Letzte Woche haben wir den ZPTH-Beitrag “Die Normativität von Kritik – Ein Minimalmodell” von Oliver Flügel-Martinsen als PDF-Download hier auf dem Theorieblog veröffentlicht – begleitet von einem Kommentar zu dem Artikel von Frieder Vogelmann. Heute antwortet Oliver auf Frieders Kritik sowie die weiteren Kommentare, die bisher zu dem Artikel veröffentlicht wurden. Lest selbst und diskutiert fleißig weiter – nach dem Strich.
Replik von Oliver Flügel-Martinsen
Liebe Theorieblogger, lieber Frieder, liebe Kommentatoren, an erster Stelle möchte ich mich bei Euch allen (ich duze der Einfachheit halber und hoffe auf Zustimmung) herzlich bedanken: Bei den Theoriebloggern für die Möglichkeit auf diese Weise einen Artikel zu diskutieren und bei den Kommentatoren für die klugen, geduldigen und kritischen Kommentare, durch die ich viel gelernt habe und durch die ich, wie sich gleich zeigen wird, auf eine ganze Reihe von Versäumnissen, Ungenauigkeiten und Problemen aufmerksam gemacht wurde, die mir vor den Kommentaren so nicht vor Augen gestanden haben. Dies allein zeigt schon, welche neuen Perspektiven eine solche Weise der Diskussion eines Artikels eröffnet: Selten ist es in den klassischen Formen wissenschaftlichen Austauschs, dass sich eine solch reichhaltige und intensive Diskussion ergeben kann – über sie freue ich mich sehr.
Nun zu meiner Erwiderung auf die Kommentare selbst. Eine unvermeidliche Bitte um Entschuldigung gleich vorab: Es wird mir angesichts der weit reichenden Fragen, die in den Kommentaren aufgeworfen wurden, leider unmöglich sein, zufriedenstellend zu antworten. Manches Versäumnis schuldet sich dem Umstand, dass ein Artikel einen begrenzten Umfang hat, manches aber lässt sich auch darauf zurückführen, dass ich bestimmte Schwierigkeiten selbst vor den Kommentaren nicht gesehen habe. In beiden Fällen werde ich mich darum bemühen, wenigstens Richtungen anzudeuten, wenn ich auch nicht in der Lage sein werde, meine Überlegungen hinlänglich auszuführen. Ich gehe grundsätzlich der Reihe nach durch die Kommentare; führe aber hier und da auch Gesichtspunkte zusammen; greife vor; wähle zuweilen notgedrungen aus. Das Ganze soll zudem eine dem Format angemessene lesbare Länge behalten (1000 Wörter etwa war die sinnvolle Anregung des Blogs); also wird einiges nur angetippt werden können.
Zunächst also zu Frieder, beginnend mit der Frage der Sprache der Kritik: Es ist in der Tat so, dass ich in dem Text versuche einen zugleich analytischen und sinnkritischen Gebrauch einer bestimmten theoretischen Sprache zu machen, der den Sinn der verwendeten Begriffe durchaus in Frage stellen und verschieben soll: Das beste Beispiel dafür ist die Rede von der Normativität selbst, unter der in der Regel eine begründete Wertung verstanden wird. Hier benutze ich diese Attribute auch zunächst zur Beschreibung, versuche dann aber Stück für Stück zu zeigen, dass in der befragenden Öffnung, die eine kritische Distanzierung darstellt, ein mögliches anderes Verständnis normativer Kritik liegt. Das führt mich zum zweiten Punkt, zur Frage danach, wann und wodurch eine Befragung kritisch wird: Hier verweise ich auf dekonstruktive und genealogische Zugänge zur Hermeneutik und würde deshalb sagen, dass sich verschiedene Möglichkeiten ergeben, die Kontrolle jedenfalls nicht beim Autor oder so etwas wie der Autorintention liegen kann, sondern davon wie Texte in Kontexten, die sie bilden und zugleich verschieben, wirken. Beim letzten Punkt, der Frage nach der Befreiung (auch von der Vorgabe der Rechtfertigung), sehe ich eine große Affinität meiner Argumentation zu Frieders Kommentar, denn ich würde ihm in der Tat zustimmen, dass Kritik über die Frage ihrer eigenen Rechtfertigung hinauswuchert. Allerdings heißt das nicht, dass die Frage nach der Rechtfertigung sich nicht stellt: Wenn sie sich stellt, kommt es aber darauf an, wie sie aufgenommen wird. Ich versuche im Grunde zu sagen, dass aus der Frage nach der Rechtfertigung für die Kritik gerade nicht folgt, dass sie sich um eine umfassende Begründung bemühen muss: Sie gewinnt ihre spezifische „Normativität“ durch die Öffnung.
