Honneth-Lesekreis (2): Nicht Additiv, sondern Medium von Freiheit: Honneths Rekonstruktion der Hegelschen Sittlichkeitsidee

Teil III (Die soziale Freiheit und ihre Sittlichkeitslehre) und Übergang (Die Idee der demokratischen Sittlichkeit) (S. 81-126)

»Das Rechtliche und das Moralische kann nicht für sich existieren, und sie müssen das Sittliche zum Träger und zur Grundlage haben […] [D]as Recht existiert nur als Zweig eines Ganzen, als sich anrankende Pflanze eines an und für sich festen Baumes.«

Mit diesen Worten beschließt Hegel in der Rechtsphilosophie (§ 141 Z) seine Darstellung des abstrakten Rechts und der Moralität. Als Leitprämisse könnte die Aussage zu Beginn wie auch am Ende des Abschnittes zur sozialen Freiheit stehen, geht es Honneth hier doch darum, den grundlegenderen Charakter des komplexesten Modells von Freiheit (vgl. 42f) aufzuweisen. Diesen wirft er Hegel folgend vor, die „sozialen Bedingungen, die die Ausübung der jeweils gemeinten Freiheit erst ermöglichen würden, [nicht] selbst schon als Bestandteile von Freiheit“ zu deuten, mithin die „gesellschaftlichen Realisierungschancen“ (79) auszublenden. Honneth erhebt den Vorwurf der Institutionenvergessenheit und hält fest, dass die objektive Wirklichkeit einem solchen Verständnis folgend von den selbstbestimmt Handelnden „als vollständig heteronom begriffen werden muß“ (83). Auf dieses Motiv kommt Honneth im Folgenden immer wieder zurück.

Ein Freiheitsbegriff müsse auch die institutionelle Dimension in den Blick nehmen und Honneth sieht Hegel dazu auf der richtigen Spur. Doch was ist gemeint mit den „institutionellen Grundlagen der Freiheit“ bzw. inwiefern können Institutionen als freiheitsverbürgend gelten? Wie sieht das Kriterium der Freiheit aus, dem die „äußere Wirklichkeit“ (90) zu unterwerfen sei? Den Schlüssel zu einem derartigen Freiheitsverständnis verortet Honneth in Hegels Hervorhebung des »Bei-sich-selbst-Sein im Anderen«, dem Motiv der wechselseitigen und symmetrischen Anerkennung (vgl. 84ff). Für die Idee der sozialen Freiheit bedeutet das wie Honneth folgert: „[S]ie ist in einer Vorstellung sozialer Institutionen begründet, die die Subjekte sich derart aufeinander beziehen läßt, daß sie ihr Gegenüber als Anderen ihrer Selbst begreifen können.“ (85) Denn die Erfahrung der Bestätigung der eigenen Wünsche und Ziele durch die Anderen ist Bedingung der Realisation eben dieser Wünsche.

An dieser Stelle kommen die Institutionen ins Spiel: Von Hegel werden sie als „soziale Voraussetzung“ solcher Anerkennung begriffen. Es bedarf der „Existenz normierter Verhaltenspraktiken“, die die „Anerkennung der Komplementarität von Zielen und Wünschen“ (86) ermöglichen. Deshalb kann Honneth folgern, „daß wir uns solange nicht als wirklich frei erfahren können, wie wir nicht in der äußeren Wirklichkeit die Voraussetzungen für eine Umsetzung unserer selbstbestimmten Ziele vorfinden.“ (90) Damit gilt also auch für das Nachdenken über Freiheit: Institutions do matter! Die scheinbar stillschweigend unterstellte Voraussetzung einer »Wunschkomplementarität« wird Hegels Modell zufolge durch einen (ebenfalls) institutionenvermittelten Lernprozess erreicht, der mit Hegel als Bildung bezeichnet werden kann. Während Honneth an dieser Stelle vollkommen offen lässt, woher derartige Praktiken kommen weist er bereits auf die Zirkularität des Hegelschen »Bildungs«-Prozesses hin: „Wie in einem Kreislauf sorgt die Sozialisation in institutionellen Komplexen der Anerkennung dafür, daß die Subjekte allgemeine, ergänzungsbedürftige Ziele auszubilden lernen, die sie später dann allein durch reziproke Praktiken erfüllen können, kraft derer jene Institutionen am Leben bleiben.“ (93) Mit dieser Zirkularität ist ein Ansatzpunkt für eine kritische Nachfrage gegeben, der ich mich jedoch erst weiter unten zuwenden möchte.

