Einleitung (Gerechtigkeitstheorie als Gesellschaftsanalyse), Teil I (Die negative Freiheit und ihre Vertragskonstruktion) und Teil II (Die reflexive Freiheit und ihre Gerechtigkeitskonzeption) (S. 14-80)
Die Politische Theorie ist eine besonders selbstreflexive Disziplin. Mehr noch als ihre Kollegen in anderen Fachbereichen stellen politische Theoretiker turnusmäßig die Methoden und Ziele ihrer Disziplin in Frage. So lautet eine vielfach geäußerte Kritik, dass die Politische Theorie zu ahistorisch und normativ verfahre, wenn sie sich an abstrakten Gedankenspielen ergötze, anstatt die politische Realitäten in den Blick zu nehmen. Der Tenor dieser Kritik lautet somit: Zuviel Theorie, zu wenig Politik. Andererseits ernten diejenigen, die sich komplexen historischen Fallstudien oder tagespolitischen Fragen zuwenden, nicht weniger Kritik, da sie — so der bekannte Vorwurf — vermeintlich zu wenig theoretische Tiefe zeigen. Ob sie nun zeitlos oder zeitgebunden verfahren, es scheint als könnten politische Theoretiker es ihren Kollegen nie recht machen.
Trotz dieser trübseligen Ausgangssituation, die nicht viel Anerkennung aus der eigenen Zunft erwarten lässt, will Axel Honneth mit “Das Recht der Freiheit” diese Dichotomie überwinden. Gegen die rein normativ verfahrenden Theorien möchte Honneth eine Gesellschaftsanalyse setzen, welche die politischen Realitäten berücksichtigt, ohne in ihrem Streifzug durch die moderne Philosophiegeschichte theoretisch zu verflachen. Zwar haben Honneths anglo-amerikanische Kollegen Michael Walzer, Alasdair MacIntyre und (in seinem Spätwerk auch) John Rawls bereits vor ihm für eine Übereinstimmung der jeweils gerechtfertigten Prinzipien der Gerechtigkeit mit den herrschenden Überzeugungen ihrer Gesellschaften plädiert, aber Honneth will noch einen Schritt weitergehen und die existierenden Institutionen und herrschenden moralischen Werte selbst prüfen.
Dabei lautet seine Leitidee, dass sich alle Werte der modernen Gesellschaft unter den Wert der Freiheit “im Sinne der Autonomie des Einzelnen” subsumieren lassen. Freiheit habe unsere institutionelle Ordnung mehr geprägt als jeder andere Wert, da sie das Individuum systematisch mit der Gesellschaft verknüpfe (S. 35f.). Honneths Leitidee, Freiheit zur Grundlage seiner Gerechtigkeitstheorie zu machen, beruht auf vier Prämissen. Erstens basiere das Fortbestehen von Gesellschaften auf der kollektiven Ausrichtung an Idealen und Werten (S. 18). Zweitens seien die wichtigsten Werte zugleich Reproduktionsbedingungen der Gesellschaft (S. 20). Um herausarbeiten zu könnnen, welche Werte das Fortbestehen der Gesellschaft sicherstellen, und inwiefern die existierenden Institutionen diese Werte bereits umgesetzt haben, bedürfe es drittens einer “normativen Rekonstruktion”, die den bisher beschrittenen Weg nachzeichnet. Dabei sei viertens mitzubedenken, dass manche Werte instituitionell nicht vollständig ausgeschöpft worden seien und somit noch “Praxispotentiale” besäßen. In ihrer Berücksichtigung dieser “Praxispotentiale” liege sodann auch die kritische Stoßrichtung seiner Theorie, da diese graduelle gesellschaftliche Modifikationen des status quo nach sich ziehen könnten (S. 27).
Honneths “Recht der Freiheit” verdient Lob für seinen Versuch, ein umfangreiches Theoriegebäude zu entwickeln, mit dem er sich selbst treu bleibt und nicht dem anglo-amerikanischen Diskurs hinterher hechelt. Doch seine “normative” Rekonstruktion ist nicht frei von Schwächen. Seinem Hegelianischen Dreischritt von negativer, über reflexiver zu sozialer Freiheit — drei Freiheitsmodelle, die sich im Diskurs der Moderne entwickelt hätten — liegt eine Geschichtsteleologie zugrunde, welche die sukzessive Steigerung und Überlegenheit von Werten proklamiert. Diese Teleologie sei in dem Maße “unvermeidbar”, in dem sie auch von den kritisierten normativen Theorien vorausgesetzt werde (S. 22).
Auf Honneths Fortschrittsgläubigkeit mit historischen Gegenbeispielen zu reagieren, würde den Kern seiner “normativen” Rekonstruktion wohl verfehlen. Trotzdem wirft seine Geschichtsteleogie die Frage auf, ob sie Honneth nicht blind macht für empirische Belege, die einen weniger geradlinigen philosophiegeschichtlichen Verlauf suggerieren würden. Meine Skepsis gegenüber Honneths Streifzug durch die moderne Philosophiegeschichte zielt darauf, dass in ihr wohl schon die wertkonservative (im Sinne einer Werte konservierenden) Stoßrichtung seiner Theorie angelegt ist und sich in der Folge Ungenauigkeiten in Honneths Analyse einschleichen. Beide Aspekte sind miteinander verzahnt: der erste Teil seines Buches steht und fällt damit, ob es Honneth gelingt, jenes kritische Potential zu demonstrieren, das sicherstellt, dass seine Theorie mehr ist als eine Apologie des instutitionellen status quo. Doch dabei überzeichnet er seine Kritik am negativen Freiheitskonzept. Während Honneth die reflexive Freiheitskonzeption in ihren zwei Ausschraffierungen nach Rousseau — einer von Kant auf Selbstgesetzung ausgerichteten und einer von Frühromantikern auf Selbstfindung abzielenden — treffsicher und überzeugend darstellt und aufzeigt, welche institutionellen Konsequenzen daraus gezogen wurden, lassen seine Ausführungen zum negativen Freiheitsbegriff an Differenziertheit vermissen. In dem Bestreben, das kritische Potential seiner Theorie unter Beweis zu stellen und die Notwendigkeit seiner Theorie der “sozialen Freiheit” zu untermauern, überzeichnet er seine Kritik am negativen Freiheitsbegriff.
Im Zentrum von Honneths Darstellung des negativen Freiheitsmodells steht Hobbes’ bekannte Definition, nach der Freiheit in der Abwesenheit äußerer Widerstände bestehe. Doch bereits der Anfang seiner Darstellung zeigt erste Ungenauigkeiten. Zwar spricht Honneth zunächst zutreffend davon, dass innere Beweggründe nicht als Widerstand gelten, weil sie inneren Dispositionen angehören und daher selbstverursacht sind (S. 44), er fügt dann jedoch hinzu, dass motivationale Beschränkungen laut Hobbes bei der Bestimmung natürlicher Freiheit keine Rolle spielen, “weil uns Beobachtern kein Urteil darüber zusteht, was das Subjekt wollen sollte” (S. 46). Dieser Gesichtspunkt scheint mir keineswegs aus Hobbes‘ Theorie zu folgen und bleibt ohne weitere Erläuterung unpräzise. Wirklich ungenau wird Honneth allerdings, wenn er behauptet, dass Hobbes versuche, “mit dem Vorschlag, unter Freiheit einzig die äußerlich ungehinderte Realisierung je eigener Ziele zu verstehen, (…) solchen Vorstellungen von Freiheit öffentlich entgegenzuwirken, die (wie die republikanische; JO) dem Wunsch nach zivilen Assoziationen Auftrieb geben konnten” (S. 46). Die Pointe von Hobbes‘ Argumentation im Leviathan liegt jedoch bekanntlich nicht darin, zivile Organisationen per se verhindern zu wollen, sondern nur diejenigen mit republikanischer Ausrichtung. Doch Honneths Kritik an Hobbes bewegt sich auf noch dünnerem Boden, wenn Honneth aufzeigt, wie der negative Freiheitsbegriff sich auf den Status und Umfang der Gerechtigkeitskonzeption auswirke: “Der Ausgang von einer nur negativen Freiheit erlaubt es nicht, die Staatsbürger und –bürgerinnen selbst als Urheber und Erneuerer ihrer eigenen Rechtsgrundsätze zu begreifen; denn dazu bedürfte es begrifflich im Freiheitsstreben des Einzelnen eines zusätzlichen, höherstufigen Gesichtspunktes, von dem aus es gerechtfertigt wäre, ihm ein Interesse an der Kooperation mit allen anderen zu unterstellen” (55f.). Zwar treten die Staatsbürger bei Hobbes in der Tat nicht als Erneurer auf, aber als Autoren aller Handlungen des Souveräns und somit als Urheber aller staatlichen Entscheidungen, wie der von Honneth zitierte Quentin Skinner in seiner Analyses des Hobbes’schen Repräsentationskonzeptes gezeigt hat.