Von hier aus werde ich nun versuchen, die verschiedenen Einwände und Nachfragen abzutasten, die sich auf den Charakter, die Voraussetzungen und die Reichweite dieser befragenden Kritik beziehen: Auf Cords Einwand, dass ich mich mit der befragenden Kritik nicht auf einzelne Handlungen, sondern lediglich auf Überzeugungen beziehe, bin ich versucht zu erwidern, dass mir diese Unterscheidung nicht recht einleuchten will, denn grundsätzlich kann (und wird vielfach auch) jede Handlung im Kontext moderner Lebenswelten auf ihre Rechtfertigung hin befragt und damit verweisen (Einzel-)Handlungen und Überzeugungen aufeinander. Deshalb kann die befragende Kritik, indem sie nach Rechtfertigungsmustern fragt, durchaus auch einzelne Handlungen kritisch in den Blick nehmen. Dass diese Form der Kritik normativ bedeutsam in einem nicht-trivialen Sinne ist, zeigt sich, wenn man Cords Punkte 2 und 3 zusammenzieht: Der Nozick-Anhänger wird, wenn er insistent befragt wird, irgendwann an einen Punkt kommen, an dem sich zeigt, dass Nozicks Gerechtigkeitsmodell auf einer Theorie der Gerechtigkeit aufruht, die unveräußerliche besitzindividualistische Rechte annimmt – und deren Gültigkeit sich radikal befragen lässt. Das Schwert der befragenden Kritik erweist sich gerade hier als ausgesprochen scharf.
Vollkommen richtig ist aus meiner Sicht Jens’ Überlegung, dass die befragende Kritik eine „’nur’ relative und vorübergehende“ sein kann – allerdings beansprucht sie auch gar nicht mehr. Ja, mehr noch: Ihre radikale Pointe liegt nicht zuletzt darin, die Möglichkeit von Kritiken, die mehr als vorübergehend zu sein beanspruchen, zu dementieren. Ihr eigentlicher kritischer Kern verdankt sich schließlich dem Umstand des steten Übergangs und der daraus folgenden Nötigung zur Selbstbefragung. Kurz gesagt: Die befragende Kritik verdankt ihre Möglichkeit dem Umstand, dass es keinem begrifflichen Feld gelingen kann, sich dauerhaft zu schließen – Derrida nennt das eine Autodekonstruktion, die die Dekonstruktion überhaupt erst ermöglicht. Und dieser Umstand wirkt natürlich auf die Kritik zurück, denn auch ihre eigenen Voraussetzungen werden im Zuge der Kritik kritikwürdig. Damit ist auch der Grund genannt, warum diese Kritik, wie Jens anmerkt, negativ verfährt: Sie übersieht keineswegs die konstruktive Kritik, bleibt ihr gegenüber aber skeptisch, greift die konstruktive Variante doch häufig auf Begründungen zurück, deren Möglichkeit aus der Perspektive einer negativen Kritik fragwürdig erscheinen muss. Zudem darf sich Kritik nicht, wie Raymond Geuss unlängst nochmals nachdrücklich unterstrichen hat, auf das Gebot des Konstruktiven verpflichten und damit in gewisser Weise handzahm machen lassen, indem sie diesem Gebot zufolge erst dann erfolgen dürfte, wenn eine bessere Alternative ausgewiesen werden könnte. Diese Zurückweisung des Konstruktivitätsgebots teile ich nachdrücklich.
Das führt mich schließlich Grischas Einwänden: Kann die befragende Kritik, so lautet die fundamentale Rückfrage, in der sich seine Bedenken bündeln lassen, normativ wirklich so zurückhaltend sein, wie sie es suggeriert? Ist nicht die Idee der Öffnung selbst mit der Behauptung normativer Richtigkeit verknüpft? Ja, allerdings, aber in einem sehr spezifischen Sinne. Die Normativität, die sich mit der durch eine kritische Befragung erzielten Öffnung verbindet, ist es ja gerade, die als minimale Normativität gerettet werden soll – allerdings verweist sie, wie ich meine, gerade nicht auf eine Begründung des richtigen Maßstabs. Wie das? Hier muss ich mich, an dieser Stelle wenigstens, auf Andeutungen beschränken, was durchaus problematisch ist, aber alles andere würde zu umfangreiche Argumentationen auf den Plan rufen. Nun also zumindest ein Richtungspfeil: Als Orientierungshilfe mag vielleicht eine Reversibilitätsidee dienen können, die sich im Anschluss an Leforts Überlegungen zu einer Demokratie(theorie) jenseits der Gewissheit formulieren lässt. Aus der Überlegung, dass wir in einem politisch-sozialen Raum jenseits von (letzten) Gewissheiten leben, folgt die normativ folgenreiche Idee, dass demokratisches Selbstregieren zu einem selbstbefragenden Abenteuer wird, das sich nicht durch letzte Werte legitimiert, sondern durch die prinzipielle Reversibilität und damit Offenheit seiner Entscheidungen. Die Öffnung, und auch ihre Normativität, ist so gesehen eine Implikation des Umstands, dass sich Gewissheit in zentralen Fragen nicht herstellen lässt. Für die Normativität der Öffnung und der kritischen Befragung gibt es deshalb keine Begründung, aber sie ist, auf ihre Gründe hin befragt, keineswegs sprachlos: Sie ist der Versuch einer verantwortungsvollen Weise des Umgangs mit dem Umstand der Ungewissheit.