Welche Implikationen bedeutet die bis hierhin nachgezeichnete Fassung des Freiheitsbegriffs für eine Gerechtigkeitstheorie? Vergegenwärtigt man sich Honneths formale Bestimmung gerechter Verhältnisse – „Als »gerecht« muß gelten, was den Schutz, die Förderung oder die Verwirklichung der Autonomie aller Gesellschaftsmitglieder gewährleistet.“ (40) –, bedeutet dies, dass institutionelle Komplexe gerecht sind, sofern sie wechselseitige und symmetrische Anerkennung gewährleisten (bzw. die „Chance zur Partizipation an Anerkennungsinstitutionen“ (115)). Die Gesamtheit dieser Gewährleistungsstrukturen wird von Hegel als Sittlichkeit zu erfassen versucht. Fraglos schützt und fördert auch die Gewährleistung von negativer und reflexiver Freiheit die Autonomie, doch die Eingebundenheit in soziale Strukturen ist deren Ausübung stets vorgängig. Hierin liegt der Sinn der eingangs zitierten Hegel-Passage und in dieser Einsicht kumuliert zu Recht auch die Honnethsche Einschätzung, dass Hegel uns heute noch etwas zu sagen hat. Für Honneth und Hegel impliziert das eine „Umkehrung des Verhältnisses von Sozialordnung und legitimationssichernder Prozedur“ (109), weil es nur dann Sinn mache, über legitimationssichernde Prozeduren bzw. die Wahrnehmung von Rückzugsrechten nachzudenken, wenn vorausgesetzt werden kann, dass „die Subjekte in der Erfahrung von wechselseitiger Anerkennung ihre soziale Freiheit [bereits] realisiert“ (ebd.) haben.

Für Hegels spezifisches Vorhaben, das Kartographieren der sittlichen Verhältnisse der »neuen Zeit«, impliziert dies, dass er die allgemeinen, von den Individuen nur gemeinsam und in Wechselseitigkeit erreichbaren Zwecke zu identifizieren hat, um ihnen dann reale Institutionenkomplexe – in denen diese bereits (teilweise) verwirklicht sind – zuordnen zu können. Die Trennung von Sein und Sollen ablehnend greift Hegel auf ein Verfahren zu, welches in einer ihres vernunftmetaphysischen Gewandes entkleideten Form der von Honneth bereits angesprochenen (22ff) Methode der normativen Rekonstruktion entspreche (105ff; 120f). Fraglich bleibt diesbezüglich, inwiefern der „korrektive[] Vergleich[] zwischen Reflexionen darüber, welche Ziele Individuen vernünftigerweise verfolgen sollten, und empirischen Bestimmungen der Bedürfnissozialisation in der Moderne“ (106) dahingehend ausbalanciert werden kann, dass die letztlich doch konstruierten, allgemeinen Zielbestimmungen die empirische Erhebung nicht zumindest geringfügig beeinflussen.

