theorieblog.de | Honneth-Lesekreis (2): Nicht Additiv, sondern Medium von Freiheit: Honneths Rekonstruktion der Hegelschen Sittlichkeitsidee

28. November 2011, Sörensen

Teil III (Die soziale Freiheit und ihre Sittlichkeitslehre) und Übergang (Die Idee der demokratischen Sittlichkeit) (S. 81-126)

»Das Rechtliche und das Moralische kann nicht für sich existieren, und sie müssen das Sittliche zum Träger und zur Grundlage haben […] [D]as Recht existiert nur als Zweig eines Ganzen, als sich anrankende Pflanze eines an und für sich festen Baumes.«

Mit diesen Worten beschließt Hegel in der Rechtsphilosophie (§ 141 Z) seine Darstellung des abstrakten Rechts und der Moralität. Als Leitprämisse könnte die Aussage zu Beginn wie auch am Ende des Abschnittes zur sozialen Freiheit stehen, geht es Honneth hier doch darum, den grundlegenderen Charakter des komplexesten Modells von Freiheit (vgl. 42f) aufzuweisen. Diesen wirft er Hegel folgend vor, die „sozialen Bedingungen, die die Ausübung der jeweils gemeinten Freiheit erst ermöglichen würden, [nicht] selbst schon als Bestandteile von Freiheit“ zu deuten, mithin die „gesellschaftlichen Realisierungschancen“ (79) auszublenden. Honneth erhebt den Vorwurf der Institutionenvergessenheit und hält fest, dass die objektive Wirklichkeit einem solchen Verständnis folgend von den selbstbestimmt Handelnden „als vollständig heteronom begriffen werden muß“ (83). Auf dieses Motiv kommt Honneth im Folgenden immer wieder zurück.

Ein Freiheitsbegriff müsse auch die institutionelle Dimension in den Blick nehmen und Honneth sieht Hegel dazu auf der richtigen Spur. Doch was ist gemeint mit den „institutionellen Grundlagen der Freiheit“ bzw. inwiefern können Institutionen als freiheitsverbürgend gelten? Wie sieht das Kriterium der Freiheit aus, dem die „äußere Wirklichkeit“ (90) zu unterwerfen sei? Den Schlüssel zu einem derartigen Freiheitsverständnis verortet Honneth in Hegels Hervorhebung des »Bei-sich-selbst-Sein im Anderen«, dem Motiv der wechselseitigen und symmetrischen Anerkennung (vgl. 84ff). Für die Idee der sozialen Freiheit bedeutet das wie Honneth folgert: „[S]ie ist in einer Vorstellung sozialer Institutionen begründet, die die Subjekte sich derart aufeinander beziehen läßt, daß sie ihr Gegenüber als Anderen ihrer Selbst begreifen können.“ (85) Denn die Erfahrung der Bestätigung der eigenen Wünsche und Ziele durch die Anderen ist Bedingung der Realisation eben dieser Wünsche.

An dieser Stelle kommen die Institutionen ins Spiel: Von Hegel werden sie als „soziale Voraussetzung“ solcher Anerkennung begriffen. Es bedarf der „Existenz normierter Verhaltenspraktiken“, die die „Anerkennung der Komplementarität von Zielen und Wünschen“ (86) ermöglichen. Deshalb kann Honneth folgern, „daß wir uns solange nicht als wirklich frei erfahren können, wie wir nicht in der äußeren Wirklichkeit die Voraussetzungen für eine Umsetzung unserer selbstbestimmten Ziele vorfinden.“ (90) Damit gilt also auch für das Nachdenken über Freiheit: Institutions do matter! Die scheinbar stillschweigend unterstellte Voraussetzung einer »Wunschkomplementarität« wird Hegels Modell zufolge durch einen (ebenfalls) institutionenvermittelten Lernprozess erreicht, der mit Hegel als Bildung bezeichnet werden kann. Während Honneth an dieser Stelle vollkommen offen lässt, woher derartige Praktiken kommen weist er bereits auf die Zirkularität des Hegelschen »Bildungs«-Prozesses hin: „Wie in einem Kreislauf sorgt die Sozialisation in institutionellen Komplexen der Anerkennung dafür, daß die Subjekte allgemeine, ergänzungsbedürftige Ziele auszubilden lernen, die sie später dann allein durch reziproke Praktiken erfüllen können, kraft derer jene Institutionen am Leben bleiben.“ (93) Mit dieser Zirkularität ist ein Ansatzpunkt für eine kritische Nachfrage gegeben, der ich mich jedoch erst weiter unten zuwenden möchte.