Trotz dieser rhetorischen Überzeichnungen gelingt es Honneth, die von ihm diskutierten Freiheitsmodelle bis zu ihren Konsequenzen durchzudeklinieren, wenn er etwa bemerkt, dass das negative Freiheitsmodell auf eine “sicherheitspolitische Beschränkung genau jener Freiheit (hinausläuft, JO), deren Erhalt doch ihr ganzer Dreh- und Angelpunkt ist” (S. 56). Auch gelingt es ihm zu zeigen, wie die beiden Stränge der reflexiven Freiheit sich einerseits von der negativen Freiheitskonzeption abheben, andererseits aber die Elemente sozialer Gerechtigkeit lediglich von außen zu ihrem Freiheitsverständnis hinzufügen. Seine Theorie der “sozialen Freiheit” soll dieses Missverhältnis im weiteren Verlauf seines Buches beheben.
Es bleibt abzuwarten, ob sich Honneths geschichtsteleologische “normative Rekonstruktion” als folgenreich für den weiteren Gang seiner Argumentation erweisen wird.
[Gesamtübersicht zum Lesekreis]
Jens Olesen promoviert in Politischer Theorie am Department of Politics and International Relations der University of Oxford. Seine Dissertation befasst sich mit “Methods of Interpretation and their Significance for Political Theory”.
Vielen Dank für den tollen Einstieg!
Ich habe ein paar Fragen und einige Erwiderungen oder Ergänzungen:
1. Spannend, aber in der Einleitung von Honneth nicht genügend ausgeführt, finde ich seine Begründung des obersten Wert der Freiheit; m.E. kommt in der Darstellung zu wenig zum Ausdruck, warum das so ist.
2. Auch den Begriff der Autonomie, für den er mal den Begriff der Freiheit, mal den der Selbstbestimmung verwendet, ist mir nicht ganz klar: Er schreibt, Autonomie (als Selbstbestimmung) sei die „Kraft, zu eigenen Urteilen zu gelangen“ (39) und damit eine praktisch-normative Fähigkeit. Er schreibt ausserdem, sie sei die Fähigkeit, „Gesellschaftsordnungen zu hinterfragen“. Gerecht ist nun das, was die Autonomie schützt, fördert und gewährleistet; ungerecht sind Verhältnisse, in denen Menschen degradiert und diskrimiert werden; müssen nicht schon an dieser Stelle Begriffe von Selbstachtung und Würde mit in die Argumentation hineingenommen werden? Oder laufen auch diese auf den obersten Wert, das Konzept der Freiheit, zu? (Wird dadurch der Freiheitsbegriff überdehnt bzw. unscharf?)
3. Jens schreibt: „Dabei sei viertens mitzubedenken, dass manche Werte instituitionell nicht vollständig ausgeschöpft worden seien und somit noch “Praxispotentiale” besäßen. In ihrer Berücksichtigung dieser “Praxispotentiale” liege sodann auch die kritische Stoßrichtung seiner Theorie“ – Es geht Honneth nicht nur um das Nicht-Ausschöpfen von Werten, sondern auch oder besonders um die Fälle, wenn die Werte verletzt werden; wenn also Ungerechtigkeiten vorliegen. Hier setzt die Gesellschaftskritik an. Daher begeht auch keine „Apologie des Status Quo“, wie Jens schreibt, sonder gerade im Gegenteil. Es geht um die gesellschaftlich legitimierten Werte (23), auf die man sich also geeinigt hat. Die Institutionen werden nun dahingehend kritisch beleuchtet, inwiefern sie gewährleisten, dass diese Werte geschützt, stabilisiert, umgesetzt werden. An dieser Stelle hätte Honneth allerdings schon mal schreiben können, von welchen Werten er spricht (unabhängig von dem obersten Wert der Freiheit).
Alles weitere in einem anderen Kommentar, damit dieser hier nicht zu lang wird 😉
methodisch und inhaltlich überzeugend finde ich übrigens seine ausdifferenzierung dann der verschiedenen freiheitskonzeptionen. er will aber ja nicht das eine durch das andere ersetzt wissen (zB negative durch reflexive freiheit). sondern es wird schon deutlich, wohin es gehen wird: eine gesellschaft ist demnach dann gerecht, wenn sie die verschiedenen formen von freiheit schützt, fördert und verwirklicht. institionen und soziale sphären, die das nicht leisten, sind zu hinterfragen.
Hallo Susanne und Jens,
danke für Kommentare und Fragen! Nur zwei Punkte:
– das „Konservatismusproblem“ müsste man im Grunde komparativ zu anderen methodischen Ansätzen beleuchten, und insbesondere mit der im angloamerikanischen Raum oft verwendeten Methode, abstrakte Prinzipien und deren Verhältnis zueinander anhand von „Intuitionen“ zu bewerten und mit einzelnen Beispielfällen (die dann oft anhand abstrakter Vignetten dargestellt werden) ihre Plausibilität zu prüfen. Da stellt sich dann sofort die Frage, inwieweit diese Intuitionen durch die gesellschaftliche Prägung des Autors mitbeeinflusst werden, und ob dies zu einem mehr oder weniger konservativen Ergebnis führt als die Honneth’sche Methode.
– zur Autonomie als grundlegendem Wert der Moderne: Honneth deutet mehrere Argumentationsstrukturen an, anhand derer man sie als grundlegenden Wert der Moderne ausmachen kan (S. 35ff.): einerseits die Tatsache, dass zahlreiche andere Werte auf sie hinauslaufen. Dann die Möglichkeit, gesellschaftliche Werte (wie v.a. Gerechtigkeit) und die Rechtfertigung vor dem Einzelnen hier zu verknüpfen. Und schließlich die Tatsache, dass Autonomie von zahlreichen Gruppen selbst gefordert wurde. Und auf S. 39 kommt noch der Punkt, dass „der Entwurf gerechter Normen auf keine anderen Kräfte vertrauen darf, als sie dem menschlichen Geist je individuell gegeben sind.“ Das deutet darauf hin, dass Autonomie in gewisser Weise ein Meta-Wert ist: andere Werte fordert man immer aus einer Position der Autonomie heraus. Das finde ich einen sehr interessanten Punkt – mit diesem Argument kann man z.B. gegen jemand, der sich auf historische Traditionen an sich beruft, entgegenhalten, dass es seine autonome Entscheidung ist, die Tradition zu einem Wert zu erklären. Umgekehrt funktioniert das nicht so einfach. Mir kommt es vor, als laufe es auf das Argument hinaus, dass derjenige, der Autonomie nicht als Wert anerkennt, nur noch schweigen, nicht aber im öffentlichen Diskurs die Durchsetzung irgendwelcher anderer Werte fordern kann. Sehe ich das richtig, oder sind das meine vagen Erinnerungen an Apel, die mich hier beeinflussen?