Davon abgesehen ergibt sich jedoch eine andere Problematik: Wenn man der Konzeption von Freiheit und Gerechtigkeit im Sinne Hegels folgt, stellt sich als Anschlussfrage, inwiefern die Anerkennungsmaßstäbe selbst als gerecht zu bewerten sind bzw. wie im Falle scheinbarer Ungerechtigkeit zu verfahren sei. Honneth, der sich eines solchen Einwands im Voraus gewiss sein durfte, versucht sich mit Verweis auf die Hegelsche Re-Integration der negativen und reflexiven Freiheit in das System der Sittlichkeit abzusichern. Beide Freiheiten müssen auf die sittlichen Institutionen „angewendet werden dürfen“, es muss möglich sein, diese zu „testen und gegebenenfalls auch zu verlassen“ (115). Stellt sich für den geschichtsteleologischen Hegel dieses Problem aber ohnehin nicht in dringlicher Form (vgl. 111f), so meint Honneth, dass auch ein von metaphysischen Grundlagen gereinigter Hegel einen Indikator zur Bewertung zu bieten habe: Die „vitale Aufrechterhaltung“ (112) von Anerkennungsinstitutionen durch die Gesellschaftsmitglieder, basierend auf deren „Überzeugungen“ (ebd.), in lebenswerteren Institutionen als zuvor eingebunden zu sein. Diesen Komplex beschließend vermerkt Honneth, ohne dass dabei klar wird, inwieweit er hier Hegel nur wiedergibt oder ihm zu folgen bereit ist: „Solange die Subjekte die freiheitsverbürgenden Institutionen in ihrem Handeln aktiv aufrechterhalten und reproduzieren, darf das als theoretischer Beleg für ihren geschichtlichen Wert gelten.“ (112) Diese Aussage erscheint höchst problematisch und selbst wenn Hegel hier nur wiedergeben werden soll, wäre eine Distanzierung angebracht. So schwierig eine Ideologiekritik auch sein mag, hat Marx mit seinem Insistieren darauf einen Punkt: Hegel selbst lädt zu einem solchen Vorhaben ein, spricht er doch in der Enzyklopädie (dort Bd. III, § 410) mit Blick auf die Etablierung sittlicher Praktiken und Institutionen von der mittels Bildung erreichten Gewöhnung an diese und erhofft sich daraus resultierend deren »Verwandlung« zu einer „zweiten Natur“ (ebd.). Er verwendet eben jene Terminologie, die Marx in seinem Fetisch-Kapitel aufgreifen wird, um das Wesen der Ware als „gesellschaftliche Natureigenschaft“ (MEW 23, 86) anzuprangern. Damit soll zum Ausdruck kommen, dass eine bloß positivistische Erfassung der lebendigen Reproduktion von Anerkennungsinstitutionen zu kurz gedacht sein könnte. Dass Honneth sich repressiver und ordnungsreproduzierender Anerkennungsmechanismen sehr wohl bewusst ist, zeigen einige andere seiner Schriften. Ein derartiger Verweis wäre an dieser Stelle angebracht gewesen.

Der Ertrag der Honnethschen Reaktualisierung des Ansatzes Hegels wird sich an der konkret-historischen Anreicherung in den folgenden Kapiteln zu zeigen haben. Der als Übergang gedachte und vielversprechend betitelte Abschnitt zur Idee der demokratischen Sittlichkeit irritiert in erster Linie dadurch, dass das Wort »Demokratie« nie und »demokratisch« nur ein einziges Mal (124) verwendet wird. Honneth rekapituliert im Wesentlichen die zentralen Prämissen und wenngleich dies für Quereinsteiger_innen durchaus hilfreich sein kann, lässt es etwas enttäuscht zurück. Denkbar wäre eine Charakterisierung des »demokratischen« an der Idee der demokratischen Sittlichkeit gewesen, oder auch die Situierung im Feld anderer Wiederbelebungsversuche des Sittlichkeitskonzeptes, wie etwa von Albrecht Wellmer, Dana Villa, Bernd Ladwig, Steffen Schmidt oder auch Charles Taylor versucht. Anknüpfungspunkte hätte es also zu genüge gegeben, die aber zumindest in diesem Abschnitt nicht berücksichtigt werden.