Welche Implikationen bedeutet die bis hierhin nachgezeichnete Fassung des Freiheitsbegriffs für eine Gerechtigkeitstheorie? Vergegenwärtigt man sich Honneths formale Bestimmung gerechter Verhältnisse – „Als »gerecht« muß gelten, was den Schutz, die Förderung oder die Verwirklichung der Autonomie aller Gesellschaftsmitglieder gewährleistet.“ (40) –, bedeutet dies, dass institutionelle Komplexe gerecht sind, sofern sie wechselseitige und symmetrische Anerkennung gewährleisten (bzw. die „Chance zur Partizipation an Anerkennungsinstitutionen“ (115)). Die Gesamtheit dieser Gewährleistungsstrukturen wird von Hegel als Sittlichkeit zu erfassen versucht. Fraglos schützt und fördert auch die Gewährleistung von negativer und reflexiver Freiheit die Autonomie, doch die Eingebundenheit in soziale Strukturen ist deren Ausübung stets vorgängig. Hierin liegt der Sinn der eingangs zitierten Hegel-Passage und in dieser Einsicht kumuliert zu Recht auch die Honnethsche Einschätzung, dass Hegel uns heute noch etwas zu sagen hat. Für Honneth und Hegel impliziert das eine „Umkehrung des Verhältnisses von Sozialordnung und legitimationssichernder Prozedur“ (109), weil es nur dann Sinn mache, über legitimationssichernde Prozeduren bzw. die Wahrnehmung von Rückzugsrechten nachzudenken, wenn vorausgesetzt werden kann, dass „die Subjekte in der Erfahrung von wechselseitiger Anerkennung ihre soziale Freiheit [bereits] realisiert“ (ebd.) haben.

Für Hegels spezifisches Vorhaben, das Kartographieren der sittlichen Verhältnisse der »neuen Zeit«, impliziert dies, dass er die allgemeinen, von den Individuen nur gemeinsam und in Wechselseitigkeit erreichbaren Zwecke zu identifizieren hat, um ihnen dann reale Institutionenkomplexe – in denen diese bereits (teilweise) verwirklicht sind – zuordnen zu können. Die Trennung von Sein und Sollen ablehnend greift Hegel auf ein Verfahren zu, welches in einer ihres vernunftmetaphysischen Gewandes entkleideten Form der von Honneth bereits angesprochenen (22ff) Methode der normativen Rekonstruktion entspreche (105ff; 120f). Fraglich bleibt diesbezüglich, inwiefern der „korrektive[] Vergleich[] zwischen Reflexionen darüber, welche Ziele Individuen vernünftigerweise verfolgen sollten, und empirischen Bestimmungen der Bedürfnissozialisation in der Moderne“ (106) dahingehend ausbalanciert werden kann, dass die letztlich doch konstruierten, allgemeinen Zielbestimmungen die empirische Erhebung nicht zumindest geringfügig beeinflussen.