Hallo Jens,
Danke für die Initiative, ich finde eine solche online Diskussion sehr begrüßenswert! Es gibt in Witten auch eine kleine Diskussionsrunde zu Honneths Buch. Ich finde das Buch ziemlich enttäuschend und möchte in Ergänzung zu Jens‘ Ausführungen ganz kurz die Gründe benennen.
1. Die implizierte Geschichtsteleologie ist provinziell, da sie letztlich nur von der französischen Revolution zur alten Bundesrepublik reicht. Europa, Varieties of Capitalism, Globalisierung, Ökologie und die Grenzen des Wachstums oder gar asiatische Alternativen zum westlichen Weg werden nicht einmal erwähnt. Wenn schon Geschichtsteleologie, dann ist mir „the real thing“ lieber, gegenwärtig Fukuyama, „The Origins of Political Order: From Prehuman Times to the French Revolution.
2. Die theoretische Diskussion beschränkt sich auf die gelbe Zone (im alten Frankfurter Verkehrsbetrieb hieß so das Stadtgebiet Frankfurt), d.h. Honneth zitiert nur Klassiker sowie „family and friends“ nimmt aber relevante Gegenpositionen nicht zur Kenntnis. Als Soziologen zitiert er nur den Hegelianer Parsons, wonach alle Gesellschaften durch „ultimate values“ integriert seien. Luhmann würde das anders sehen und auch die meisten empirisch arbeitenden Soziologen würden diese Aussage wohl nicht unterschreiben.
3. Es findet fast keine begriffliche Arbeit statt. Die erste Prämisse „Reproduktion von Gesellschaften ist an gemeinsame Orientierung an tragenden Idealen und Werten gebunden“ (S. 18) hört sich empirisch an, die zweite Prämisse ist hingegen klar normativ, „als Bezugspunkte einer Theorie der Gesellschaft werden nur diejenigen Werte oder Ideale herangezogen, die als normative Ansprüche zugleich Reproduktionsbedingungen der Gesellschaft sind.“ (S. 20) Warum sind das „Prämissen“ statt Thesen? Wie verhalten sie sich zueinander, baut die „Theorie der Gesellschaft“ auf beiden Prämissen oder nur der zweiten auf? Reproduzieren sich faktisch also nur die guten Gesellschaften oder alle Gesellschaften, einschließlich der nicht so guten? Typisch für mangelnde begriffliche Klarheit folgender Satz: „Vieles von dem, worauf jedes Subjekt im Namen der Freiheit ein Recht hat, kann nicht in Form von positiven Rechten gewährt werden.“ (S. 125) Ohne Erläuterung ist der Satz trivial oder falsch. Habe ich ein Recht auf Arbeit in dem von mir gewählten Beruf? Und vielleicht auf ein Recht auf eine erfüllende Liebesbeziehung? Laut UN Konvention habe ich immerhin ein Recht auf regelmäßigen bezahlten Urlaub.
4. Honneth kritisiert ständig das „abstrakte Recht der Moralität“ (z.B. S. 110) bleibt aber selbst bei pauschalisierenden Betrachtungen. Die Kritik an Kant bezieht sich eigentlich auf die Grundlegung, aus der Rechtslehre (und der Anthropologie) lassen sich aber sehr konkret gesellschaftliche Verhältnisse beurteilen. Honneth ignoriert aber die letzten 40 Jahre Kantforschung und hat nach wie vor keinen Bezug zu rechtswissenschaftlichen Diskussion, die bis in Verästelungen geradezu durchtränkt ist mit abstrakt normativen Überlegungen. Wir haben durch die extensive Verfassungsrechtsprechung der letzten 60 Jahre gelernt, dass sich jede beliebige Frage als verfassungsrechtliches Problem formulieren lässt und dann lediglich aus dem abstrakten Grundrechtskatalog heraus die richtige Antwort deduziert werden kann. Ob man das für richtig oder gut hält, ist eine andere Frage, aber diesen Tatbestand in einem Buch über das „Recht der Freiheit“ vollständig zu ignorieren, ist, nun ja, „interesting“.
5. Der Bezug auf Honneths „verallgemeinerbaren Ziele in der Moderne“ ist für eine „normative Rekonstruktion“ nicht hilfreich, da das Kriterium zu unbestimmt ist und Honneth keinerlei Interesse an historischen Vorgängen oder empirischen Entwicklungen hat. Fast jeder historische Fortschritt ist zwiespältig, nie vollzieht er sich so, wie erwartet, oft erfordern neue Erkenntnisse oder Einsichten eine Neubewertung. Von all dem findet sich in Honneths vagem Fortschrittsglauben kein Wort. Was sind „verallgemeinerbaren Ziele der Moderne“, nur die Menschenrechte oder auch ökonomische Entwicklungen, oder gar staatliche Kulturförderung? War Napoleon fortschrittlich, waren es die restaurativen Epochen in Frankreich des 19. Jh., drückt die Musik Wagners ‚partikulare‘ Ziele aus, soll Bayreuth (dennoch) staatlich gefördert werden? Mit einem Interesse an Dialektik von historischen Vorgängen (Modernisierung durch Napoleon) oder der Kasuistik rechtlicher Freiheitsgewährung (staatliche Kulturförderung) könnte man diese Fragen behandeln.
6. Der Suhrkamp Verlag scheint nicht einmal bei verkaufsfördernden Titeln in der Lage zu sein, ein Namensregister und ein vernünftiges Sachregister anzulegen. Das Namensregister fehlt ganz, so dass ich z.B. nicht überprüfen kann, ob Luhmann tatsächlich ganz verschwiegen wird, das Sachregister enthält viel zu wenige Einträge, unter D z.B. nur „Demokratie“ an 22 Stellen.
Hier mein Eindruck von der Grundrichtung der bisherigen Kommentare sowie eine kritische Bemerkung zu Honneths Weber-Lektüre.
(1) Jens (und wohl auch Susanne und Lisa sowie ich selbst) teilen die Grundintention von Honneths Buch, gegen den Zeitgeist konstruktivistischer Gerechtigkeitstheorien das Verfahren einer Art immanenten Kritik zu rehabilitieren. Der Objektbereich der Sozialforschung ist es demnach selbst, der die kritischen Normen hervorbringt, von deren hinreichender Erfüllung wiederum der moralische Fortschritt sowie die Existenz der Gesellschaft überhaupt abhängen. Prinzipien der Gerechtigkeit werden nicht von außen an die gesellschaftlichen Verhältnisse herangetragen. Allerdings werden sie auch nicht einfach aus den bereits wirksamen normativen Erwartungen und Praktiken der Gesellschaftsmitglieder herausgelesen. Honneths dritte Option besteht darin, ein Zwischenreich von „allgemeinen Werten und Normen moderner Gesellschaften“ (S. 26) anzunehmen. Soweit ich sehe, teilen bisher alle Kommentatoren ausser vielleicht Detlef von Daniels zumindest Teile dieser Ausgangsposition.
(2) Jens hat ganz richtig auf Ungereimtheiten der Hobbes-Lektüre von Honneth aufmerksam gemacht. Ich selbst bin gleich am Anfang über die Stelle gestolpert, an der sich Honneth positiv auf Max Webers Begriff der „objektiven Möglichkeit“ (S. 27) bezieht, um sein teleologisches Konzept der „Praxispotentiale“ zu erläutern, in denen künftige soziale Entwicklungen vorgezeichnet sind. Mir scheint es wichtig zu sein, darauf hinzuweisen, dass Weber gerade nicht von Teleologie spricht, sondern von historisch wechselnden Wahrscheinlichkeiten. Wie beim Würfeln, so Weber, sind die Ergebnisse der gesellschaftlichen Entwicklung nicht vorhersehbar und kein Ergebnis einer Teleologie; allerdings werden die Würfel gezinkt, so dass nicht jederzeit alles möglich ist (zu diesem Bild vgl. Weber, Objektive Möglichkeit und adäquate Verursachung in der historischen Kausalbetrachtung, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 3. Aufl., Tübingen: Mohr, 1968, S. 284-5). Die kritische Rezeption einer solchen nicht teleologischen Sichtweise hätte den Vorteil, dass sie die von Honneth selbst an anderen Stellen betonte Brüchigkeit der Fortschrittsgeschichte der Freiheit berücksichtigen könnte, ohne die soziale Entwicklung als völlig ungerichtet und chaotisch zu betrachten.