[Gesamtübersicht zum Lesekreis]

Paul Sörensen promoviert am Lehrstuhl für allgemeine und theoretische Soziologie sowie in der Doktorand_innenschule Laboratorium Aufklärung der FSU Jena. In seiner Dissertation versucht er den Entfremdungsbegriff für die politische Theorie fruchtbar zu machen und sucht dazu Unterstützung bei Hannah Arendt und Cornelius Castoriadis.

11 Kommentare zu “Honneth-Lesekreis (2): Nicht Additiv, sondern Medium von Freiheit: Honneths Rekonstruktion der Hegelschen Sittlichkeitsidee

  1. Zur Ergänzung hier die Verweise auf die genannten Überlegungen zur Reaktualisierung des Sittlichkeitskonzeptes:
    – Albrecht Wellmer: Endspiele: Die unversöhnte Moderne, 67ff und 85ff
    – Dana Villa: Public Philosophy, S. 49–84
    – Bernd Ladwig: Moderne Sittlichkeit. Grundzüge einer „hegelianischen“ Gesellschaftstheorie des Politischen, in: Buchstein/Schmalz-Bruns [Hg.], Politik der Integration. Symbole, Repräsentation, Institution, 111-136)
    – Steffen Schmidt: Moderne Sittlichkeit? Vorschlag zur Neuaufnahme des Sittlichkeitskonzepts im Anschluß an Hegel, in: Eichenhofer/Vieweg [Hg.], Bildung zur Freiheit. Zeitdiagnose und Theorie im Anschluß an Hegel, 47–62; Oder auch: http://www.bildungzurfreiheit.uni-jena.de
    – Charles Taylor: Hegel and modern society, 125–134
    Mit Blick auf Honneths Überlegungen zu verzerrten bzw. ideologischen Anerkennungsordnungen sind Anerkennung als Ideologie (WestEnd Nr. 1 [2004]) und Rekonstruktive Kritik unter genealogischem Vorbehalt (in seinem Sammelband Pathologien der Vernunft) lesenswert.

  2. Danke, Paul, für den Einleitungskommentar!
    Mich würde eine Frage interessieren, die an das anschließt, was ich zum ersten Abschnitt schon zu artikulieren versucht hatte, nämlich inwiefern eine Art transzendentaler Struktur des Arguments vorliegt. Ich bin mir nicht sicher, ob Honneth das so explizit sagt (und habe das Buch leider gerade nicht da): ist das Argument für den Hegelschen Freiheitsbegriff nicht so etwas wie „um Freiheit (aller drei Arten) überhaupt denken zu können, muss man *immer schon* in sittlichen Strukturen stehen, die Freiheit erst ermöglichen, weil man erst als autonomes Subjekt konstituiert wird“. So ungefähr scheint mir auch Pippins Verständnis des späteren Hegel, und beim Durchlesen von Pauls Kommentar habe ich mich gefragt, ob das hier auch so läuft.
    Falls ja, sieht das nach einem starken Argument aus: andere Theoretiker müssen im Grund genau wie Honneth/Hegel die Strukturen der Sittlichkeit voraussetzen (ob sie wollen oder nicht, sozusagen), aber Honneth/Hegel machen sie zum Thema. Es impliziert aber auch, dass die „Eule der Minerva“ fliegt: Philosophie auf dieser Ebene kann immer erst kommen, wenn die Strukturen schon verwirklicht sind. Ich frage mich, wie sich das zu den „abstrakteren“ Theorien à la Rawls, Cohen etc. verhält – sind diese nicht einfach auf einer ganz anderen Ebene angesiedelt, weil sie sozusagen „nur“ innerhalb der schon vorhandenen Sittlichkeit Vorschläge machen, wie man diese noch gerechter/freier/besser gestalten könnte? Dabei greifen sie aber natürlich auf Inuitionen, Ideen und Argumente zurück, die irgendwie in diesen Strukturen schon da sein müssen oder sich anbieten müssen. Honneth/Hegel dagegen machen das sozusagen on the go, indem in dem Erfassen der Bedingungen der Möglichkeit der eigenen Freiheit auch kritische Prinzipien für deren Weiterentwicklung geliefert werden sollen. Es wäre interessant, zu vergleichen, wie sich die normativen Vorschläge Honneths im Vergleich zu dem, was er als existent analysiert, zu denen von Hegel verhalten – wobei Hegel von seiner Philosophie behauptet hat, dass sie eben nur Eule der Minerva sei (de facto aber einige Dinge vorschlägt, die zu seiner Zeit so nicht realisiert waren), während Honneth bewusst über das Bestehende hinausgehen und sein kritisches Potential entfalten will…
    Die methodischen Fragen werden uns vermutlich weiterverfolgen, man entkommt ihnen bei diesem Text einfach nicht, finde ich – aber das macht auch die Faszination aus!

