theorieblog.de | Tagungsrückblick: „Colonial Legacies, Postcolonial Contestations“

6. Juli 2011, Rolle

Die Sozial- und Humanwissenschaften zu dekolonisieren, so lautete das Motto der Graduiertenkonferenz Colonial Legacies, Postcolonial Contestations, die zwischen dem 16. und 18. Juni 2011 unter der Leitung von Prof. Dr. Nikita  Dhawan und angesiedelt am Frankfurt Research Center for Postcolonial Studies und dem Exzellenzcluster Normative Orders stattfand. In 24 Panels arbeiteten sich über 100 Vortragende durch einen Parcours von Disziplinen, Theorietraditionen und geographischen Räumen. Meine Wanderung als interessierte Beobachterin führte mich von Korruptionsfällen in Indien, über Fraueneinsatztruppen der USA in Afghanistan, über E-Health Programme in Afrika hin zur Abschluss-Keynote des Historikers Dipesh Chakrabarty (Chicago, USA), der eine Zusammenschau der disparaten Theorien, Räume und Zeiten präsentierte.

Widerstreitende Theorien am Beispiel von Korruption und Staatlichkeit

Das Changieren zwischen postkolonialen Theorieansätzen und solchen, die dezidiert normativen Grundannahmen verpflichtet sind, zeigte das Panel Postcolonial Perspectives on Corruption and Statehood auf. So ging es den Vortragenden Swetha Rao Dhananka (Lausanne, Schweiz) und Ivana Greti-Iulia (Cluj-Napoca, Rumänien) in ihren empirischen Studien um eine Rekonstruktion von Machtverhältnissen bei Korruptionsfällen in Indien und Rumänien und beide legten ihren Überlegungen eine normative Vorstellung „richtig funktionierender Strukturen und Institutionen“ zugrunde, denen gegenüber sie korruptes Handeln als abweichendes Verhalten skizzierten.

Der Beitrag von Peter Finkenbusch und Markus-Michael Müller (Berlin/Leipzig) testete hingegen eine Neubetrachtung des Begriffs „Korruption“. In ihrem Paper entfalteten sie Überlegungen zu informellem Handeln in postkolonialen Staaten. Dort haben, so die Referenten, abweichende und informelle Praktiken oftmals funktionierende staatliche Strukturen hervorgebracht, so dass „Korruption“ hier positiv wirke. Sie folgerten daher Corruption is Good ! (so der Titel des Papers) und argumentierten, Korruption als abweichende Praxis zu beschreiben, erweise sich als moralisierende Projektion aus einer eurozentrischen Perspektive. Beispiele folgten leider wenige, und in der anschließenden Diskussion räumten die Vortragenden ein, dass auch sie korruptes Vorgehen, etwa bei der Verteilung von Grundgütern, entschieden ablehnen. Das Panel erwies sich als produktives Testfeld von Theorien, wobei sich der Dialog zwischen der Moderne verpflichteten und poststrukturalistischen Ansätzen als erhellend zeigte.

Vom Aufbrechen räumlicher Kategorien jenseits von Zentrum und Peripherie

Dem Austesten von theoretischen Ansätzen stand ein Durchmessen geographischer Breiten zur Seite. Einer postkolonialen Perspektive geht es primär darum, Einflussnahmen und Interdependenzen zwischen Zentren und Peripherien zu beschreiben. Die Einflussnahme der USA in Afghanistan war das Thema von Keally McBride und Annick T.R. Wibben (San Francisco, USA), die die Rolle von weiblichen Einsatztruppen in der Sicherheits- und Entwicklungspolitik der USA in Afghanistan beschrieben. Dort werden „Female Engagement Teams“ eingesetzt, um den Kontakt zu afghanischen Frauen zu stärken. Die Referentin schlussfolgerte, dies sei eine Verlängerung bekannter Kolonialisierungsstrategien, ergänzt um ein Fortschreiben stereotyper Geschlechterrollen, da behauptet wird, dass Frauen qua ihrer sozialen Kompetenz besser zur lokalen Bevölkerung vordringen. Die hier aufgezeigte Perspektive des intervenierenden Westens wird zunehmend um weitere räumliche Bezüge erweitert. Denn denkt man Einflussnahme nicht nur in einer einseitigen Machtbeziehung zwischen „Unterdrückenden“ und „Unterdrückten“, sondern konsequent als allgegenwärtiges produktives Kräfteverhältnis, so wird das räumliche Paradigma von Zentrum und Peripherie aufgeweicht und es treten neue Orte in den Blick.