Hallo zusammen,
Susanne hat darauf hingewiesen, dass Honneth wenig Zeit darauf verwendet zu erläutern, warum Freiheit der zentrale Wert der modernen Gesellschaft sei. Das ist sicher richtig, aber bei genaurerer Betrachtung haben mich seine wenigen Bemerkungen dann doch überzeugt. Insbesondere seine These, nach der Gleichheit erst dann ihr ‘Wertpotential’ ausschöpft, wenn Freiheit bereits vorhanden ist. Dass die Begriffe in den meisten Fällen eng miteinander verwoben sind, ist wohl einer der entscheidenden Gründe, warum Honneths Ausführungen knapp ausfallen. Trotzdem verstehe ich, wenn man—wie Susanne—mehr Rechtfertigung verlangt.
Nach meiner Einschätzung wäre mehr Rechtfertigung an anderer Stelle allerdings wichtiger gewesen, nämlich dort, wo er das kritische Potential seiner Gesellschaftstheorie anreißt. Susanne schreibt, dass es Honneth nicht nur um Werte gehe, die nicht ausgeschöpft würden, sondern auch und vor allem um Fälle, in denen Werte verletzt würden. So wie ich Honneth verstehe handelt es sich nicht um zwei voneinander unterscheidbare Fälle, sondern de facto nur um einen: Institutionen, welche die ihnen inhärenten Werte nicht ausschöpfen, verletzen diese Werte. Mir ist nicht klargeworden, welchen Lösungsvorschlag hier Honneth eigentlich neben bloßer Diagnostik des Problems anbietet. Zugegeben: er räumt die Möglichkeit gradueller Veränderungen dieser Instutitionen ein. Doch wie sollen diese Veränderung geschehen und von wem sollen sie beschlossen werden? Geht Honneth nicht gewissermaßen paradigmatisch von Instutitionen aus, die bereits lange existieren, bevor Du und ich überhaupt das Licht der Welt erblickten? Nimmt er nicht an, dass “man” sich bereits auf die legitimenen Werte und die Art ihrer institutionellen Umsetzung geeinigt hat? Geht Honneths Argumentation also nicht stillschweigend den Weg der klassischen, von ihm (aus anderen Gründen) kritisierten Vertragstheorien in dem Sinne, dass der Vertrag bereits beschlossene Sache ist und wir dadurch, dass wir in dem Land X leben, dem Vertrag implizit zustimmen? Wenn dem so ist, wo bleibt dann die Möglichkeit zur Intervention gegen diagnostizierte Fehlentwicklungen im Hier und Jetzt? Fehlentwicklungen, die nicht nur graduell ausbalanciert, sondern umgehend behoben werden müssen? Mein Eindruck ist, dass Honneth die Notwendigkeit zu solchen (zeitnahen) Interventionen deshalb nicht sieht, weil sich laut seiner Geschichtsteleologie “Fehlentwicklungen” über die longue durée wie von selbst ausgleichen. Wenn dem so ist, dann kann nach meiner Einschätzung von nichts anderem die Rede sein als von einer Apologie des Status quo.
Lisas Vorschlag, dass man durch einen Vergleich mit den von Honneth kritisierten normativen Theorien ermitteln solle, ob er in der Tat eine konservative Theorie vorgelegt habe, zielt in die richtige Richtung. Doch würde dieser Vergleich wohl noch deutlicher das von mir angedeutete Problem aufzeigen, dass seine Geschichtsteleologie ihn unweigerlich auf eine wertkonservative Fährte führt. Anders ausgedrückt: Würde man den Vergleich zwischen Honneths Gesellschaftsanalyse ohne deren geschichtsteleologischen Unterbau und den “Intuitionen” der normativen Theorien anstellen, dann könnte man den die These von der wertkonservativen Stoßrichtung wohl nicht aufrecht erhalten. Denn wenn beide Theorien in diesem fast schon trivialen Sinne konsersativ sind, sagt das nichts über deren Wert aus. Nun “rechtfertigt” Honneth seine Geschichtsteleologie damit, dass—wie ich in meinem Beitrag geschrieben habe— sie in dem Maße ‘unvermeidbar’ sei, in dem sie auch von den kritisierten normativen Theorien vorausgesetzt werde (S. 22). Diese Bemerkung kann man aus mehreren Gründen nicht als Rechtfertigung gelten lassen. Zunächst einmal kann ich nicht erkennen, welche der ihm vorschwebenden normativen Theorien denn wirklich geschichtsteleologisch informiert sind (vielleicht fehlt es mir an Sachkenntnis), noch verstehe ich die angebliche Unvermeidbarkeit. Und der letzte Punkt ist hier wohl der Entscheidende.
Hier kann ich Volkers Kommentar nur zustimmen, dass eine nicht-teleologische Vorgehensweise Honneth für die Heterogenität der Moderne sensibilisiert hätte. Denn ohne geschichtsteleoligischen Unterbau wäre Honneths “normative Rekonstruktion” wohl nicht zwangsläufig auf eine “Fortschrittsgeschichte” hinausgelaufen. Zugegebenermaßen hätte das seine Arbeit an dem Buch noch aufwändiger gemacht als sie ohnehin schon war, aber Hegel ohne Geschichtstelelogie wäre im 21. Jahrhundert vielleicht genau das gewesen, was wir als eine zeitgemäße Gesellschaftstheorie empfinden würden.
@lisa: ich finde das sehr plausibel und spannend, was du (respektive honneth) zur autonomie schreibst und sehe es genauso (also sehe autonomie als diesen hohen wert, auf den andere werte / güter hinauslaufen). trotzdem sind es an den besagten stellen behauptungen bzw. thesen, die erst noch belegt werden müssen; was honneth dann ja im weiteren verlauf macht und anzeigt, in welcher weise freiheit / autonomie in unserem leben und in unserer gesellschaft eine rolle spielen.dennoch hätte das an dieser stelle etwas ausführlicher geraten können.
Gleichzeitig ist es aber freilich auch eine sehr antropozentrische perspektive, ein problem, dass man immer hat, wenn man mit den konzepten autonomie und vernunft arbeitet – im unterschied zu einer bedürfnisorientierten konzeption. was ist mit den menschen und wesen, die nicht autonom leben und urteilen können? ist eine gesellschaft, die „nur“ das fördert / fördern muss, gerecht gegenüber jenen, die davon (von dem autonomiegedanken) gar nichts haben? das ist die altbekannte frage, der ich mich selbst auch immer wieder ausgesetzt sehe, denn auch ich vertrete eine philosophie der achtung der autonomie (und allem, was damit zusammenhängt).
und die frage ist einfach, was alles dazu gehört, um ein leben in autonomie zu führen, ob es da eine liste von gütern gibt usw. das kommt in den ersten kapiteln bisher noch zu kurz, wie gesagt!
und schließlich frage ich mich noch im anschluss an dein statement: derjenige, der autonomie nicht als wert anerkennt, kann dem dann wirklich die diskursmöglichkeit (und damit auch ein sein recht auf rechtfertigung) abgesprochen werden (und damit auch die achtung ihm gegenüber verwehrt werden)? ich glaube nicht! Bzw.: Wie soll man das begründen? Das ist auch das Problem, das man mit der Toleranz immer wieder hat: die Intoleranten nicht tolerieren? Warum? Haben sie ein Recht verwirkt? Wie gesagt: der Ansicht bin ich nicht. Aber da steht man vor einem Problem…
@Jens: deinen Kommentar finde ich sehr gut und bedenkenswert, vor allem was die Festigung existierender, älterer (?) Werte und Strukturen betrifft, die möglicherweise nicht mehr haltbar sind. Aber auch hier stellt sich wieder die Frage: Um welche Werte handelt es sich eigentlich? Oder ist damit nur der Wert der Autonomie, der aber ja sehr viel umfasst, gemeint? Dann ist es doch eigentlich unproblematisch und die Theorie ist offen genug! Denn, wenn wir dieses Konzept der Autonomie überzeugend finden, dann ist es wohl auch plausibel, Institutionen dahingehend zu prüfen, zu kritisieren und verändern, ob sie ihrer Aufgabe, die Autonomie des Einzelnen zu schützen und zu fördern, nachkommen oder nicht.