  3. @Lisa: Ich finde Deine einleitende Einschätzung sehr plausibel und denke, dass man – komplementär zur Minerva-Eule – Hegels Indienstnahme der Philosophie als das »In-Gedanken-fassen-ihrer-Zeit« auch (wenngleich nicht nur) als Vergegenwärtigung der Einbettung in je konkrete sittliche Strukturen verstehen könnte und sollte. Fraglich erscheint mir jedoch, wie immanent Kritik artikuliert/praktiziert werden kann, da ja auch »Voice« (wie es Honneth auf dem Hegel-Kongress in Anlehnung an Albert Hirschman nannte) auf dem Boden der Sittlichkeit erfolgt. Das kann unter Umständen – etwa im hypothetischen Fall einer »totalen« Sozialisation bzw. Bildung – bedeuten, dass zumindest keine »radikale« Kritik an den bestehenden Strukturen geübt werden kann. Dieser Gedanke findet sich in instruktiver Weise auch bei Judith Butler thematisiert, die in ihren anerkennungstheoretischen Überlegungen ja ebenfalls – wenngleich etwas anders gelagert – an Hegel anknüpft (z.B. Die Macht der Geschlechternormen). In einem Interview (in DZfPh 2001/4, S. 591) erwähnt sie: „Die Normen werden uns nicht einfach gegen unseren Willen auferlegt, sondern sie konstituieren den Willen, der wiederum die Normen reartikuliert“. Wenn man sich die Hegelsche Bestimmung von Sittlichkeit als „die Idee der Freiheit, als das lebendige Gute, das in dem Selbstbewusstsein sein Wissen, Wollen und durch dessen Handeln seine Wirklichkeit […] hat“ (RPh §142) vergegenwärtigt, sie mit den Butlerschen Überlegungen zur Willenskonstitution verbindet und einer solchen Einschätzung ein Stück des Weges zu folgen bereit ist, wird man sich eines gewissen Bedürfnisses nach einer (nur?) befragenden Kritik wie sie hier [http://www.theorieblog.de/index.php/2011/07/4021/] im Ausgang von Flügel-Martinsens Überlegungen diskutiert wurde, nicht erwehren können.

  4. Worauf ich damit hinaus möchte ist, dass mir nicht ganz klar ist, inwiefern intentionale kritische Praxis denk- und machbar sein soll. Ein Problem, dass ja auch für Butler eine gewisse Herausforderung bedeutet… Das bedeutet nicht, dass andere, »abstrakte« Ansätze dies besser könnten, denn diese sind eigentlich – auch hier würde ich Lisas Vermutung folgen –auf einer nachgelagerten Ebene zu verorten.

