theorieblog.de | Honneth-Lesekreis (1) Honneths geschichtsteleologische Rekonstruktion sozialer Freiheit

21. November 2011, Olesen

Einleitung (Gerechtigkeitstheorie als Gesellschaftsanalyse), Teil I (Die negative Freiheit und ihre Vertragskonstruktion) und Teil II (Die reflexive Freiheit und ihre Gerechtigkeitskonzeption) (S. 14-80) 

Die Politische Theorie ist eine besonders selbstreflexive Disziplin. Mehr noch als ihre Kollegen in anderen Fachbereichen stellen politische Theoretiker turnusmäßig die Methoden und Ziele ihrer Disziplin in Frage. So lautet eine vielfach geäußerte Kritik, dass die Politische Theorie zu ahistorisch und normativ verfahre, wenn sie sich an abstrakten Gedankenspielen ergötze, anstatt die politische Realitäten in den Blick zu nehmen. Der Tenor dieser Kritik lautet somit: Zuviel Theorie, zu wenig Politik. Andererseits ernten diejenigen, die sich komplexen historischen Fallstudien oder tagespolitischen Fragen zuwenden, nicht weniger Kritik, da sie — so der bekannte Vorwurf — vermeintlich zu wenig theoretische Tiefe zeigen. Ob sie nun zeitlos oder zeitgebunden verfahren, es scheint als könnten politische Theoretiker es ihren Kollegen nie recht machen.

Trotz dieser trübseligen Ausgangssituation, die nicht viel Anerkennung aus der eigenen Zunft erwarten lässt, will Axel Honneth mit “Das Recht der Freiheit” diese Dichotomie überwinden. Gegen die rein normativ verfahrenden Theorien möchte Honneth eine Gesellschaftsanalyse setzen, welche die politischen Realitäten berücksichtigt, ohne in ihrem Streifzug durch die moderne Philosophiegeschichte theoretisch zu verflachen. Zwar haben Honneths anglo-amerikanische Kollegen Michael Walzer, Alasdair MacIntyre und (in seinem Spätwerk auch) John Rawls bereits vor ihm für eine Übereinstimmung der jeweils gerechtfertigten Prinzipien der Gerechtigkeit mit den herrschenden Überzeugungen ihrer Gesellschaften plädiert, aber Honneth will noch einen Schritt weitergehen und die existierenden Institutionen und herrschenden moralischen Werte selbst prüfen.

Dabei lautet seine Leitidee, dass sich alle Werte der modernen Gesellschaft unter den Wert der Freiheit “im Sinne der Autonomie des Einzelnen” subsumieren lassen. Freiheit habe unsere institutionelle Ordnung mehr geprägt als jeder andere Wert, da sie das Individuum systematisch mit der Gesellschaft verknüpfe (S. 35f.). Honneths Leitidee, Freiheit zur Grundlage seiner Gerechtigkeitstheorie zu machen, beruht auf vier Prämissen. Erstens basiere das Fortbestehen von Gesellschaften auf der kollektiven Ausrichtung an Idealen und Werten (S. 18). Zweitens seien die wichtigsten Werte zugleich Reproduktionsbedingungen der Gesellschaft (S. 20). Um herausarbeiten zu könnnen, welche Werte das Fortbestehen der Gesellschaft sicherstellen, und inwiefern die existierenden Institutionen diese Werte bereits umgesetzt haben, bedürfe es drittens einer “normativen Rekonstruktion”, die den bisher beschrittenen Weg nachzeichnet. Dabei sei viertens mitzubedenken, dass manche Werte instituitionell nicht vollständig ausgeschöpft worden seien und somit noch “Praxispotentiale” besäßen. In ihrer Berücksichtigung dieser “Praxispotentiale” liege sodann auch die kritische Stoßrichtung seiner Theorie, da diese graduelle gesellschaftliche Modifikationen des status quo nach sich ziehen könnten (S. 27).

Honneths “Recht der Freiheit” verdient Lob für seinen Versuch, ein umfangreiches Theoriegebäude zu entwickeln, mit dem er sich selbst treu bleibt und nicht dem anglo-amerikanischen Diskurs hinterher hechelt. Doch seine “normative” Rekonstruktion ist nicht frei von Schwächen. Seinem Hegelianischen Dreischritt von negativer, über reflexiver zu sozialer Freiheit — drei Freiheitsmodelle, die sich im Diskurs der Moderne entwickelt hätten — liegt eine Geschichtsteleologie zugrunde, welche die sukzessive Steigerung und Überlegenheit von Werten proklamiert. Diese Teleologie sei in dem Maße “unvermeidbar”, in dem sie auch von den kritisierten normativen Theorien vorausgesetzt werde (S. 22).