Was du zur Geschichtsteleologie und ihrem Optimismus schreibst, finde ich recht plausibel!
@Dennis: Finde ich sehr spannend und hilfreich, deine Ausführungen. Kannst du die „relevanten Gegenpositionen“, die du unter Punkt 2 erwähnst, noch etwas genauer benennen, vielleicht auch noch PhilosophInnen? Mich wundert übrigens, warum er nicht Herlinde Pauer-Studers Untersuchung „Autonom leben“ erwähnt, die Freiheit / Autonomie auch als obersten Wert (zB vor Gleichheit) heraushebt. Aber vielleicht kommt das noch.
Für solche Fragen ist es ärgerlich, dass das Buch kein Lit.-Verzeichnis und auch kein Personenregister hat! Und, genau, das Sachregister sehr marginal ist…
Wie aus meinen Kommentaren hervorgeht, finde ich auch viele Punkt verkürzt, zu wenig begründet und „pauschalisierend“, wie Dennis schreibt! Das ist wirklich bedauerlich. Ist das passiert, weil das Buch sonst noch umfangreicher geworden wäre? Oder muss man einfach vieles schon als „gesagt“ verstehen (in den anderen Büchern von Honneth, die ich durchaus kenne, aber das sollte ja nicht unbedingt vorausgesetzt sein).
@Volker: Zu Punkt 1: stimme zu, vielen dank für die art zusammenfassung… Nur ist mir das „Zwischenreich“ selbst noch nicht ganz klar 😉
Noch ein Nachtrag zu meinem Eingangsstatement. Wenn ich darauf hinweise, dass Honneth das Repräsentationskonzept von Hobbes übersieht, demzufolge die vertragsschließenden Individuen qua Vertrag zu Autoren der (zukünftig beschlossenen) Gesetzte des Leviathan werden, dann liegt der Clou in Hobbes Argumentation doch offensichtlich darin, dass diese Individuen sich quasi (und dieses “quasi” verdient, betont zu werden) die Gesetzte selbst geben. Hierbei handelt sich um mehr als Ungereimtheiten in Honneths Hobbes-Lektüre (wie Volker schreibt). Dieser Punkt rüttelt in gewisser Weise an Honneths gesamter Theoretiearchitektur, da die Unterschiede zwischen “negativer” und “reflexiver” Freiheit nun deutlich geringer ausfallen als Honneth sie darstellt.
Dies lässt sich mit einem Blick in die Theoriegeschichte verdeutlichen. Denn auch Rousseau—den Honneth als Vordenker der reflexiven Freiheitsmodelle sieht—führt bekanntlich in seinem Contrat Social einen Gesetzgeber durch die Hintertür ein, der die Gesetze entwirft, die dann von den staatlichen Subjekten beschlossen werden. Natürlich unterscheidet sich der Hobbes’sche Leviathan vom Rousseau’schen Gesetztgeber in vielerlei Hinsicht, u.a. darin, dass er im Gegensatz zum Rousseau’schen legislateur eine fast uneingeschränkte Gesetzgebungskompetenz besitzt. Auch autorisieren die Hobbes’schen Individuen den Leviathan und dessen Gesetzgebung lediglich in einem einmaligen Akt (wobei dieser “Staatsgründungsakt” in der Folge so gut wie alle möglichen Gesetze autorisiert), während bei Rousseau die Subjekte ihre Entscheidungshoheit dauerhaft innehaben. Doch trotz dieser nicht zu leugnenden Unterschiede handelt sich bei beiden Staatstheorien doch in ihrem theoretischen Kern um Selbstgesetzgebungsmodelle, wenn man (und diese Einschränkung ist eine unablässige Voraussetzung meiner Argumentation) Hobbes’ Repräsentationskonzept nicht bloß als rhetorischen Coup liest, sondern es so ernst nimmt wie es ausformuliert wurde.
Insofern komme ich zu einem anderen Schluss als Susanne, weil ich die Ausdifferenzierung der Freiheitsbegriffe bei genauerer Betrachtung für weniger gelungen halte als dies zunächst den Anschein haben mag.
Zur bisherigen, sehr spannenden Debatte hätte ich zunächst einmal zwei Anmerkungen beizusteuern:
(1) Zur Frage nach Freiheit als oberstem Wert, und Susannes kritischer Nachfrage, ob damit nicht der Freiheitsbegriff überdehnt bzw. unscharf werde:
Einerseits finde ich Honneths Argumentation für den zentralen Stellenwert der Freiheit (Danke für die schöne Zusammenfassung, Lisa!) größtenteils überzeugend, insbesondere dort, wo Freiheit als Vorbedingung der Konstitution anderer Werte nachgezeichnet wird. Ich bin allerdings nicht sicher, ob sich diese These so allumfassend aufrechterhalten lässt, wie Honneth sie vertritt. Gestolpert bin ich bei der Lektüre dabei über die kurze Diskussion des Verhältnisses von Freiheit und Gleichheit (S. 35, Fn. 1), wo Honneth auch Gleichheit nicht als „einen eigenständigen Wert“, sondern „als Erläuterung des Werts der individuellen Freiheit“ beschreibt. Überraschend ist hier für mich allein schon, wie schnell Honneth die Idee, Gleichheit könnte ein eigenständiger Wert sein, abtut – bedenkt man, wie einflussreich dieser Begriff in der Geschichte der politischen Theorie war und immer noch ist (vgl. die umfangreiche Egalitarismus-Debatte). Aber auch inhaltlich überzeugt mich sein Argument hier nicht: zwar lässt sich Gleichheit bis zu einem gewissen Grad als Voraussetzung der Realisierung individueller Freiheit verstehen (und zwar nicht nur formal, sondern durchaus auch materiell – vgl. Nancy Frasers Idee der participatory parity und das damit verbundene Argument für Umverteilung), allerdings gibt es ja aber durchaus auch weiterreichende Gleichheitskonzeptionen, die über die für individuelle Freiheit funktional notwendige Gleichheit hinausgehen bzw. sich von diesen unterscheiden (z.B. – siehe Susanne – aus einer bedürfnisorientierten Begründung heraus). Stellen diese also überhaupt nur dann relevante Ideale bzw. Werte dar, wenn sie das Produkt (kollektiver?) Selbstbestimmung sind?