  5. Danke für Deine Antworten, Paul! Es scheint mir in gewisser Weise auf die Frage hinauszulaufen, inwiefern „unzeitgemäße Betrachtungen“ überhaupt möglich sind. Vielleicht eignet sich das Neurath’sche Schiff als Ansatz für eine Antwort – Kritik ist immer nur punktuell und von den anderen tragenden Prinzipien aus denkbar. Allerdings ist dann die Frage, wie wir erkennen, wo die Lecks sind – und wo sich das Schiff überhaupt hinbewegt (oder ob man das gar nicht sagen kann)… letztlich werden wir sehen müssen, wie „kritisch“ Honneths Buch am Ende ist, und ob es z.B. Zufall ist, dass seine Vorschläge für die verschiedenen Sphären (Familie, Markt, Politik) verschieden „radikal“ zu sein scheinen (wenn man davon ausgeht, dass trotz des oft pessimistischen Tonfalls keine Resignation, sondern letztlich Veränderungswille das Entscheidende ist).

  6. Paul, vielen Dank für Deinen Kommentar zu diesem zentralen Kapitel! Hier drei kurze Nachfragen/Kommentare zu Honneths Institutionenbegriff und seinen schwankenden Aussagen zum Verhältnis von abstrakter Gerechtigkeitstheorie, sozialen Institutionen und empirischen Akteursperspektiven. Dieses Verhältnis steht bekanntlich, wie wir bereits festgestellt haben, im Mittelpunkt seiner Kritik an der Rawls’schen Tradition und deren Trennung von idealer und nicht-idealer Theorie.

    1. Honneth definiert seinen Institutionenbegriff, zumindest implizit, über den Begriff der „normativen Gewohnheiten” (S. 92). Sehe ich das richtig? Von „Gewöhnung” als Element der Sittlichkeit redet auch Hegel, der das wiederum von Montesquieu hat. Interessant daran finde ich, dass „Anerkennung” von Honneth früher als bewusste, intentionale Handlung oder Einstellung definiert worden ist. Der Begriff der normativen Gewohnheit verschiebt dagegen den Akzent vom Individuellen ins Kollektive und vom Bewusstsein zu Routine, Habitus und Nerven.

    2. Zumindest in diesem Stadium ist Honneths Institutionenbegriff noch viel zu einfach. Institutionen kann man zwar durchaus so denken, dass sie auf der Einbeziehung des Anderen und dem Bewusstsein der „Ergänzungsbedürftigkeit” (S. 86) der Subjekte beruhen. Aber ist das nicht nur die halbe Wahrheit? Reale Institutionen kombinieren Inklusion und Exklusion. Sie legen fest, wer als relevanter „Anderer“ überhaupt in Frage kommt. Das gilt für die Familie ebenso wie für Staat oder Markt.

    3. Auf S. 106f. rückt Honneth wieder in die Nähe einer quasi-Rawls’schen Konzeption, wenn er von „idealtypischen Bestimmungen“ und den Zielen spricht, „die sich alle menschlichen Subjekte wieder setzen sollten“. Die „vorfindlichen, empirischen Absichten“ (ebd.) sind nur dazu da, ans Ideal angepasst zu werden. Einige Seiten später werden genau diese empirischen Absichten und das Handeln, das aus ihnen folgt, zum Beleg für den Wert der Institutionen: „Solange die Subjekte die freiheitsverbürgenden Institutionen in ihrem Handeln aktiv aufrechterhalten und reproduzieren, darf das als theoretischer Beleg für ihren geschichtlichen Wert gelten“ (S. 112). Liegt hier nicht eine Ungereimtheit vor?

  7. Ich würde gerne noch einmal auf die von Volker in seinem letzten Punkt (und auch schon von Paul) angesprochene Rolle der Reproduktion zu sprechen kommen, nachdem dieser Punkt ja auch schon letzte Woche andiskutiert worden war.