Damit muss ich an dieser Stelle schließen, obwohl ich den kritischen Nachfragen und ihrem Anregungsreichtum nicht gerecht werden konnte. Vielleicht aber reichen die Andeutungen, die ich gegeben habe, zumindest aus, um Richtungen zu markieren und den gemeinsamen Streit um ein angemessenes Verständnis von Kritik fortzusetzen.
Oliver Flügel-Martinsen, Philosoph und Politologe, lehrt Politische Theorie an der Universität Bielefeld. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Feldern der Philosophie und Politischen Theorie der Moderne sowie der Ideengeschichte. Jüngst hat er die Studie Jenseits von Glauben und Wissen. Philosophischer Versuch über das Leben in der Moderne veröffentlicht (Bielefeld: transcript 2011). Gemeinsam mit Andreas Hetzel gibt er im Nomos-Verlag (Baden-Baden) die Reihe Zeitgenössische Diskurse des Politischen heraus.
Dazu ermuntert, die Diskussion weiter zu führen, möchte ich meinen Einwand, den an die Frage der Begründung geknüpften Zweifel an der ‚Minimalität‘ des Minimalmodells, den ich in F.-M. Replik eher bestätigt als entkräftet sehe, noch einmal pointieren.
Auf die Gefahr hin, dass ich hier etwas fundamental übersehe oder falsch verstehe, scheint mir doch auch in der Replik jener performative Widerspruch bestehen zu bleiben, auf den ich auch schon bezüglich des zur Diskussion gestellten ZPTH-Artikels von F.-M. hingewiesen habe. Wurde dort die Normativität des Minimalmodells, die sich „nicht aus Begriffen und Konzeptionen“ speisen sollte, eben mit Begriffen und Konzeptionen dargelegt, so behauptet F.-M. auch in der Replik, dass das Minimalmodell nicht auf eine Begründung des richtigen Maßstabes verweist, um in der Begründung dessen dann eben doch eine sehr manifeste Begründung des richtigen Maßstabs zu explizieren: Der Maßstab, das ist die Reversibilitätsidee, die schon im ZPTH-Text als falsch : „was sich gegen eine Befragung von vorneherein zu immunisieren sucht“ / richtig: die Möglichkeit des „Aufweis des Zukünftig anders-sein-Könnens“ auftaucht. Und die Begründung des Maßstabs ist die – mit allerhand Begriff und Konzeption – betriebene Analyse der nachmetaphysischen oder postlogozenrischen Gegenwart. In der Reihenfolge Begründung – Norm der Replik entnommen: „Aus der Überlegung, dass wir in einem politisch-sozialen Raum jenseits von (letzten) Gewissheiten leben“ ( – die Begründung), „folgt die normativ folgenreiche Idee…“ ( – die Norm). Oder in der Reihenfolge Norm – Begründung: „Die Öffnung, und auch ihre Normativität, ist so gesehen eine Implikation des Umstands, dass sich Gewissheit in zentralen Fragen nicht herstellen lässt“. Wo ist hier der Umstand, dass sich Gewissheit in zentralen Fragen nicht herstellen lässt, etwas anderes als eine als Implikation verschleierte Begründung der eben keinesfalls minimalen Kritik? Was anderes kann die Beantwortung der Frage nach den Gründen des Minimalmodells, die F.-M. zum Ende seiner Replik anführt, performativ liefern als Gründe?
An dieser Stelle lässt sich m.E. der Verdacht erhärten, den Jens, ausgehend von Gadamers Beschreibung des Vorurteils, zum Ende seiner Kritik entfacht hat. Ausgehend vom eigenen Maßstab F.-M., als falsch zu werten, „was sich gegen eine Befragung von vorneherein zu immunisieren sucht, indem es sich als alternativlos darstellt“, erweist sich das Konzept gleichsam schon konzeptimmanent als falsch, indem es den postlogozentrischen Raum, den „Umstand der Ungewissheit“ als alternativlos setzt, als, in Jens‘ Worten, „gar nicht erst befragungswürdig erscheinen[des]“ Vorurteil übernimmt; und darüber hinaus sogar den Status dieser Beschreibung als Maßstabsbegründung negiert, verschleiert.
