Mit Selbstinteresse und Moral gegen die Weltarmut: eine Masterclass mit Thomas Pogge

Thomas Pogge verkörpert das Gegenteil des zurückgezogenen Intellektuellen, der sich nur mittelbar um die Belange der Menschen kümmert. Der wohl bekannteste Rawls-Schüler begibt sich stattdessen in die realen Widrigkeiten der Politik und Wirtschaft, um die Lebensbedingungen mehrerer hundert Millionen Menschen zu verbessern. Hatte sich John Rawls im Vorwort des Politischen Liberalismus explizit zur Abstraktheit und Theorielastigkeit seiner Überlegungen bekannt („Dafür entschuldige ich mich nicht“), zielt Pogges Werk direkt auf das politische Geschehen und die Beseitigung manifester Gerechtigkeitsprobleme. Um den Hintergrund dieses Anspruchs besser zu verstehen, versammelten sich 18 Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu der Masterclass, die der politische Philosoph der Yale University an der Kollegforschergruppe „Normenbegründung in Medizinethik und Biopolitik“ der Uni Münster anbot.

Neben dem Fokus auf politische Sachfragen besteht das grundlegende Unterscheidungsmerkmal zwischen Rawls und Pogge darin, dass Pogge den rawlsschen Gedanken auf die internationalen Beziehungen und globale Marktbedingungen erweitert. Rawls hatte in The Law of Peoples noch deutlich gemacht, dass er eine direkte Übertragung der für die Gesellschaftsebene konzipierten Gerechtigkeit als Fairness auf die internationale Ebene ablehnt. Pogges Hauptanliegen der letzten Jahre ist die Verwirklichung eines Health Impact Funds (HIF), der eine Erweiterung des TRIPS-Abkommens der WTO (Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights) darstellen soll (eine Abschaffung des Abkommens hält Pogge für nicht durchsetzbar – für einen Überblick über Pogges Philosophie und politische Ambitionen siehe z.B. den Text zu den Menschenrechten der Armen und das EBook zum HIF). Unter gegenwärtigen patentrechtlichen Bedingungen ist es den meisten sogenannten Drittweltstaaten untersagt, Generika – wirkstoffgleiche Nachahmungen – dringend benötigter Medikamente zu erwerben, so dass die Patentinhaber den Preis verlangen können, der die optimale Balance zwischen Gewinnspanne und Umsatz verspricht – der jedoch für arme Bevölkerungsschichten viel zu hoch ist. Der HIF soll Pharmaunternehmen einen alternativen Vermarktungsweg aufzeigen. Die Grundidee besteht darin, dass Unternehmen von ihnen ausgewählte Medikamente beim HIF registrieren lassen können. Diese werden dann zum Herstellungspreis verkauft, sodass auch die Ärmsten Zugang zu ihnen erhalten. Der Anreiz für die Pharmaindustrie liegt in der Belohnungsstruktur des HIF: Je mehr positive Gesundheitsauswirkungen ein Medikament im Vergleich zu den anderen dort registrierten Produkten zeitigt, desto größer ist der Anteil, den der Hersteller aus dem Fonds erhält. Dieser soll zunächst mit jährlich sechs Milliarden Dollar bestückt werden. Wird nur ein Medikament gemeldet, erhält die betreffende Firma die gesamte Summe. Pogge darf wohl zu Recht darauf hoffen, dass der Wettbewerb zwischen den Unternehmen zu einer raschen Erweiterung der Palette registrierter Medikamente führt.

Interessant an Pogges Ansatz ist, dass er zwar ein starkes moralisches Argument zur Implementierung des HIF in Stellung bringt (s.u.), aber die realpolitischen Gegebenheiten nicht außer Acht lässt. So hat der HIF die Eigenschaft, die Wirtschaftsinteressen der Pharmaunternehmen zu bedienen, indem sie ohne die Gefahr eines wirtschaftlichen Verlustes Imagepflege betreiben und einen rentablen Vertriebsweg für jene Medikamente nutzen können, die Krankheiten bekämpfen, welche hauptsächlich die arme Bevölkerung der „wenig entwickelten“ Länder betreffen und dort nicht gewinnbringend verkauft werden können. Pogge lässt die wirtschaftliche Eigenlogik der Pharmaunternehmen also unberührt und macht sie sich stattdessen zu Nutze (was beim öffentlichen Vortrag einige Tage vor der Masterclass zu Kritik aus dem Publikum geführt hatte). Für die Politiker und die Bevölkerung der „entwickelten“ Welt konstruiert er vergleichbare Klugheitsargumente, die für die Implementierung des HIF auch unabhängig von dessen moralischer Richtigkeit sprechen sollen.