(2) Zur Frage nach dem kritischen Gehalt einer Gesellschaftstheorie, die im Rahmen einer normativen Rekonstruktion gewonnen wird:
Ich habe das Gefühl, dass wir uns an dieser Stelle vielleicht noch einmal genauer darüber verständigen sollten, wie genau das Verfahren der normativen Rekonstruktion (NR) zu verstehen ist. Ich zumindest habe hier noch einige Verständnisprobleme. Dazu gehört unter anderem die Frage, wie die NR innerhalb der den bestehenden gesellschaftlichen Institutionen inhärenten Werte und Ideale unterscheiden kann, welche gerecht sind und welche nicht. Das ist offensichtlich besonders wichtig, da sich ja der kritische Gehalt der Theorie aus dem in den gegenwärtigen Institutionen noch nicht realisierten Potential dieser Werte speisen soll – aber eben nur der gerechten Werte. Das – bereits von Detlef erwähnte – Kriterium scheint hier ja zu sein, dass die entsprechenden Werte „zugleich Reproduktionsbedingungen der jeweils gegebenen Gesellschaft bilden“ (S. 20). Das ist mir aber recht unklar. Was zeichnet solche Reproduktionsbedingungen aus, bzw. von welcher Art von Reproduktion sprechen wir? Dort wo Honneth von „sozialer Reproduktion“ spricht und auf Durkheim und Parsons verweist (S. 23f.) klingt das noch eher klassisch soziologisch nach sozialer Integration – dann aber stellt Detlefs Frage, ob sich nicht auch ‚ungerechte‘ Gesellschaften in diesem Sinne reproduzieren. Tatsächlich spricht Honneth im Folgenden dann ja aber auch vermehrt von „normativer Integration“ (S. 24), was offenbar mehr meint als nur soziale Integration. Damit sind wir aber, scheint mir, wieder am Anfang angelangt, nämlich bei der Frage, was zur normativen Integration beiträgt und was nicht, d.h. was gerecht ist und was ungerecht.
Ganz kurz noch ein zweiter Punt zur NR, der nur kurz angedeutet wird, für mich aber zumindest bisher unklar bleibt: Zu Beginn spricht Honneth davon, dass institutionellen Verkörperungen der zu rekonstruierenden Werte sich als „die konstitutiven Sphären unserer Gesellschaft“ darstellen und es dementsprechend „sphärenspezifische Gerechtigkeitsprinzipien“ zu rekonstruieren gilt (S. 9). Auch wenn sich erahnen lässt, auf welche Sphären Honneth hier abzielt, wüsste ich gerne, wie genau sich das Verfahren der NR zu diesen Sphären verhält. Kann die NR die gesellschaftliche Differenzierung in die je spezifisch vorhandenen Sphären hinterfragen (wie sie es offensichtlich grundsätzlich mit Institutionen tun kann), oder muss sie die Sphären als gegeben akzeptieren? (interessant in diesem Kontext auch der Verweis auf Walzer und Miller)
Schließlich als Frage in die Runde: wie Kontext-abhängig sind jeweils in einer Gesellschaft rekonstruierbaren Werte und Ideale? Honneth weist ja spezifisch darauf hin, dass sozialer und historischer Kontext entscheidend beeinflussen, an welchen Werten sich eine Gesellschaft orientiert (vgl. auch Honneths Kritik an Rechtfertigungs-Theorien: „… weil sich die Art und der Umfang der einzuräumenden Rechtfertigbarkeit jeweils nur an sozialen und historischen Voraussetzungen bemessen werden [sic], die ihrerseits überhaupt erst festlegen, was jeweils als „gerechtfertigt“ gelten kann.“ (S. 39, Fn. 6)). Mit Blick auf welchen Kontext nimmt Honneth aber seine eigene Rekonstruktion vor? Wie einfach kann er dabei über die Grenzen einzelner Gesellschaften etwas über DIE moderne Gesellschaft aussagen? Und welche Gesellschaften sind damit gemeint?
@Jens: Zunächst zum ersten Punkt. Ich finde den Begriff der reflexiven Freiheit auch noch klärungs- und differenzierungsbedürftig. Vor allem ist nicht deutlich, ob und inwiefern das mit positiver Freiheit gleich kommt (das streift Honneth nur an einer Stelle). Denn die sehe ich bei Kant nicht direkt, jedenfalls nicht in der GMS (wohl aber in der MST.)
„Reflexive Freiheit“ scheint mir unterdessen gut auf das Konzept von Herder zu passen, wie Honneth es schildert (und auf andere Konzepte der Selbstverwirlichung und Selbstfindung (zb „Quellen des selbst“, Taylor).
Aber bei Kant müsste man nochmal in anderer Weise von reflexiver Freiheit sprechen bzw. die Unterschiede noch stärker verdeutlichen. ein wichtiger Unterschied zwischen Hobbes und Kant scheint mir indes, dass bei hobbes die einsicht nur aus dem eigeninteresse entspringt, in sicherheit und ohne angst zu leben und aus dem naturzustand heraustreten zu wollen. Bei Kant wird die Einsicht dagegen qua Vernunft aus Achtung gegenüber der eigenen Würde und der Fähigkeit, sich selbst Gesetze geben zu können, entwickelt: wir sind uns selbst das moralische Verhalten schuldig, wie es auch in der zweiten Formel des KI anklingt (Menschheit in der eigenen Person als auch in der Person eines jeden anderen).
@Susanne: Zu Deinem letzten Punkt: ein Absprechen des „Rechts auf Rechtfertigung“ habe ich nicht implizieren wollen – eher ist es so, dass jeder, der dieses Recht fordert, Autonomie schon voraussetzt, wenn auch vielleicht in einem minimalen Sinne. Und möglicherweise kann man dies auch stellvertretend für andere tun. Inwieweit man wirklich Tiere, Natur, usw. mit einbeziehen kann, sei dahingestellt – aber möglicherweise würde Honneth da sagen, dass das einfach nicht sein Thema ist
@alle: Stichwort normative Rechtfertigung: das ist ein Thema, das wir am Ende auf jeden Fall aufgreifen sollten, denn in gewisser Weise gilt da doch „the pudding is in the eating“ (wie auch schon angedeutet wurde). Insofern müssen wir uns am Ende der Lektüre die Frage stellen, welche normativen Veränderungsvorschläge konkret für unsere westlichen Gesellschaften aus der Analyse der bestehenden Institutionen gezogen wurden. Erst dann können wir beurteilen, wie sinnvoll die Methode wirklich ist, wie stark kulturell bedingt, wie gut im Vergleich zur gängigen angelsächsischen Methode sie wirklich ist etc. Damit will ich die Diskussion nicht abwürgen, sondern eher dazu anregen, das im Hinterkopf zu behalten, und später (immer) wieder darauf zurückzukommen, denn damit steht und fällt das ganze Werk in gewisser Weise.
@ Jens, Susanne, Lisa, Volker: Eine kurze Nachfrage: Was heißt es eigentlich, dass eine „Gerechtigkeitstheorie“ nicht „von außen“ an die Gesellschaft „herangetragen“ werden „soll“ (oder darf?) Mir ist keine Theorie bekannt, die rein „von außen“ ansetzt, ohne auf etablierte Rechtspraktiken und Moralvorstellungen Bezug zu nehmen. Der Vorwurf trifft nicht auf Kant zu (wenn man Rechtslehre und Anthropologie mitliest), nicht auf Mill, Rawls, Habermas. Es gibt also kein prominentes Beispiel für eine solche Theorie, es handelt sich bei dem Gegner um einen Pappkamerad. Man könnte sich natürlich in die Situation nicht-westlicher Gesellschaften versetzen (was Honneth nicht tut) und argumentieren, dass „von außen herangetragene“ Theorien unwirksam (oder falsch? oder unmoralisch? man weiß das bei Honneth nie) sind. Aber das würde einen sehr starken Wert von kultureller Autonomie voraussetzen, mit dessen Hilfe sich beispielsweise die Reichweite der Menschenrechte einschränken ließe. Hingegen ist hierzulande jede Philosophie, da letztlich griechischen Ursprungs, „von außen“ an Deutschland herangetragen, jede Wissenschaft ist, da nicht national gebunden potentiell „äußerlich“ und viele Neuerungsbewegungen verweisen auf „von außen herangetragene“ Werte, angefangen vom Christentum bis hin zu den Menschenrechten, deren Genealogie Joas auf Religionsstreitigkeiten im Vorfeld der amerikanischen Revolution zurückführt. Das Argument, dass Theorien oder Werte nicht „von außen herangetragen“ ist also weder methodisch noch normativ einleuchten, hat aber immer ein nationalistisches und anti-amerikanisches Geschmäckle.