Mit einer urlaubsbedingten Verspätung möchte ich jetzt die Gelegenheit ergreifen, kurz auf Grischa Schwiegks nochmalige und schärfer gefasste Kritik an meinen Überlegungen zu einer befragenden Kritik zu antworten, um ihm die Antwort auf die von ihm aufgeworfenen Fragen nicht schuldig zu bleiben. Grischa Schwiegk erneuert in seinem zweiten Kommentar seine Bedenken, indem er gleich anfangs davon spricht, dass sich meine Argumentation in einen performativen Widerspruch verwickelt, der darin bestehen soll, dass sie begründungstheoretische Abstinenz beansprucht, aber selbst eine Begründung voraussetzt. Nach meinem Eindruck ist mit diesem zweiten Kommentar ein Punkt erreicht, an dem ein grundlegender Dissens über Verständnis, Aufgaben und Charakter philosophischer Überlegungen zwischen den von Grischa Schwiegk einerseits und mir andererseits vertretenen Positionen sichtbar wird. Diesen Dissens aufzulösen, dürfte aus meiner Sicht vermutlich nur schwer möglich sein. Ich werde mich deshalb darauf beschränken, ihn mit einigen knappen Strichen zu kennzeichnen und dabei wird es mir, wie ich hoffe, auch möglich sein, zugleich noch einmal meine Überlegungen zur begründungstheoretischen Enthaltsamkeit einer befragenden Kritik zumindest umrisshaft zu beleuchten. Eine nicht unwesentliche Differenz deutet sich schon durch die Verwendung des Begriffs des performativen Widerspruchs an, der seinerzeit vor allem von Karl-Otto Apel als schwere Waffe gegen alle Formen skeptischer Bedenken gegenüber Versuchen der Begründung (bei Apel sogar Letztbegründung) normativer Prinzipien ins Feld geführt wurde. Das hinter dieser Rede vom performativen Widerspruch stehende Verständnis philosophischer Begriffsarbeit ist einer befragenden Kritik, wie ich sie im Anschluss an Autorinnen und Autoren wie Foucault, Derrida, Butler u. a. vertrete, grundsätzlich fremd: Wie etwa Derrida immer wieder unterstrichen hat, erweisen sich begriffliche Bestimmungsversuche, betrachtet man sie nur eingehend, stets als widersprüchlich. In dieser Bobachtung liegt gerade die Möglichkeit zu einer Befragung, denn die Widersprüche in den Begriffen selbst setzen geradezu begriffsintern eine selbstbefragende Dynamik in Gang. Mit philosophischen Strategien wie der Dekonstruktion oder auch der Genealogie, die ich als Formen befragender Kritik zu begreifen vorschlage, wird diesem Umstand einer unvermeidlichen Widersprüchlichkeit Rechnung getragen. Hier liegt nun nach meinem Dafürhalten der springende Punkt, an dem sich der Dissens zwischen der von Grischa Schwiegk vertretenen Argumentation und meinen Überlegungen in wesentlichen Hinsichten entzündet: Bewegliche Strategien wie die der Befragung (der Genealogie, der Dekonstruktion) legen selbst eine solch grundlegende Behauptungen wie die der begriffsinternen Widersprüchlichkeit gerade nicht ein für allemal fest. In diesem Fall würde es sich bei ihnen um dogmatische Skeptizismen handeln, die an einem entscheidenden Punkt doch die Gültigkeit eines letzten Aufweises und damit auch einer Begründung voraussetzten. Ein solcher Begründungszug ist aber für die befragende Kritik gar nicht nötig: Sie fordert ja lediglich dazu auf, stets eingehend zu befragen und keine begriffliche Begründung unbefragt zu akzeptieren. Aus dieser Befragungsbewegung ergibt sich, so habe ich zu zeigen versucht, die kritische Befragungspraxis, die normativ bedeutsam, aber nicht auf eine eigene Begründung angewiesen ist. Für Grischa Schwiegk ist diese Insistenz auf der Befragung selbst offenbar schon eine Begründung, die sich zudem nicht als solche zu erkennen geben möchte und die damit zu einer dogmatischen Setzung wird. Dies wäre sie, wie ich angedeutet habe, jedoch nur dann, wenn sie sich selbst in ihrem Zweifeln von der Befragung ausnehmen würde. Das aber ist gerade nicht der Fall. Die Befragung ist reflexiv verfasst. Und was sich im Zuge der Befragung zeigen wird, ist nicht antizipierbar. Schwer vorstellbar ist für mich allerdings in der Tat eine Konstellation, in der eine Befragung überflüssig würde. Warum das als Begründung eines Maßstabes verstanden werden müsste, will mir nach wie vor nicht einleuchten. Damit sind die Konturen des Dissenses hoffentlich schärfer geworden. Er selbst dürfte aber vermutlich nicht ausgeräumt sein.