Die Pfingstwoche an der Uni Frankfurt stand im Zeichen des (Post-)Säkularismus und des (Post-)Kolonialismus. Zeitgleich zu der groß aufgezogenen internationalen Graduiertenkonferenz des Frankfurt Research Center for Postcolonial Studies auf dem Campus Westend („Colonial Legacies, Postcolonial Contestations. Decolonizing the Social Sciences and the Humanities“) fand im Gästehaus der Universität im kleinen Kreis eine Arbeitstagung des Exzellenzclusters Normative Orders zum Thema „A Secular Age or a Postsecular Constellation?“ statt. Beide Events sorgten mit Charles Taylor, José Casanova und Dipesh Chakrabarty für internationale Prominenz auf dem Campus. Der folgende Rückblick befasst sich in erster Linie mit der letztgenannten Konferenz, welche die aktuellen Diskussionen über die Säkularisierungsthese, die Rolle von Religion in der Moderne und das Verhältnis von Politik und Religion in pluralistischen Gesellschaften aus soziologischen, politiktheoretischen, philosophischen und theologischen Blickwinkeln sowie unter besonderer Berücksichtigung des Werks Charles Taylors bearbeitete.
Ein Vortrag Charles Taylors unter der Überschrift „The Meaning of the Post-Secular“ im Rahmen der Ringvorlesung des Exzellenzclusters zum Thema „Postsäkularismus“ bildete den Auftakt zur Tagung „A Secular Age or a Postsecular Constellation?“. Taylor interpretierte den von Habermas ins Spiel gebrachten Begriff des „Postsäkularismus“ nicht als eine Rückkehr von Religion im Sinne eines Wiedererstarkens religiöser Überzeugungen und Praktiken, sondern im Sinne einer Veränderung des dominanten Denk- und Interpretationsrahmens insbesondere im akademischen Kontext der Sozialwissenschaften. Bildete das modernisierungstheoretische Narrativ des Niedergangs der Religion seit den 50er/60er Jahren des 20. Jahrhunderts weitgehend unhinterfragt die Prämisse sozialwissenschaftlicher Forschung und politischer Theorien, hat die neuere massive theoretische und empirische Kritik an der Säkularisierungsthese eine Rückkehr des Themas Religion auf die wissenschaftliche Agenda bewirkt. Der Ausdruck „postsäkular“ muss sich nach Taylor auf ein Nachdenken über Religion und Moderne beziehen, das sich nicht länger innerhalb der Architektonik des klassischen Säkularisierungstheorems bewegt.
Mit der Säkularisierungsthese befassten sich im Rahmen der Tagung insbesondere die Religionssoziologen Detlef Pollack (Münster) und José Casanova (Washington). Pollack, dessen Vorträge häufig reich an Zahlenmaterial sind, wählte dieses Mal einen historischen Zugang. Er rekonstruierte detailreich die Geschichte westeuropäischer Gesellschaften als eine Geschichte der funktionalen Ausdifferenzierung. Casanova, der für seine historisch vergleichende Religionssoziologie bekannt ist und klassisch modernisierungstheoretischen Ansätzen, die verallgemeinerbare Aussagen über das Verhältnis von Religion und Moderne anstreben, höchst skeptisch gegenüber steht, sah sich durch Pollacks Hinwendung zu historischen Details in seinem eigenen Ansatz bestätigt („Finally you are bringing history into your approach!“), die er in einem Abendvortrag noch einmal stark machte.
Aus der Perspektive der Politischen Philosophie plädierte James Bohman (St. Louis) in seinem Vortrag „Secularization and the Common Good“ im Anschluss an Rawls für ein aggregationistisches gegenüber einem holistischen Verständnis von Gemeinwohl. Andreas Niederberger (Frankfurt) argumentierte für globale Gerechtigkeit nach dem Prinzip der Freiheit von Dominanz und mittels säkularer administrativer Strukturen und institutioneller Kontrolle. Casanova, Taylor und Hartmut Rosa (Jena) wandten gegen Niederbergers Perspektive ein, dass hier die Frage nach der Motivation gesellschaftlicher Akteure mit Blick auf die Schaffung und Erhaltung der Freiheit ermöglichenden Strukturen ausgeblendet werde. Rosa bestritt die Selbstgenügsamkeit abstrakter Gesetzlichkeit und unterstrich die Rolle herausragender Individuen als „paradigm examples“, die „eine Vision haben“ und in der Lage sind, „die Menschen zu inspirieren“. Rosa selbst, der sich in seiner Dissertation „Identität und kulturelle Praxis. Politische Philosophie nach Charles Taylor“ (1998) intensiv mit Taylors Werk auseinandergesetzt hat, referierte zu der Unterscheidung von „zwei Paradigmen neuzeitlicher Welterfahrung“ oder „zwei Weisen der Weltbeziehung“ in Taylors Schriften: einer „rationalistisch-naturalistischen“ Weltbeziehung, in der das Selbst als von der Welt abgetrennt gedacht wird, sodass die Welt – von Dingen und anderen Menschen bis hin zum eigenen Körper und sogar den eigenen Gefühlen – als verdinglicht und manipulierbar erscheint, und einer „romantisch-expressivistischen“ Weltbeziehung, die eine lebendige und wechselseitig konstitutive Beziehung zwischen Selbst und Welt annimmt und die Rosa im weiteren Verlauf seines Vortrags unter dem Begriff der „Resonanzbeziehung“ näher thematisierte.