Was die „Methode“ der normativen Rekonstruktion anbelangt, stimme ich Lisa zu: wir sollten die von Andreas aufgeworfenen Fragen im Blick behalten und uns anschauen, zu welchen theoretischen Konsequenzen seine „Methode“ führt, oder ob Honneth sie vielleicht weniger stringent anwendet als er das in der Einleitung ankündigt.
Zu Detlefs Frage: So wie ich es verstehe bezieht sich Honneth damit auf vertragstheoretische Konstruktionen à la Hobbes und Rawls (in „A Theory of Justice“), die ihrem Anspruch nach auf gesellschaftlich-relevante Annahmen in der theoretischen Ausgangssituation (state of nature/original position) verzichten und von diesem Punkt aus ihre politische Theorien entwickeln. Relativiert man nun diesen Anspruch (wie Rawls es in „Political Liberalism“ ja interessanter Weise getan hat) und behauptet, dass diese Theorien so weit wie möglich auf gesellschaftlich-relevante Annahmen verzichten (oder in Rawls‘ Fall: dass die Theorie ohnehin nur für den „Westen“ gilt), dann hat Honneth mehr als zwei Pappkameraden vor sich, sondern zwei theoretische Gegenmodelle, insofern nämlich als dass sie Honneths (gesellschaftlich)inhärente Vorgehensweise nicht teilen.
@Detlef 15 und Jens 17. Detlefs Kritik ist interessant, aber ich selbst finde (wie Jens), dass Honneths Abgrenzung von Rawls zu den überzeugenderen Aspekten seines Einstiegs gehört. Natürlich kann man sagen, dass auch Rawls beobachtbare rechtliche und moralische Normen (etwa der amerikanischen Verfassung) theoretisch legitimiert, aber der Anspruch ist doch ein anderer. In einem ersten Schritt „idealer“ Theoriebildung sollen auf dem Umweg über ein sorgfältig konstruiertes Gedankenexperiment Prinzipien der Gerechtigkeit identifiziert werden, mit deren Hilfe dann die Gesellschaft in einem zweiten Schritt „nicht-idealer“ Theoriebildung kritisiert werden soll. Ich finde schon, dass Honneth deutlich macht, was er gegen diese Trennung von idealer und nicht-idealer Theorie und das Rawls’sche Verfahren einer zweistufigen Kritik einzuwenden hat. Zwar spricht auch Honneth schon in „Kampf um Anerkennung“ (S. 281) ausdrücklich vom „Ideal einer Gesellschaft“, in der „alle Subjekte als zugleich autonome und individuierte, als gleichgestellte und doch besondere Personen Anerkennung finden“. Der Unterschied zu Rawls ist, dass für Honneth die ideale Gesellschaft der realen Gesellschaft nicht gegenübersteht, sondern ein Teil von dieser ist. Diese Formulierung, die ich von Durkheim entlehne, ohne dass sie meines Wissens irgendwo von Honneth zitiert worden wäre, trifft gleichwohl den Kern seines alternativen Kritikmodells.
Dass die Rawls-Kritik „ein nationalistisches und anti-amerikanisches Geschmäckle“ hat, kann ich wirklich nicht erkennen. Richtig ist allerdings, und hier liegt Detlef richtig, dass Honneth in nationalstaatlich gebundenen Gesellschaften denkt und nicht klärt, wie sich diese Redeweise zu seinem generalisierenden Diskurs über die Werte und Normen „moderner Gesellschaften“ verhält. Das ist ein echtes Problem.
@Andreas: Bin auch über Honneths Subsumtion der Gleichheit unter die Freiheit gestolpert, die du als deinen ersten Punkt diskutierst. Und ich würde dir in jedem Fall zustimmen, dass es sich hierbei nicht so ohne weiteres um einen common sense handelt. Allerdings hat sich mir die Frage gestellt, ob bspw. bedürfnisorientierte Ansätze nicht auch auf individuelle Freiheit rekurrieren, indem sie eine Umverteilung zur Befriedigung von bestimmten Bedürfnissen mit der Ermöglichung verschiedener Lebenspläne (z.B. über capabilities) rechtfertigen. Damit würde Gleichheit auch wieder auf die Herstellung (gleicher) individueller Selbstbestimmung reduziert.
Interessanterweise lässt sich aber aus dem funktionalen Argument für Gleichheit (also Gleichheit als Ermöglichung von Freiheit) nicht nur Honneths, sondern auch die gegenteilige Schlussfolgerung ziehen. So schreibt z.B. Stefan Gosepath, dass Gleichheit nicht zu einem „Mittel für Freiheit“ degradiert werden kann, vielmehr sei Freiheit „ein Aspekt von Gleichheit“ (Gleiche Gerechtigkeit, S. 294). Gosepath begründet dies damit, dass Gleichheit das Gerechtigkeitsprinzip sei, mit Hilfe dessen Freiheit(en) verteilt werden. Als Prinzip hat es nach Gosepath nicht den gleichen „Stellenwert“ wie das zu verteilende Gut, weil die Verteilung des Gutes auf der Grundlage des Prinzips gerechtfertigt werden muss.
Immerhin sind sich beide einig, dass Gleichheit und Freiheit keine Gegensätze darstellen, wie häufig behauptet, sondern (mehr oder weniger) gleichermaßen wichtig für die Bestimmung von Gerechtigkeit sind. Geht das nur mir so, oder kommt einem da sofort die Rede von einer „Gleichursprünglichkeit“ von Freiheit und Gleichheit in den Sinn? 😉
@wulf und andreas: es ist doch durchaus legitim und m.E. auch überzeugend, einen nonegalitaristischen ansatz zu vertreten und gleichheit nicht als intrinsischen wert anzunehmen. wulf hat daher vollkommen recht, wenn er manche bedürfnisorientierte ansätze auch da einordnet, dass gleichheit als ein abgeleiteter wert verstanden wird. sind darum aber nicht nonuniversalistisch… ich verweise hier zB auf angelika krebs. ich weiß aber auch, dass der nonegalitarismus viele gegner hat wie gosepath oder ladwig, die gleichheit mit einem eigenwert versehen.
Zum Verhältnis von Freiheit und Gleichheit: Auch meines Erachtens liegen diese Werte auf zwei verschiedenen Ebenen: Freiheit ist ein Gut, das in einer bestimmten Weise, eben egalitär, unter allen Menschen verteilt sein soll. Die Gleichheit wiederum ist ein Merkmal unseres moralischen Status als Menschen. Ihr kommt insofern ein Eigenwert zu, als wir diesen Status verinnerlichen sollen. Und indem wir uns nach Maßgabe dieses Status selbst achten, legen wir auch Wert darauf, nicht diskriminierend behandelt zu werden.
Das aber wäre automatisch der Fall, wenn grundlegende Rechte unter uns ungleich verteilt wären. Die Gleichverteilung der Rechte ist uns daher nicht nur wichtig, weil die faktischen Folgen einer diskriminierenden Rechtsordnung für uns nachteilig bis fatal sein könnten. Sie ist uns auch aufgrund ihrer Ausdrucksdimension wichtig: Die Gleichverteilung der Rechte gibt zu erkennen, dass unser moralischer Status in unserer Rechtsordnung Beachtung findet. Ein erster Einwand gegen Honneth wäre daher, dass ihm diese Ausdrucksdimension entgeht, indem er Gleichheit aus Freiheit folgern zu können glaubt.