    Unter anderem die von Paul und Volker zitierte Stelle auf S. 112 klingt ja in der Tat recht eindeutig so, als würde Honneth die Tatsache, dass die Gesellschaftsmitglieder bestimmte Werte bzw. die diese verwirklichenden Institutionen reproduzieren, als hinreichendes Indiz für deren normative Güte ansehen. Das allein würde dann wohl wieder die Nachfrage von letzter Woche bzw. eben auch Pauls kritischen Punkt aufwerfen, demzufolge es sich sicherlich nicht bei jeder sozial reproduzierten Institution um eine freiheitsverbürgende Institution handeln kann. Und tatsächlich scheint Honneth ja selbst auch zusätzliche Kriterien anzulegen, wenn er schreibt, dass die normative Rekonstruktion der relevanten reproduzierten Institutionen bzw. Werte nachweisen muss, „dass diesen etablierten Werte neben der sozialen Geltung auch eine moralische Gültigkeit insofern zukommt, als sie mehr an Fassungskraft hinsichtlich des Ziels der Gerechtigkeit besitzen.“ (S. 120) Damit stellt sich aber die Frage, wie genau hier „moralische Gültigkeit“ bzw. das „Ziel[] der Gerechtigkeit“ definiert werden, bzw. inwiefern sie – siehe Volkers Nachfrage – idealtypisch bestimmt werden oder anderweitig unabhängig von der sozialen Reproduktion ermittelt werden können. Honneths eigene, direkt auf der nächsten Seite folgende, Definition von Gerechtigkeit als die „jeweils adäquate Weise der bereichsspezifischen Realisierung von Werten, die zu einer bestimmten Zeit innerhalb einer Gesellschaft auf soziale Akzeptanz stoßen und daher für deren normative Legitimierung verantwortlich sind“ klärt die Frage zumindest für mich noch nicht wirklich – zumal es hier gerade wieder so klingt, als sei die normative Gültigkeit eben doch hinreichend durch die soziale Reproduktion (=“soziale Akzeptanz“?) bestimmt.

    On a different note, hier noch ein ganz kurzer zweiter Punkt, der ebenfalls an letzte Woche anschließt, und zwar an die Frage nach der kulturellen Bedingtheit der normativen Rekonstruktion, oder aber zumindest Honneths spezifischer Rekonstruktion. In diesem Kontext wollte ich nur auf Honneths Rede von „liberaldemokratischen Gesellschaften der Gegenwart“ (S. 124), die offensichtlich sein expliziter Untersuchungsgegenstand sind.

  8. Andreas trifft den Nagel auf den Kopf. Was sind die “zusätzlichen Kriterien” für den Wert von Institutionen, abgesehen von ihrer faktischen Akzeptanz durch die Gesellschaftsmitglieder? Mir ist nicht klar, wie Honneth diese Kriterien ohne einen Zuschuss idealer Theorie bestimmen kann. Falls sich der Lesekreis hier einigen kann, hatten wir schon frühzeitig einen wunden Punkt identifiziert, an dem wir uns dann abarbeiten könnten. Auch das Problem des Geltungsbereichs von Honneths Theorie ist bereits wiederholt angesprochen warden. Hier noch einmal die Ausdrücke, die Honneth selbst im Text als Synonyme verwendet: „hochmoderne Gesellschaften“; „unsere gegenwärtigen Gesellschaften“; „liberaldemokratische Gesellschaften“ (S. 25, 31, 124). Keine Theorie also, mit der Leute in Kairo oder Minsk etwas anfangen könnten?

  9. @ Volker: nicht nur Leute in Kairo oder Minsk haben damit Probleme, wir können uns nicht einmal selbst so historisch verstehen, es sei denn, man geht wie Honneth davon aus, dass „wir“ seit der Französischen Revolution „immer schon“ auf der richtigen Seite (des Fortschritts, der Menschenrechte etc.) gestanden haben. Man muss nicht gleich die große Frage des Gattungsbruchs aufwerfen, es reicht bereits auf die vielen integrationsverbürgenden Momente innerhalb des konservativen Systems zu verweisen (waren die Bismarck’schen Sozialgesetze fortschrittlich?) oder die anti-universalistischen Momente innerhalb der Fortschrittspartei (die Menschenrechte waren bis in die 80ziger Jahre innerhalb der kritischen Theorie ein Anathema). Die Eule der Minerva scheint sehr hoch zu fliegen, wenn das alles in einem Entwicklungsstrom verschwimmt.

