht der Märkte und auch die Zukunft der europäischen Union ist ungewiss. In diesem Beitrag möchte ich nun versuchen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige jener Herausforderungen zu benennen, die sich aus diesen Entwicklungen für die politische Theorie ergeben. Dabei geht es mir insbesondere um die Herausforderungen, die sich aus den gegenwärtigen politische Problemen für unser Verständnis von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit ergeben. Hierzu im Folgenden sieben Thesen:

1. Als unzweifelhaft transnationales Problem wirft die gegenwärtige Finanzkrise die Frage auf, ob nationalstaatlich organisierte Demokratien in der Lage sind, sich auf transnationale Lösungen zu einigen (ausführlich dazu u.a. Habermas). Das Problem ist schon länger bekannt, etwa aus dem Bereich der Umweltpolitik, bekommt in der gegenwärtigen Krise aber noch mal eine besondere Dringlichkeit. Denn auch wenn die Notwendigkeit transnationaler Lösungen kaum bezweifelt wird, scheint die Bereitschaft zu solchen Lösungen unter den derzeitigen, wirtschaftlich schwierigen Bedingungen sogar noch weiter abzunehmen. Verständlicherweise schürt die Finanzkrise Ängste und leider scheint es für die meisten demokratisch gewählten Politiker zweckdienlich, diese Ängste noch weiter zu schüren und sich selbst zum Opfer fremder Mächte zu stilisieren. Unsere Wirtschaft ist doch eigentlich intakt, heißt es unisono aus Griechenland, Italien, Spanien, Frankreich, Deutschland und den USA, schuld an der Misere sind jeweils die anderen oder notfalls „die Märkte“. Diese Zurückweisung eigener Verantwortung ist in gewisser Weise in den demokratischen Spielregeln angelegt, bietet sie Politikern doch wenigstens kurzfristig eine Möglichkeit, sich selbst als unbescholtene Retter der Nation zu präsentieren. Dabei verstärkt ein solches Handeln langfristig jedoch bestehende Ängste, verfestigt nationale Ressentiments und verbaut so systematisch den Weg zu transnationalen Lösungen. Demokratietheoretisch stellt sich hier die Frage, wie demokratische Verfahren sich aus dem Griff einer solchen Logik zunehmender Renationalisierung der Politik entziehen kann.

2. Ein weiteres Problem ergibt sich aus den unterschiedlichen Zeithorizonten ökonomischer und politischer bzw. demokratischer Entscheidungen, auf die u.a. Hartmut Rosa mit seinen Überlegungen zu Beschleunigungsprozessen schon seit längerem hinweist. “Die Märkte”, also die eigentlich quantitativ überschaubare Anzahl von Investoren an den Finanzmärkten, operieren mit dem Ziel einer oft extrem kurzfristigen Gewinnmaximierung. Der Zeithorizont dieser Investoren ist bisweilen sogar noch kürzer als der mancher Wirtschaftsakteure, auf jeden Fall aber kürzer als jener deliberativ-demokratischer Verfahren. Eine zunehmend häufig zu beobachtende Reaktion ist der Versuch der Abkürzung demokratischer Verfahren. Man denke nur an den Zwischenstop der Kanzlerin im Bundestag während der Verhandlungen um den europäischen Rettungsfonds ESM, der kaum noch geeignet war, die Fassade einer einigermaßen eigenständigen parlamentarischen Entscheidungsfindung aufrecht zu erhalten. Doch auch diese Maßnahmen reichen nicht aus, nach wie vor bleibt das Bild einer Politik, die von den Finanzmärkten getrieben wird, statt diese entsprechend demokratisch gefällter Entscheidungen zu regulieren.

3. Eng verbunden hiermit ist das Problem der enormen Komplexität des Finanzmarktes, die sich in seiner Gänze überhaupt nur noch wenigen Experten erschließt. Vielen verantwortlichen Politikern, den meisten Journalisten und nicht zuletzt dem Großteil der Bevölkerung fällt es schwer, der rasanten Abfolge von immer neuen Rettungsvorschlägen zu folgen, geschweige denn die tieferliegenden Ursachen der gegenwärtigen Krise zu erfassen. Eine sinnvolle öffentliche Diskussion ist so kaum möglich, die Folge ist eine eindeutige Verschiebung der Machtverhältnisse zugunsten der Exekutive. Will man diese Machtverschiebung nicht einfach akzeptieren, stellt sich demokratietheoretisch so die Frage, wie unter hohem Zeitdruck derart komplexe Entscheidungen in demokratisch legitimer Weise gefällt werden können.