Auf Honneths Fortschrittsgläubigkeit mit historischen Gegenbeispielen zu reagieren, würde den Kern seiner “normativen” Rekonstruktion wohl verfehlen. Trotzdem wirft seine Geschichtsteleogie die Frage auf, ob sie Honneth nicht blind macht für empirische Belege, die einen weniger geradlinigen philosophiegeschichtlichen Verlauf suggerieren würden. Meine Skepsis gegenüber Honneths Streifzug durch die moderne Philosophiegeschichte zielt darauf, dass in ihr wohl schon die wertkonservative (im Sinne einer Werte konservierenden) Stoßrichtung seiner Theorie angelegt ist und sich in der Folge Ungenauigkeiten in Honneths Analyse einschleichen. Beide Aspekte sind miteinander verzahnt: der erste Teil seines Buches steht und fällt damit, ob es Honneth gelingt, jenes kritische Potential zu demonstrieren, das sicherstellt, dass seine Theorie mehr ist als eine Apologie des instutitionellen status quo. Doch dabei überzeichnet er seine Kritik am negativen Freiheitskonzept. Während Honneth die reflexive Freiheitskonzeption in ihren zwei Ausschraffierungen nach Rousseau — einer von Kant auf Selbstgesetzung ausgerichteten und einer von Frühromantikern auf Selbstfindung abzielenden — treffsicher und überzeugend darstellt und aufzeigt, welche institutionellen Konsequenzen daraus gezogen wurden, lassen seine Ausführungen zum negativen Freiheitsbegriff an Differenziertheit vermissen. In dem Bestreben, das kritische Potential seiner Theorie unter Beweis zu stellen und die Notwendigkeit seiner Theorie der “sozialen Freiheit” zu untermauern, überzeichnet er seine Kritik am negativen Freiheitsbegriff.

Im Zentrum von Honneths Darstellung des negativen Freiheitsmodells steht Hobbes’ bekannte Definition, nach der Freiheit in der Abwesenheit äußerer Widerstände bestehe. Doch bereits der Anfang seiner Darstellung zeigt erste Ungenauigkeiten. Zwar spricht Honneth zunächst zutreffend davon, dass innere Beweggründe nicht als Widerstand gelten, weil sie inneren Dispositionen angehören und daher selbstverursacht sind (S. 44), er fügt dann jedoch hinzu, dass motivationale Beschränkungen laut Hobbes bei der Bestimmung natürlicher Freiheit keine Rolle spielen, “weil uns Beobachtern kein Urteil darüber zusteht, was das Subjekt wollen sollte” (S. 46). Dieser Gesichtspunkt scheint mir keineswegs aus Hobbes‘ Theorie zu folgen und bleibt ohne weitere Erläuterung unpräzise. Wirklich ungenau wird Honneth allerdings, wenn er behauptet, dass Hobbes versuche, “mit dem Vorschlag, unter Freiheit einzig die äußerlich ungehinderte Realisierung je eigener Ziele zu verstehen, (…) solchen Vorstellungen von Freiheit öffentlich entgegenzuwirken, die (wie die republikanische; JO) dem Wunsch nach zivilen Assoziationen Auftrieb geben konnten” (S. 46). Die Pointe von Hobbes‘ Argumentation im Leviathan liegt jedoch bekanntlich nicht darin, zivile Organisationen per se verhindern zu wollen, sondern nur diejenigen mit republikanischer Ausrichtung. Doch Honneths Kritik an Hobbes bewegt sich auf noch dünnerem Boden, wenn Honneth aufzeigt, wie der negative Freiheitsbegriff sich auf den Status und Umfang der Gerechtigkeitskonzeption auswirke: “Der Ausgang von einer nur negativen Freiheit erlaubt es nicht, die Staatsbürger und –bürgerinnen selbst als Urheber und Erneuerer ihrer eigenen Rechtsgrundsätze zu begreifen; denn dazu bedürfte es begrifflich im Freiheitsstreben des Einzelnen eines zusätzlichen, höherstufigen Gesichtspunktes, von dem aus es gerechtfertigt wäre, ihm ein Interesse an der Kooperation mit allen anderen zu unterstellen” (55f.). Zwar treten die Staatsbürger bei Hobbes in der Tat nicht als Erneurer auf, aber als Autoren aller Handlungen des Souveräns und somit als Urheber aller staatlichen Entscheidungen, wie der von Honneth zitierte Quentin Skinner in seiner Analyses des Hobbes’schen Repräsentationskonzeptes gezeigt hat.

Trotz dieser rhetorischen Überzeichnungen gelingt es Honneth, die von ihm diskutierten Freiheitsmodelle bis zu ihren Konsequenzen durchzudeklinieren, wenn er etwa bemerkt, dass das negative Freiheitsmodell auf eine “sicherheitspolitische Beschränkung genau jener Freiheit (hinausläuft, JO), deren Erhalt doch ihr ganzer Dreh- und Angelpunkt ist” (S. 56). Auch gelingt es ihm zu zeigen, wie die beiden Stränge der reflexiven Freiheit sich einerseits von der negativen Freiheitskonzeption abheben, andererseits aber die Elemente sozialer Gerechtigkeit lediglich von außen zu ihrem Freiheitsverständnis hinzufügen. Seine Theorie der “sozialen Freiheit” soll dieses Missverhältnis im weiteren Verlauf seines Buches beheben.

Es bleibt abzuwarten, ob sich Honneths geschichtsteleologische “normative Rekonstruktion” als folgenreich für den weiteren Gang seiner Argumentation erweisen wird.

[Gesamtübersicht zum Lesekreis]

Jens Olesen promoviert in Politischer Theorie am Department of Politics and International Relations der University of Oxford. Seine Dissertation befasst sich mit “Methods of Interpretation and their Significance for Political Theory”.


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