theorieblog.de | Re:publica 2011 oder wie „so-called Nerds“ über Gesellschaft reden

19. April 2011, Thiel & Höppner

Wenn der Nachbar auf dem iPad surft (der Linke wie der Rechte), die Zuhörer beim Vortrag den Blick immer abwechselnd zwischen Laptop und Smartphone pendeln lassen und man beim Verlassen des Saals über Club-Mate-Flaschen stolpert, dann ist man wohl kaum auf einer klassischen wissenschaftlichen Konferenz gelandet. Weit wahrscheinlicher ist, dass man sich auf der re:publica befindet, Deutschlands größter Bloggerkonferenz. Denn auch Blogger, Twitterer, Netzaktivisten, Digital Natives und Social-Media-Nerds wissen den face2face Austausch zu schätzen und treffen sich dazu im großen Rahmen jährlich in Berlin. Organisiert wird die re:publica von den Größen der deutschen Netzpolitik – Spreeblick, newthinking und Netzpolitik.org. Warum das politische Theoretiker interessieren sollte? Ganz einfach: Auf der re:publica wird nicht nur (genauer: überhaupt nicht) Quellcode ausgetauscht, sondern es findet ein offener, sehr politischer Austausch über die Chancen und Risiken der digitalen Gesellschaft statt. Und deshalb nun ein kurzer Überblick über trendige Themen und interessante Einsichten für politische Theoretiker in vier Hashtags.

#digitalactivism: Viel diskutiert wurde, ganz jenseits von Netzutopismus, der Zusammenhang von politischen Revolutionen und digitalem Aktivismus. Die Bedeutung sozialer Netzwerke in den arabischen Revolutionen ordnete Noha Atef (Video) ein.  Versucht wurde  auch Lehren für digitalen Aktivismus in westlichen Demokratien zu ziehen. Natürlich sieht die digitale Avantgarde im Netz die zentrale Form der Kommunikation, der Bewusstseinsbildung und zur Herstellung von globalen Öffentlichkeiten, doch niemand ließ sich dazu hinreißen, die neuen Medien selbst zum Subjekt oder zur hinreichenden Bedingung sozialen Wandels zu verklären. Vielmehr wurde der Kontext ihres Einsatzes analysiert und eben auch Probleme und Risiken der Infrastruktur kontrovers diskutiert. Wie die feministische Netzaktivistin Jaclyn Friedman sagt, digitaler Aktivismus ist wie guter Sex: es kommt nicht allein auf den Stimulus an, sondern auf ein ganzheitliches Verständnis, bei dem Technik in vielerlei Hinsicht zentral, aber eben nie alles ist. Andere Vorträge arbeiteten sich an Fragen wie Mobilisierung und Aufmerksamkeitsgenerierung ab. Solana Larsen stellte das wunderbare Blogprojekt „Global Voices“ vor, das Aufmerksamkeit und Ausdauer bei der Berichterstattung aus und für Weltregionen mitbringt, die die ereigniszentrierten Massenmedien lange aufgegeben haben. Etwas klassischer ging es im Workshop zur Enquete-Kommission „Internet und Gesellschaft“ des Deutschen Bundestages um die Frage wie (und auch mit welchen Schwierigkeiten) die Öffentlichkeit als 18. Sachverständiger mit eigenem Stimm- und Antragsrecht über die digitale Schnittstelle adhocracy eingebunden werden kann. Die Kontroversen um das Projekt wurden dabei ebenso deutlich wie die Offenheit und Ernsthaftigkeit aller Beteiligten.

#publicprivacy: Auch das Verhältnis von Privatsphäre und Öffentlichkeit war ein wiederkehrendes Thema. Constanze Kurz stellte sich Fragen zu ihrem neuen Buch „Die Datenfresser„, in dem es um Datensammlung durch Unternehmen und Staat geht, wie man sich dagegen schützen kann und was das mit digitaler Mündigkeit zu tun hat. Das I&G Co:llaboratory, ein von Google unterstützter ThinkTank, stellte seine laufende Initiative zu Privatheit und Öffentlichkeit vor, in der Experten Szenarien entwickeln, wie das Verhältnis zwischen beiden künftig gestaltet sein kann, wie sich das Private verändert und wie viel Privates erhalten bleiben muss, um Öffentlichkeit zu ermöglichen. Jens Best, Jörg Blumtritt, Benedikt Köhler und Hanno Rauterberg setzten sich, sicherlich wenig systematisch, dafür umso einprägsamer, mit der „Illusion des öffentlichen Raums“ auseinander. Wenn private Plattformen wie Facebook zu Substituten für tatsächlich öffentlichen Raum werden, birgt das häufig kleingeredete Gefahren. Jillian C. York untersuchte genau das konkreter an der Frage nach dem ‚Content Policing‘ in der ‚Quasi-Public-Sphere‘  (auch als Paper und Illustration erhältlich). Denn die scheinbar offenen und weiten Räume der Kommunikation in sozialen Netzwerken werden von privaten Unternehmen geschaffen und reguliert. Neben der Hervorhebung erwartbarer Interessenkonflikte war besonders Jillian C. Yorks kritische Darstellung der Suche nach ausgewogenen Lösungen lohnenswert. Sie problematisierte wie und warum auch so gut klingende Lösungen wie die Selbstregulierung der Gemeinschaften durch Melden problematischer Inhalte (und deren Entfernung) oder die Klarnamenpolitik von Facbook besonders für Aktivisten problematisch sind. Das eine, weil es ein Einfallstor für das Entfernen jedweder missliebiger Inhalte dient, und das andere, weil es, obwohl inkonsistent angewendet, AktivistInnen gefährden kann.