Davon abgesehen ergibt sich jedoch eine andere Problematik: Wenn man der Konzeption von Freiheit und Gerechtigkeit im Sinne Hegels folgt, stellt sich als Anschlussfrage, inwiefern die Anerkennungsmaßstäbe selbst als gerecht zu bewerten sind bzw. wie im Falle scheinbarer Ungerechtigkeit zu verfahren sei. Honneth, der sich eines solchen Einwands im Voraus gewiss sein durfte, versucht sich mit Verweis auf die Hegelsche Re-Integration der negativen und reflexiven Freiheit in das System der Sittlichkeit abzusichern. Beide Freiheiten müssen auf die sittlichen Institutionen „angewendet werden dürfen“, es muss möglich sein, diese zu „testen und gegebenenfalls auch zu verlassen“ (115). Stellt sich für den geschichtsteleologischen Hegel dieses Problem aber ohnehin nicht in dringlicher Form (vgl. 111f), so meint Honneth, dass auch ein von metaphysischen Grundlagen gereinigter Hegel einen Indikator zur Bewertung zu bieten habe: Die „vitale Aufrechterhaltung“ (112) von Anerkennungsinstitutionen durch die Gesellschaftsmitglieder, basierend auf deren „Überzeugungen“ (ebd.), in lebenswerteren Institutionen als zuvor eingebunden zu sein. Diesen Komplex beschließend vermerkt Honneth, ohne dass dabei klar wird, inwieweit er hier Hegel nur wiedergibt oder ihm zu folgen bereit ist: „Solange die Subjekte die freiheitsverbürgenden Institutionen in ihrem Handeln aktiv aufrechterhalten und reproduzieren, darf das als theoretischer Beleg für ihren geschichtlichen Wert gelten.“ (112) Diese Aussage erscheint höchst problematisch und selbst wenn Hegel hier nur wiedergeben werden soll, wäre eine Distanzierung angebracht. So schwierig eine Ideologiekritik auch sein mag, hat Marx mit seinem Insistieren darauf einen Punkt: Hegel selbst lädt zu einem solchen Vorhaben ein, spricht er doch in der Enzyklopädie (dort Bd. III, § 410) mit Blick auf die Etablierung sittlicher Praktiken und Institutionen von der mittels Bildung erreichten Gewöhnung an diese und erhofft sich daraus resultierend deren »Verwandlung« zu einer „zweiten Natur“ (ebd.). Er verwendet eben jene Terminologie, die Marx in seinem Fetisch-Kapitel aufgreifen wird, um das Wesen der Ware als „gesellschaftliche Natureigenschaft“ (MEW 23, 86) anzuprangern. Damit soll zum Ausdruck kommen, dass eine bloß positivistische Erfassung der lebendigen Reproduktion von Anerkennungsinstitutionen zu kurz gedacht sein könnte. Dass Honneth sich repressiver und ordnungsreproduzierender Anerkennungsmechanismen sehr wohl bewusst ist, zeigen einige andere seiner Schriften. Ein derartiger Verweis wäre an dieser Stelle angebracht gewesen.

Der Ertrag der Honnethschen Reaktualisierung des Ansatzes Hegels wird sich an der konkret-historischen Anreicherung in den folgenden Kapiteln zu zeigen haben. Der als Übergang gedachte und vielversprechend betitelte Abschnitt zur Idee der demokratischen Sittlichkeit irritiert in erster Linie dadurch, dass das Wort »Demokratie« nie und »demokratisch« nur ein einziges Mal (124) verwendet wird. Honneth rekapituliert im Wesentlichen die zentralen Prämissen und wenngleich dies für Quereinsteiger_innen durchaus hilfreich sein kann, lässt es etwas enttäuscht zurück. Denkbar wäre eine Charakterisierung des »demokratischen« an der Idee der demokratischen Sittlichkeit gewesen, oder auch die Situierung im Feld anderer Wiederbelebungsversuche des Sittlichkeitskonzeptes, wie etwa von Albrecht Wellmer, Dana Villa, Bernd Ladwig, Steffen Schmidt oder auch Charles Taylor versucht. Anknüpfungspunkte hätte es also zu genüge gegeben, die aber zumindest in diesem Abschnitt nicht berücksichtigt werden.

[Gesamtübersicht zum Lesekreis]

Paul Sörensen promoviert am Lehrstuhl für allgemeine und theoretische Soziologie sowie in der Doktorand_innenschule Laboratorium Aufklärung der FSU Jena. In seiner Dissertation versucht er den Entfremdungsbegriff für die politische Theorie fruchtbar zu machen und sucht dazu Unterstützung bei Hannah Arendt und Cornelius Castoriadis.


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