theorieblog.de | Messen, Befragen, Befreien – Oliver Flügel-Martinsens ZPTH-Artikel in der Diskussion

28. Juni 2011, Vogelmann

Die Zusammenarbeit des Theorieblogs mit der Zeitschrift für Politische Theorie geht weiter, soeben ist das zweite Heft der Zeitschrift erschienen. Es versammelt Beiträge von Kari Palonen zu Begriffsdebatten und Debattenbegriffen, von Thomas Schölderle zum Totalitarismusvorwurf gegenüber Platon, Raimund Ottow zur politischen Kultur Englands sowie Debattenbeiträge, Tagungsberichte und Review Essays. Ein weiterer Beitrag ist von Oliver-Flügel Martinsen und diesen können wir an dieser Stelle exklusiv als PDF-Download anbieten. Bei dem „Die Normativität von Kritik – Ein Minimalmodell“ überschriebenen Artikel handelt es sich um einen dichten, die Grundfragen politischer Theorie reflektierenden Beitrag. Wie schon bei der ersten Auflage dieses Diskussionsformats – der Diskussion von Bernd Ladwigs Beitrag – wird die Veröffentlichung durch einen Kommentar begleitet. Frieder Vogelmann setzt sich in diesem kritisch mit Oliver Flügel-Martinsens Minimalmodell einer normativen Kritik auseinander. Dabei blickt er von den Schlussfolgerungen des Artikel auf dessen Argumentationsgang zurück. Wer Genaueres wissen will, lese unter dem Strich weiter.

Wir freuen uns auf eine lebhafte Diskussion und werden voraussichtlich in ein bis zwei Wochen eine Replik von Oliver Flügel-Martinsen auf die bis dahin eingegangene Kritiken veröffentlichen. Aber nun zu Frieders Kommentar.

Messen, Befragen, Befreien. Zu Oliver Flügel-Martinsens Aufsatz »Die Normativität von Kritik«

Am Ende des ersten Absatzes, in dem die Wiederkehr der Kapitalismuskritik konstatiert wird, fragt Oliver Flügel-Martinsen, woran die Kritiker Anstoß nehmen – „und vor allem: Was erlaubt ihnen, Anstoß zu nehmen?“(140) Es ist die erste Formulierung der grundlegenden Frage des Artikels: Muss Kritik normativ sein, und wenn ja, welche Art der Normativität nimmt sie in Anspruch?

Dass Kritik normativ ist, steht dabei von Anfang an fest, schließlich beinhaltet sie eine Wertung, und sei es zu sagen: „So ist es falsch“ (140). Flügel-Martinsens Ziel ist – wie sein Untertitel bereits verrät –, ein Minimalmodell von Kritik zu entwerfen, in dem Normativität sich als unverzichtbar erweist und das doch keine eigene Konzeption der Normativität artikulieren muss, ehe sie zu kritisieren beginnen darf. Er wählt dazu die Strategie, der Normativität von Kritik durch Befragen jener Positionen auf die Schliche zu kommen, die sich selbst als anormativ verstehen; gesucht wird also nach den notwendigen Restbeständen von Normativität in jenen Kritiken, die sich jeder Normativität entziehen wollen.

Doch was ist eigentlich Normativität? Normativ ist, was sich als „wertende Einschätzungen“ (143) verstehen lässt. (Und Normativität? Die Quelle von Wertungen? Die Gründe für Wertungen?) Während ein ganzer Strang der Philosophie – Flügel-Martinsen nennt Korsgaard, Habermas, Forst und Gosepath – sich gegenwärtig darum müht, die dabei zum Einsatz kommenden Maßstäbe zu rechtfertigen und sich so erneut mit Lust dem Bau immer größerer Systeme widmet, will der Autor des Artikels mit einem „bescheideneren Verständnis von Normativität“ auskommen.