Eine sehr lebendige Diskussion provozierte Volker Gerhardt (Berlin) mit seinem Vortrag über „Säkularisierung als historische Chance für den Glauben“, in dem er für eine Konzeption des glaubenden Subjekts als vernünftiges, souveränes Individuum plädierte. Gerhardt versuchte, diese Konzeption in kritischer Abgrenzung zu Taylor zu verteidigen, dem er einen „antiindividualistischen Affekt“ und eine Vorliebe für eine „voremanzipative Verfassung des Menschen“, in der der „Verfügung über ihn durch eine Gemeinschaft als Gewinn begriffen“ werde, attestierte. Diese Darstellung Taylors veranlasste den Taylor-Kenner Hartmut Rosa, der für seine Theoretisierung der Moderne unter dem Begriff der „Beschleunigung“ bekannt ist, in der Diskussion zu der Vorbemerkung, dass sich während des Vortrags sein „Puls extrem beschleunigt“ habe. Er stellte klar, dass Gemeinschaften bei Taylor die Ausbildung und Entfaltung von individueller Identität nicht behindern, sondern gerade ermöglichen sollen.
Bassam Tibi (Göttingen) und Susanne Schröter (Frankfurt) thematisierten in ihren Vorträgen den Islam, William A. Barbieri (Washington) widmete sich sechs möglichen Deutungen des Begriffs der Post-Säkulariät, Michael Kühnlein stellte die Frage nach „Religion als Suspension der Moral?“, Micha Brumlik (Frankfurt) referierte zu Agambens Auseinandersetzung mit Paulus‘ Römerbrief und Thomas M. Schmidt (Frankfurt) argumentierte mit Bezug auf die Debatte über Religion und Moderne mit Luhmann für eine Konzeptualisierung von Religion als „Differenzbewusstsein“. Anthony Carroll (London) beschloss die Konferenz am Samstagmittag mit einem Vortrag zu „Normative Implications of Interreligious Dialogue“. Die Vorträge von Hauke Brunkhorst (Flensburg) und Karl Kardinal Lehmann (Mainz) fielen krankheitsbedingt aus. Für die Frankfurter Rundschau berichtete Christian Schlüter über die Konferenz, und auch 3sat war vor Ort.
Auf dem Campus Westend bot sich am Nachmittag dann noch die Möglichkeit, die Keynote eines weiteren internationalen Schwergewichts, des Historikers und Theoretikers Dipesh Chakrabarty (Chicago), zu hören. Dessen Buch „Provincializing Europe“, auf das sich Casanova während der (Post)Säkularismus-Konferenz mehrfach bezog, stellt einen einflussreichen Beitrag in der sozialtheoretischen Debatte über die Moderne dar. Bei den KonferenzteilnehmerInnen der Postcolonial-Tagung war trotz 24 absolvierter Panels und des „Frankfurt’s Colonial Hangover“ am vorangegangenen Abend – einer City Tour auf den Spuren von kolonialer Geschichte und Kolonialromantik in Frankfurt – von Erschöpfung nichts zu spüren: der Vortragssaal im Casino war rappelvoll und die Diskussion zu Chakrabartys Vortrag mit dem Titel „History and the Time of the Present“ lebhaft. Mit dieser großen internationalen Konferenz ist es Nikita Dhawan und ihrem Team vom Frankfurt Research Center for Postcolonial Studies sicherlich gelungen, die Etablierung der Postcolonial Studies in der deutschsprachigen akademischen Landschaft voranzubringen.
Hier auch ein Bericht aus der Fr: http://www.fr-online.de/kultur/scheitern-als-chance–religion-als-versuchung/-/1472786/8577734/-/index.html
Ups, habe den link übersehen.^^