Zustimmen kann ich ihm darin, dass die hier maßgebliche Freiheit eigentlich Autonomie meint und diese in sich differenziert ist. Von den inneren Spannungen des Autonomieprinzips her ließen sich sicher strukturelle Grundkonflikte in modernen Gesellschaften gut erschließen. Honneths Analyse scheint mir hier eher noch zu harmonisierend zu sein.
Gleichwohl finde ich seinen Monismus der Freiheit nicht überzeugend.
Gehört zur Moderne nicht beispielsweise auch eine zunehmende Sensibilisierung für leibgebundenes Leiden? Warum zum Beispiel finden wir mittlerweile Körperstrafen inakzeptabel, manche Freiheitsstrafen hingegen hinnehmbar oder sogar geboten? Und als „Tierrechtler“ muss ich natürlich hinzufügen: Das gebotene Engagement gegen vermeidbares Leiden und Töten von Tieren lässt sich schwerlich im Rahmen eines Monismus der Freiheit begreifen und begründen.
In diesem Zusammenhang scheint mir bezeichnend, dass Honneth die „sentientistischen“ Traditionen moralischen Denkens völlig ausblendet. Weder der klassische Utilitarismus noch die Mitleidsethiken kommen in seiner vorgeblich umfassenden Nachzeichnung des modernen Werte- und Moralverständnisses überhaupt vor. Diese liest sich daher im Grunde wie ein Selbstgespräch des Deutschen Idealismus.
Im deutschen Ideaismus spielt die Freiheit, verstanden als Autonomie der Person und des Bürgers, zwei verschiedene Rollen: Sie ist Inhalt und auch Medium ethischer, moralischer und politischer „Gesetzgebung“. Dabei soll ihre inhaltliche Schlüsselstellung „reflexiv“ aus ihre Rolle als Medium hervorgehen. In diesem reflexiven Begründungsverfahren steckt aber die Gefahr eines Kategorienfehlers : Nicht jeder Wert, zu dem ich in Freiheit Stellung nehme, ist darum selbst im Grunde ein freiheitsbezogener oder freiheitsdienlicher Wert. Ich kann in Freiheit einsehen, dass leibgebundenes Leiden in sich selbst schlecht und daher prima facie zu vermeiden ist. Das ändert nichts daran, dass die uns bewegenden Grundwerte nicht alle aus einem Guss sind. Wir sollten daher einen Pluralismus einem Monismus der moralisch maßgeblichen Werte vorziehen. Das würde uns, bezogen auf die späteren Abschjnitte von Honneths Buch, auch zu einem vertieften Verständnis der in modernen Gesellschaften institututionalisierten Spannungen verhelfen.
@Bernd: ah, gut, gleich eine Expertenantwort in Sachen Gleichheit :-), Vielen Dank! An dieser Stelle möchte ich die anderen auch auf dein Gespräch im „Philosophischen Radio“ zum Thema Gerechtigkeit hinweisen, was ich sehr gelungen fand (auch wenn ich einiges nicht teile):
http://www.wdr5.de/sendungen/philosophische-radio/s/d/04.11.2011-20.05.html
Leider kann ich aus Zeitgründen nicht so ausführlich antworten, wie es sicherlich angemessen wäre: Zu deinem ersten Absatz. Wieso folgt aus Freiheit als eigenständigem Wert, dass sie auch gleich verteilt sein sollte? Und sprechen wir hier von negativen Grundfreiheiten oder von positiver Freiheit? Gerade die „Freiheit zu etwas“ kann doch durchaus ungleich verteilt werden. Es kommt vielmehr darauf an, dass alle in ihren grundlegenden Ansprüchen geachtet werden, wobei die Betonung auf „alle“ und damit auf dem Universalismus einer Moral liegt (und nicht auf ihrem Egalitarismus). Dass wir in unserem moralischen Status gleich im Sinne von gleichwertig sind, soll damit nicht bestritten werden; ebensowenig, dass es grundlegende Rechte gibt, die allen Menschen zustehen. Aber dies folgt sozusagen aus der Universalisierung. Wenn Freiheit als oberster Wert gilt, heißt das ja nicht, dass man der Gleichheit ihren Wert ganz abspricht, sondern nur, dass es ein abgeleiteter ist.
Ob Honneth einen Monismus vertritt, habe ich mich gefragt: Ist es wirklich so, wenn er Freiheit (Autonomie) zum obersten Wert erklärt, dass dies auch der einzige Wert sein soll? Oder nimmt er nicht doch einen Wertepluralismus an, an dessen Spitze allerdings die Freiheit steht? Ich habe das Buch noch nicht zu Ende gelesen, daher bin ich da wirklich schlicht noch „unwissend“. Aber wenn man sich seine Anerkennungssphären und die entsprechenden Selbstverhältnisse des Selbstvertrauens, der Selbstachtung und der Selbstwertschätzung ansieht, so ist da ja doch eine Sensibilität für leibliches Leiden berücksichtigt. Was das Problem mit den Tieren betrifft. da gebe ich dir allerdings Recht. (Und da zu sagen, das sei einfach nicht Honneths Thema, wie es in einem Kommentar von Lisa antönt, ist ein Totschlagsargument, dem ich nichts abgewinnen kann, darüber muss man trotzdem und gerade bei solchen Ansätzen reden). Deshalb finde ich gut, dass du ansprichst, was Honneth in dieser Hinsicht vermissen lässt.
ps: wobei ich kein missverständnis entstehen lassen will, es gibt natürlich auch grundlegende „freiheiten zu etwas“, wie sie in den sozialen menschenrechten zum ausdruck kommen…auch diese stehen (wie alle menschenrechte) allen zu.
@Susanne, herzlichen Dank für die Verlinkung und für das Lob.
Dies ist ja eine Diskussion zu Honneth, nicht zu Gleichheit als solcher, darum nur knapp:
Warum sollte es nicht möglich sein, Universalist zu sein, ohne Egalitarist zu sein? Eben das kennzeichnete doch alle Weltreligionen bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein. Wenn das aber möglich ist, dann lässt sich Gleichheit auf Universalität nicht reduzieren. Und wenn wir heute alle möglichen Unterschiede zwischen uns, etwa der „Rechtgläubigkeit“ oder der „Ungläubigkeit“, moralisch hinter das gemeinsame Merkmal des Menschseins zurücktreten lassen, so liegt gerade darin unser Egalitarismus: Wir sehen heute zum Zweck der Bestimmung unseres moralischen Status von allen möglichen Unterschieden zwischen uns ab. Eben dieses Abstraktionsverfahren macht unseren Egalitarismus aus.
Ich wollte damit die Diskussion aber nicht von Honneth weg-, und in den Stall meiner eigenen Steckenpferde umlenken. Nur habe ich unter anderem den Eindruck, dass Honneth die Grundfragen der Gerechtigketistheorie gar nicht stellt, weil er die Gleichheit einfach als „Erläuterung des Werts der individuellen Freiheit“ begreift [Fußnote 1 in der Einleitung, und damit hat es sich dann schon]. Das ist schon deshalb nicht überzeugend, weil natürlich auch die Freiheit als Wert ungleich vereilt sein könnte.
Das Argument könnte hier allenfalls eines der formalen Universalisierung sein: Ist Freiheit der allein ausschlaggebende Wert, so ist sie es ohne Ansehen der Personen. Aber man könnte ebensogut argumentieren, dass wir die Freiheit unter allen Personen maximieren sollten, ohne Rücksicht darauf, wie sie unter diesen verteilt ist. Deshalb finde ich Honneths Umgang mit den Grundproblemen der Gerechtigkeitstheorie unzulänglich.
@ Herr von Daniels, Punkt 6: Das Register hat die Form, die es hat, aufgrund des ausdrücklichen Wunsches des Autors. Es folgt, wie Sie sicher bemerkt haben, dem Vorbild des Registers von „Kampf um Anerkennung“.
Herzlich grüßt der Verlag (der die Diskussion mit großen Interesse verfolgt)!