Aufschlussreich erwies sich in diesem Zusammenhang der Vortrag von Vincent Duclos (Montréal, Canada), der die Süd-Süd-Beziehungen zwischen Indien und Afrika im Gesundheitssektor in den Blick nahm. Das indische E-Health Programm, entwickelt durch Formen des Public Private Partnerships, stellt medizinische Expertise in ländlichen Gebieten Afrikas zur Verfügung. Diese Beziehung könne nicht allein in Kategorien der friedlichen Intervention (Entwicklungshilfe) des „gebenden Zentrums“ in der „empfangenden Peripherie“ gedacht werden. Das Programm sei vielmehr auch unternehmerisch angelegt und folge wirtschaftlichen Interessen, also Beziehungsstrukturen, die nicht auf eine bestimmte Richtung begrenzt bleiben. Bei der Betrachtung von wirtschaftlichen Partnerschaften und Handelsbeziehungen gelinge es so, tradierte räumliche Bezüge neu zu fassen.

Ein universalhistorischer Parcours – Dipesh Chakrabartys Abschluss-Keynote

Analog zur Neubetrachtung des Raumes schlug der Historiker und Südasienexperte Dipesh Chakrabarty in seiner Abschluss-Keynote ein neues Vokabular für zeitliche Periodisierungen vor. Er erzählte die Geschichte von der Moderne bis in die Gegenwart, für die er eine Dreigliederung in world-thinking, global-thinking und planetary-thinking vornahm. Unterscheidendes Merkmal ist dabei eine jeweils veränderte Rolle des politischen Subjekts.

Das world-thinking prägte das fortschrittsgläubige, lange 19. Jahrhundert, in dem das dominante Europa in kolonialen Unternehmungen seine Ideen gewaltvoll in die Welt trug. In Bezug auf Indien beschrieb Chakrabarty, dass trotz kolonialer Ausbeutung einzelne Akteure das europäische System adaptierten und danach strebten, „european-like“ zu werden. Die europäischen Akteure produzierten so zugleich ein nichteuropäisches Subjekt („the subaltern subject“). Ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – dem Beginn des global-thinking – sprach Chakrabarty von einer Krise des politischen Subjekts, sowohl des europäischen als auch des nichteuropäischen. In dieser Zeit werde der Begriff des Politischen ins Unendliche ausgedehnt und „everything becomes political“. Akteure konstituierten sich in dieser Sicht nun bereits durch ihre schiere Existenz als politische Subjekte und nicht erst aufgrund ihres liberal-bürgerlichen Handelns, was letztendlich zu ihrem „Verschwinden“ führte, argumentierte Chakrabarty. In diesem Zusammenhang brachte er ein Beispiel von aufständischen „peasants“, die in der Vorstellung des global thinking allein durch ihre Rebellion zu politischen Subjekten werden, ohne dass sie als liberal-bürgerliche Subjekte agieren.

Im planetary-thinking der Gegenwart verschiebe sich der Fokus nun weg von der An- oder Abwesenheit des politischen Subjekts und hin zu dessen Bedingungen („human condition“) in einer sich radikal verändernden Umwelt, so Chakrabarty. Umweltentwicklungen wie die Klimaerwärmung und die damit einhergehende Frage nach der Reglementierung und Verteilung natürlicher Ressourcen sind Themen, die Historiker (einer postkolonialen Tradition) in Zukunft beschäftigen werden. Chakrabartys universalhistorischer Gang durch Theorien, Räume und Zeiten schien den Parcours der gesamten Konferenz zu wiederholen und bot eine ordnende Zusammenschau, die er – trotz teils schematisch bleibender Ausführungen – in einem eloquenten, nuancierten und erhellenden Vokabular vortrug.

Karin Rolle studierte Kulturwissenschaften an der Universität Leipzig, der University of California Davis (USA) und der Univerzita Karlova Prag. Zur Zeit ist sie Stipendiatin der Robert Bosch Stiftung und realisiert in diesem Zusammenhang Kultur- und Bildungsprojekte in Mittel- und Südosteuropa.


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