Anhand von Augustinus, Machiavelli und Spinoza zeigt Flügel-Martinsen, wie gerade jene Kritiken, die keine ausgearbeitete Konzeption von Normativität vortragen, sondern eine „normativ enthaltsame Forscherhaltung“ (148) einnehmen, eine radikale Befragung dessen ermöglichen, was Gegenstand ihrer Kritik ist. Ihre Normativität liegt in der „kritischen Distanznahme“ (148), nicht im Begründen positiver Maßstäbe, an denen das Kritisierte scheitert.

Da weder Augustinus, noch Machiavelli oder Spinoza diese befragende Haltung reflektierend zum Programm erheben, nimmt Flügel-Martinsen einen vierten Autor hinzu: Michel Foucault. Dessen genealogische Kritik wird als Verunsicherung des Bestehenden durch rückhaltlose Befragung vorgestellt. „Ihre Normativität speist die Kritik nicht aus Begriffen und Konzeptionen, auf die sie sich stützt, sondern die minimale Normativität der Kritik, die ihr aber gerade starke Züge verleihen können soll, verdankt sich dem Umstand, dass sie eine befragende Infragestellung dessen ist, was uns selbstverständlich zu sein scheint und damit häufig der Kritik enthoben bleibt.“ (151)

So wandelt sich am Ende, was unter Normativität zu verstehen ist: Nicht das Begründen eines Sollens, nicht die Rechtfertigung eines Maßstabs, sondern die Infragestellung des Bestehenden ist normativ. Sie wertet als falsch, was unveränderlich sich gibt und muss dafür die Möglichkeit des Anders-werdens erweisen. Es braucht zur Kritik keine neuen philosophischen Systeme, sondern eine kühle Analyse dessen, was sich als alternativlos ausgibt. Mehr nicht, und auch nicht weniger.

Sind damit jedenfalls die wichtigsten Stationen dieses dichten und interessanten Texts wiedergegeben, sollen im Folgenden drei Fragen oder Kommentare formuliert werden, die die Ergebnisse nutzen, um die Ausgangslage zu kritisieren. Das ist der Tatsache geschuldet, dass ich mit vielen Schlussfolgerungen zwar übereinstimme, jedoch Probleme mit dem Gang der Argumentation sehe. (Sollte ich damit die performative Dimension des Artikels unterschätzen, der sich ganz gemäß des vorgestellten Kritikmodells von den zu Beginn formulierten Selbstverständlichkeiten so weit distanziert, dass sie fraglich werden, ziehe ich angesichts dieser schönen Kongruenz von Wort und Tat meinen virtuellen Hut.)

1. Messen. Eine erste Nachfrage betrifft die Sprache des Texts. Insofern Kritik eine nicht zu vernachlässigende rhetorische Dimension besitzt, was gerade die von Flügel-Martinsen besprochenen Autoren demonstrieren, stellt sich die Frage, ob nicht auch das theoretische Sprechen über Kritik – ihr Theoretisieren – großen Einfluss auf die Kritik selbst hat. Wird dieser Punkt zugestanden, so kann man feststellen, dass der dominante Theoretisierungsmodus von Kritik eine ganz bestimmte Sprache spricht: Kritik „wertet“, sie verfügt über „Maßstäbe“ mit denen sie das Gegebene „misst“ und die ihr „erlauben“, es als falsch, verzerrend, schlecht etc. zu denunzieren. Diese Art des Theoretisierens von Kritik und das Kritikmodell, das ihr vor Augen steht, nenne ich „vermessend“; mir scheint damit ein auf der theoretischen Ebene eminent kraftvolles „Bild“ bezeichnet zu sein, das uns „gefangen hält“. Schuld hieran ist in hohem Maße die Sprache, in der wir über Kritik nachdenken. Schließlich beendet Wittgenstein seine Sentenz zum Bild, das uns gefangenhält, mit dem Satz: „Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unsrer Sprache, und sie schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen.“