4. Eine vielversprechende Lösung der in den letzten beiden Punkten aufgeworfenen Probleme bestünde darin, durch eine Reduzierung der Staatsschulden die Abhängigkeit der Politik von den Finanzmärkten zu mindern. Wären Staaten nicht länger in dem Maße wie bisher von externen Kreditgebern abhängig, so die Hoffnung, könnte man jenseits einiger grundlegender Regulierungen die Finanzmärkte sich selbst überlassen. Aus gutem Grund zeitaufwendige demokratische Verfahren könnten sich dann auf eben diese grundlegenden Regulierungen beschränken. Jenseits aller möglichen Probleme im Detail ist jedoch unklar, ob eine solche Lösung überhaupt demokratisch umsetzbar ist. Was hierfür notwendig wäre, wären massive Veränderungen des Steuerrechts und zumindest kurzfristig wohl auch eine gewisse Senkung des allgemeinen Lebensstandards. Und wiederum scheint es in den Spielregeln der Demokratie angelegt, dass es für demokratische Politiker zweckdienlich ist, solche tiefgreifenden Reformen so lange wie möglich, und wenigstens bis zur nächsten Wahl, zu vermeiden. Man denke nur an das geradezu groteske “Steuergeschenk” der schwarz-gelben Bundesregierung, das diese erst kürzlich ohne jeden Sinn für Ironie verabschiedet hat, während sie zugleich andere europäischen Staaten gar nicht genug über die Notwendigkeit des Sparens belehren kann. Oder noch absurder die Entwicklung des amerikanischen politischen Diskurses, in dem sich mittlerweile niemand mehr traut, über Steuererhöhungen überhaupt nur nachzudenken.

5. Jenseits der durch die Finanzkrise aufgeworfenen Probleme demokratischen Regierens stellt sich zudem die Frage, was die Krise mit Blick auf Fragen sozialer Gerechtigkeit bedeutet. In aller Deutlichkeit zeigen sich im Moment die Interdependenzen des globalen Wirtschaftssystems, und wird damit auch die Notwendigkeit eines Systems globaler Verteilungsgerechtigkeit deutlich. Jenseits der Idee einer Finanztransaktionssteuer stellt sich dabei aber sehr grundsätzlich die Frage, was angemessene Kriterien für Verteilungsgerechtigkeit mit Blick auf das Finanzsystem sein könnten und ob es überhaupt möglich ist, das Finanzsystem, wie wir es heute kennen, entsprechend solcher Kriterien sozial gerecht umzugestalten. Ein Hindernis ist hier die bereits angesprochene Komplexität des Finanzsystems, darüber hinaus stellt sich aber auch die Frage, ob das Finanzsystem nicht bereits historisch auf einer so ungerechten Ressourcenverteilung aufbaut, dass eine solche Reform gar nicht möglich ist.

6. Wendet man dieses Problem zudem auf den nationalen Kontext und insbesondere auf das Problem der Staatsverschuldung an, so zeigt sich hier eine Verbindung zwischen den demokratie- und den gerechtigkeitstheoretischen Problemen. Wenigstens formal ist die Verschuldung der europäischen Staaten durch demokratische Verfahren gedeckt, insofern erscheint es gerechtfertigt, die möglicherweise daraus entstehenden Kosten auf alle Staatsbürger zu verteilen. In dem Maße, in dem wie beschrieben die demokratische Beteiligung an immer neuen Rettungspaketen zur Makulatur wird, wird das Bild jedoch undeutlicher. Nimmt man dann noch hinzu, dass viele Bürger sich ja zugleich auch selbst am Finanzmarkt betätigen, wird nahezu vollends unklar, was eigentlich aus Perspektive sozialer Gerechtigkeit unter diesen Umständen geboten ist. Ist es gerecht, wenn jene US-Amerikaner und Griechen nun Einschnitte erleben, die zuvor ihren Konsum über waghalsige Kredite finanziert haben? Oder müssen hingegen die Banken zur Rechenschaft gezogen werden, die solche Kredite zuallererst vergeben haben? Ist es gerecht, wenn die deutschen Rentner weniger Rente erhalten, nachdem sie der heutigen Generation einen Haufen unbezahlbarer Schulden hinterlassen haben? Oder sollten auch sie an den Bemühungen um die Reduzierung der Staatsschulden beteiligt werden? Weniger kompliziert ist es wahrscheinlich, ein sozialstaatliches Minimum zu benennen, das allen Bürgerinnen und Bürgern in Griechenland, den USA und Deutschland einen akzeptablen Lebensstandard ermöglicht. Doch wie sähe jenseits dieses Minimums eine gerechte Verteilung all jener Kosten aus, die durch Finanzkrise bereits jetzt entstanden sind, und was könnten hierfür ausschlaggebende Kriterien sein?

7. Unsicher bin ich mir schließlich, inwiefern die gegenwärtige Krise sich in ihren Herausforderungen für die Politik und die politische Theorie von anderen Krisen unterscheidet. Meine Vermutung ist, dass das globale Finanzsystem in seiner heute bestehenden Form eine tatsächlich neue Herausforderung darstellt, die sich nicht vollständig mit den Problemen und Herausforderungen einer globalisierten Wirtschaft deckt. Was vielmehr neu hinzukommt, sind die Eigenheiten globaler Finanztransaktionen, die sich noch stärker als reales Wirtschaftshandeln dn bisherigen demokratischen Verfahren und Institutionen sozialer Gerechtigkeit entziehen. Wie gesagt, an diesem Punkt bin ich mir aber selbst noch unsicher, vielleicht ist der Unterschied zu anderen Krisen des kapitalistischen Systems auch eher graduell.

– Wie eingangs bereits geschrieben, sind die hier angestellten Erwägungen vor allem der Versuch einer Systematisierung meiner eigenen Überlegungen in Form von Fragen, die ich selbst noch nicht beantworten kann. Umso mehr freue ich mich um Anregungen und Kritik über die Kommentarfunktion!


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