Abseits von dieser politisch-praktischen Idee stellt sich die Frage nach der moralischen Verantwortung der reichen Länder für soziale und medizinische Missstände in „weniger entwickelten“ Ländern. Pogge will auch demjenigen, der Wohlfahrtspflichten ablehnend gegenübersteht, nachweisen, dass eine Erweiterung des TRIPS-Abkommens um den HIF moralisch geboten ist. Selbst glaubt er zwar – so klingt immer wieder durch – durchaus an die Pflicht, Notleidenden unabhängig von eigener Verantwortung zu helfen und soziale Ungleichheiten zu mildern. Doch will Pogge zeigen, dass westliche Institutionen direkt für einen Großteil der Armut in den armen Ländern der Welt verantwortlich sind. Er verfolgt also stärker die Durchsetzung eines Nichtschädigungs- und Schadensersatzgebots als die Begründung von Hilfspflichten.

Die Fragen, die die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Masterclass an Pogge hatten, betrafen zum Großteil die Begründungszusammenhänge, begriffliche Klärungen und die philosophischen Grundlagen seiner Ausführungen. Besonders intensiv diskutiert wurde die Frage, wer genau der Adressat der Verantwortungszuschreibung hinsichtlich der globalen Armut ist. Wer handelt auf der Seite der „westlichen Welt“, sind es die Staaten, die Gesellschaften, die jeweils mächtigsten und einflussreichsten gesellschaftlichen Gruppen, oder alle einzelnen Bürgerinnen und Bürger? Und was bedeutet es, in diesem Zusammenhang von „Verantwortung“ zu sprechen? Es müsse hier doch einen Unterschied machen, so der Einwurf eines Teilnehmers, ob man wohlwissentlich über die Folgen bestimmter institutioneller Arrangements aktiv für die Aufrechterhaltung oder gar die Verschlimmerung der Armut in anderen Erdteilen beitrage, oder ob man als einfacher Bürger in einem der reichen Länder bloß durch Passivität, die auf Unwissen oder Unfähigkeit zum Handeln beruhen kann, für die Beibehaltung verheerender globaler Praktiken sorge. Pogge betonte hier zunächst die politische Verantwortung der Nationalstaaten, die durch völkerrechtliche Abkommen die ungerechten Weltwirtschaftsbedingungen geschaffen hätten und diese aufrechterhalten. In demokratischen Staaten tragen aber auch die Bürgerinnen und Bürger selbst eine Verantwortung für die Auswirkungen, die von Institutionen ausgehen, die ihre Regierungen mittragen. Wenn nun die Institutionen der Weltwirtschaft für massive Menschenrechtsverletzungen in der „Dritten Welt“ sorgen, besteht eine Verantwortung der einzelnen Bürgerinnen und Bürger, gegenüber ihren politischen Vertretern eine gerechtere Weltordnung einzufordern.

Thomas Pogge setzte sich in der knapp dreieinhalb stündigen Diskussion beherzt mit den Fragen und Kritiken der Studierenden und Promovierenden auseinander. Manch einer war mit den Antworten nicht vollständig zufrieden und kritisierte an einigen Stellen eine vermeintlich mangelnde philosophische Kohärenz des Theoriegebäudes. Darüber lässt sich streiten. Unter Umständen aber sind Pogge rechtstheoretische Detailfragen oder ein widerspruchsfreies Einreihen in bestimmte philosophische Traditionen auch weniger wichtig als die Ermöglichung einer politischen Anschlussfähigkeit seiner theoretischen Konzeptionen. Denn damit Reformvorschläge wie der Health Impact Fund in die Realität umgesetzt werden können, müssen breite politische Koalitionen geschaffen werden. Dieser Anspruch findet auch darin seinen Ausdruck, dass Pogge die inhaltliche Zielsetzung zum Teil der theoretischen Begründung voranstellt. Möglicherweise werden damit einige philosophische Leerstellen in Kauf genommen. Ob, und wenn ja warum, das unbefriedigend ist – Um diese Frage zu beantworten, müsste man sicherlich noch die eine oder andere Masterclass zum Thema „Wissenschaftliche Theorie und politische Praxis“ veranstalten.

Fabian Wenner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Kolleg-Forschergruppe „Normenbegründung in Medizinethik und Biopolitik“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. In seiner Dissertation beschäftigt er sich mit Kriterien von normativen Begründungen im demokratischen Prozess pluralistischer Gesellschaften.

Manon Westphal ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Kolleg-Forschergruppe „Normenbegründung in Medizinethik und Biopolitik“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Ihre Dissertation behandelt die Frage nach Prinzipien der politischen Regulierung von moralischen Konflikten in pluralistischen Demokratietheorien.

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