Flügel-Martinsens Vorschlag einer befragenden Kritik setzt dieser vermessenden Kritik ein anderes Modell entgegen. Befragen ist eine andere Tätigkeit als Messen, die Normativität der Kritik entsteht hier aus dem Nachweis von Alternativen zu dem sich als alternativlos Gerierenden, nicht aus der Begründung der in der Kritik verwandten Maßstäbe. Dennoch bleibt Flügel-Martinsen auf der theoretischen Ebene der vom vermessenden Modell geprägten Sprache treu. Das führt zu Irritationen. Ist es nicht irreführend, von der Normativität dieser Kritik zu sprechen, wenn Normativität als ein „Werten“ eingeführt wird, die Wertung der befragenden Kritik jedoch kaum Anteil an ihrem Erfolg hat? Die befragende Kritik bezieht ihre Kraft aus dem Verfremdungseffekt, mit dem sie das Bekannte neu beschreibt und so für alternative Betrachtungsweisen „öffnet“. Dass sie dabei zu einer Wertung kommt, mag richtig sein, scheint aber gerade bei den von Flügel-Martinsen untersuchten Autoren nicht diskutiert zu werden, da diese Wertung nur ein Nebeneffekt der befragenden Kritik ist.

2. Befragen. Eine zweite Frage betrifft die Rekonstruktion der befragenden Kritik bei Augustinus, Machiavelli und Spinoza. Woran macht sich bei diesen Autoren fest, dass ihre Beschreibungen auch Infragestellungen sind? Man könnte auch formulieren: Wer hört eigentlich die Befragung? Unter welchen Umständen führt eine „normativ enthaltsame Methodik“ (145) zu einer Beschreibung, die von ihren Rezipient_innen als kritische Befragung verstanden wird? Die Bedingungen dafür sind deswegen wichtig zu skizzieren, weil ansonsten die befragende Kritik ein extrem weiter, ja formloser Begriff zu werden droht. Ließen sich etwa die Naturwissenschaften nicht gerade als Paradebeispiele einer befragenden Kritik begreifen?

Daran schließt sich das allgemeine Problem an, was eine Kritik – in all den hier diskutierten Fällen: ein kritischer Text – zur Kritik macht: ihr_e Autor_in, ihre Leser_innen oder die historische Tatsache, dass sie als Kritik Effekte gezeitigt hat? Und sind diese Kriterien nicht selbst wiederum abhängig von der Art der Kritik? Wären sie für die vermessende Kritik daher nicht andere als für die befragende?

3. Befreien. Mein letzter Punkt betrifft die Autoritätsverhältnisse im Wissen. „Was erlaubt es [den Kritikern; F.V.], Anstoß zu nehmen?“ (140), so formuliert Flügel-Martinsen seine Grundfrage, und man ist versucht, polemisch zu antworten: Darum muss sich die befragende Kritik nicht kümmern. Sie erfolgt nicht erst, wenn sie autorisiert wurde; die befragende Kritik müsste ihrer eigenen Normativität nach, gerade dort fragen, wo die scheinbare Alternativlosigkeit (zum Kapitalismus, zur Verantwortung, zum Umweltschutz, zur Gerechtigkeit,…) keine Frage zulässt. Deshalb spricht Foucault davon, dass die Kritik sich selbst das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte und die Macht auf ihre Wahrheitseffekte hin zu befragen (vgl. Was ist Kritik?, 15).

Deutlich wird die Gefahr, sich zu viel von jener theoretischen Sprache vorgeben zu lassen, die doch verlassen werden soll. Das Bild der vermessenden Kritik legt nahe, erst unsere Maßstäbe zu rechtfertigen und hierdurch die Genehmigung zur Kritik zu erhalten. Doch eine nicht an diese Vorstellung gebundene Kritik tut gut daran, sich klar zu werden, ob sie eine solche Frage überhaupt beantworten muss. Ihre Kraft mag nämlich auch darin liegen, sich von dem Bild zu befreien, in dem Kritik als Vermessung der verwalteten Welt deren Produktionsweise von Erkenntnissen übernehmen muss.


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