#wikileaks: Daniel Domscheidt-Berg, charismatischer Aussteiger bei Wikileaks, stellte ohne direkte Erwähnung von Assange oder Wikileaks sein neues Projekt OpenLeaks vor, das stärker auf die  Kontextualisierung zu veröffentlichender Information und die enge Zusammenarbeit von Whistleblowern, klassischen Medien und NGOs setzt. Die anschließende Expertendiskussion über die Zukunft des Leakens und das Verhältnis von Internet und Printmedien ging jedoch alsbald in Plattitüden unter. Dem komplexen Zusammenhang von Geheimnis und Öffentlichkeit oder den Besonderheiten des Netzmediums näherte sich das Panel unzureichend. Im Workshop von Guido Strack zu Whistleblowing als Praxis hingegen gelang es, die Frage aus der Fokussierung auf Wikileaks herauszulösen und die Praxis in ihren juristischen und moralischen Dimensionen zu analysieren. Schlussendlich konnten so notwendige und konkrete Handlungsempfehlungen für die rechtliche Sicherung der Möglichkeiten couragierter Kritik vorgestellt werden.

#digitaleGesellschaft: Und letzendlich ging es eben auch um das große Ganze. Einen grandiosen Publikumserfolg hatte Gunter Dück mit seinem Vortrag über „Das Internet als Gesellschaftsbetriebssystem“ (Video). In einer gelungen Mischung aus Ironie, Ernsthaftigkeit, Stand-up comedy und immer an der Lebenswelt des Netzes stellt er die Frage, was oder wie der Mensch ist und sein kann.  Und zeigte dabei, dass eben nicht nur über die digitale, sondern über die Gesellschaft als Ganze zu reden sein wird. Wenn das Wissen im Netz ist, sind andere Kompetenzen, Einstellungen und Umgangsformen nötig, und die Herausforderung besteht darin, „alle mitzunehmen“. Ob der auf der re:publica vorgestellte Verein Digitale Gesellschaft e.V. zur Bewältigung dieser Herausforderung beitragen kann, wurde zumindest einmal kontrovers diskutiert. Die heftigen Debatten entzündeten sich dabei vor allem an der Frage, welche Legitimität ein solcher Verein haben kann, ob es ungewählte Repräsentanten geben kann und wenn ja, wen sie nun repräsentieren. Und damit bewegte sich die Diskussion der Netzgemeinde mal locker im Kernbereich der politischen Theorie, wenn auch unfreiwillig und größtenteils unbewusst.

Blogger Mathias Richel bringt es in seiner Rückschau denn auch auf den Punkt, wenn er sagt, dass es bei dieser re:publica um Engagement, Empowerment und die Verantwortung für das große Ganze ging. Und es ist insofern keineswegs ein Zufall, dass auch Platon, Habermas, Foucault und andere immer wieder Erwähnung fanden. Ein Grund mehr, dass auch Experten zu diesen Themen sich in die netzpolitische Debatte einmischen sollten. Und weil es ja schade wäre, durch den Bericht anzufüttern und dann doch nichts bieten zu können: viele der Sessions der re:publica sind im Netz als Video einsehbar. Die Diskussion kann also weitergehen.

Ulrike Höppner forscht zu Machttheorie und findet, dass das Netz da ganz neue Fragen aufwirft. Darum war sie auch froh, einige ihrer Ideen dazu auf der re:publica 2011 einem kleinen aber feinen Publikum präsentieren zu können. Hat Spaß gemacht!

Thorsten ist im Theorieblog-Team. Dieser Artikel wurde über Twitter vereinbart und abgesprochen  🙂

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