  10. @ll

    Honneth führt m.E. durchaus an, welche Kriterien legitime Institutionen auszeichnen. Diese müssen nämlich „allgemeine Interessen“ verwirklichen. Mit anderen Worten müssen die institutionalisierten Handlungsregeln und die damit verbundenen normativen Rollenzuweisungen allgemein und reziprok anerkannt werden können. Die damit realisierte Freiheit ist genau deshalb objektiv (Hegel) bzw. sozial (Honneht), weil As Handlung von allen anderen gewollt wird und umgekehrt; die soziale Welt kommt mir gewissermaßen entgegen und ich ihr.

    Es tut mir Leid, dass ich diese Behauptung nicht am Text belege. Ich habe das Buch gerade nicht da. Ich werde Verweise nachreichen.

  11. @all

    Ich bin in meinem letzten Kommentar einige Textstellen schuldig geblieben. Meine These lautet, dass Honneth durchaus Kriterien dafür angibt, wann eine Institution gerecht ist. Das ist nämlich genau dann der Fall, wenn sie „den Subjekten soziale Muster der reziproken Verwirklichung von Freiheit“ (101) bereitstellt. Damit ist gemeint, dass die individuellen Ziele und Wünsche aller Akteure komplementär so ineinandergreifen müssen, dass ihre Verwirklichung wechselseitig voneinander abhängt (vgl. 85-86). Honneth schreibt:

    „Frei ist das Subjekt letztlich allein dann, wenn es im Rahmen institutionalisierter Praktiken auf ein Gegenüber trifft, mit dem es ein Verhältnis wechselseitiger Anerkennung deswegen verbindet, weil es in dessen Zielen eine Bedingung der Verwirklichung seiner eigenen Ziele erblicken kann“ (86).

    Mit anderen Worten zeichnet sich eine gerechte Institution dadurch aus, dass gleichermaßen gilt:

    (i) Ich tue, was ich will.
    (ii) Ich will, was alle anderen tun.
    (iii) Ich tue, was alle andern wollen.

    Was Honneth meines Erachtens dabei allerdings nicht hinreichend differenziert, ist die Tatsache, dass die individuellen Ziele und Wünsche auf zweierlei Art und Weise verstanden werden können.

    a) Eine Möglichkeit sie im geforderten Sinn als „allgemein“ zu verstehen besteht darin, der institutionell verankerten Praxis ein gemeinsames Ziel zu unterstellen. Weil wir beide den Tisch von x nach y schaffen wollen, übernehme ich es „p“ zu tun, und Du übernimmst „q“. Anders ausgedrückt: Weil es einen gemeinsamen Grund gibt, etwas zu tun, verpflichten wir uns auf bestimmte Ziele und Absichten, um diesen Grund realisieren zu können. Die Rollenverpflichungen sind genau deshalb allgemein zustimmungsfähig, weil sie eine notwendige Bedingung zur Verwirklichung eines vorgängig anerkannten Zweckes darstellen.

    b) Eine zweite Möglichkeit des Verständnisses scheint darin zu bestehen, die individuellen Ziele und Wünsche als vorgängig zu betrachten. In dem Fall gibt es kein allgemein anerkanntes Ziel der gemeinsamen Praxis außer der wechselseitigen Verwirklichung der individuellen Ziele selbst. Die Handlung der anderen wird nur deshalb gewünscht, weil sie Ermöglichungsbedingung der eigenen Wünsche und Ziele ist.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert