Über Fukushima scheint alles geschrieben. Keine drei Wochen ist das erste Anzeichen des drohenden GAUs her, und schon haben die Politik- und Technikredaktionen, die Feuilletons, die Blogs und Internetforen trotz der schmählichen Informationspolitik der japanischen Regierung und des Kraftwerkbetreibers TEPCO scheinbar fast alles gesagt, was es zu sagen gibt, und zwar sowohl in Sachen tagesaktueller Berichterstattung als auch hinsichtlich sich anschließender Grundsatzreflexionen. Wie ist es um die Technikgläubigkeit der Industriestaaten bestellt? Welche irreführenden Auswirkungen hat Statistik, wenn das Restrisiko im Falle des Eintritts plötzlich total ist? Was ist eigentlich damals in Tschernobyl passiert? Welche Sicherheitsbereiche dürfen an Privatunternehmen outgesourct werden? Bringt der Ausstieg im Alleingang etwas, wenn die alten Meiler, deren Strom wir importieren, 50 Kilometer jenseits der bundesdeutschen Grenze stehen? Und hat sich eigentlich in Fukushima in der letzten halben Stunde etwas getan? Ob Reaktornewsticker oder technikphilosophische Reflexion: Die dreifache Katastrophe in Japan hat den Medien, vielleicht besonders im atomkritischen Deutschland, reichlich Brennstoff geliefert.
Dessen Halbwertszeit ist aber – dies zeigt die Erfahrung – extrem begrenzt. Die Liveticker sind zwar noch nicht versiegt, aber mit gutem Recht dominieren mittlerweile die Entwicklungen in Nordafrika die obere Hälfte der Titelseiten. Es ist vorhersehbar, dass die Katastrophe in der medialen Berichterstattung zum Hintergrundflimmern und damit zur Normalität werden wird (zumindest gesetzt den Fall, dass der Super-GAU sich in den derzeit beobachtbaren baby steps vollzieht). Nach der Baden-Württemberger Atomabstimmung und den bundesweiten Sonntagsprotesten hat nun auch erst einmal der innenpolitische Druck ein Ventil gefunden – die Luft ist raus.
Egal, welche Maßstäbe ein politisches Ereignis hat: Die Intensität der Berichterstattung lässt nach; bei der Frauenquote nach drei Tagen, in der Causa Dr. Guttenberg nach drei Wochen, im Falle Fukushima vielleicht nach drei Monaten; Erdbeben und Tsunami scheinen bizarrerweise beinahe schon wieder ins kollektive Unbewusste abgeglitten zu sein. Die Verweildauer eines Themas in der massenöffentlichen Aufmerksamkeit variiert zwar, ihre Begrenztheit ist ein empirisches Faktum. Auf dem Höhepunkt der medialen Erregung erscheint dies oft unvorstellbar, aber die Erfahrung lehrt es.
Genau diese Erfahrung: Das Wissen also, dass der momentane Erregungs- und damit verbundene politische Aktionszustand nicht anhalten wird, ist bisweilen durchaus beruhigend. Viele Themen haben es, so zumindest rät der common sense, nicht verdient, andere dauerhaft zu verdrängen.
Mein Eindruck ist aber, dass für viele Beobachter die derzeitigen Ereignisse in eine andere Kategorie fallen: Das sichere Wissen, dass auch im Fall Fukushima die Aufregung und der politische Handlungswille (seitens sowohl der politischen Vertreter als auch der Mehrzahl der Bürger) abnehmen wird, dass das Tagesgeschäft mit seinen pragmatischen Abwägungen und Kosten-Nutzen-Rechnungen den langfristig gedachten politischen Wurf verdrängen wird, dass – die Erfahrung zeigt es – keine drei Jahrzehnte nach Tschernobyl Laufzeitverlängerungen durchsetzbar sind – beunruhigt den einen oder anderen.
Diese Sorge aber, die ich selbst teile, ist auch deshalb so beunruhigend, weil in ihr keine klare Schuldzuweisung enthalten ist oder enthalten sein kann. Viele der 250.000 Demonstranten vom letzten Sonntag ahnen, dass sie vielleicht noch bis zur nächsten Kundgebung in einem Monat durchhalten werden, dann aber lieber auch mal einen Sonntag anders verbringen; dass sie demnächst wieder den Sportteil der Zeitung zuerst lesen werden; dass ihre nächste Wahlentscheidung vielleicht doch nicht ausschließlich von der Haltung zur Atomenergie bestimmt sein wird. Gerade letzter Aspekt macht nochmals deutlich, dass der begrenzte Einfluss und die begrenzte Verweildauer eines Einzelthemas auf die öffentliche Meinung durchaus sinnvoll sein kann. Demokratische Politik kann auf Dauer nicht von one-issue-Bewegungen und „Wutbürger“-Kampagnen getragen werden, auch wenn manche Kommentatoren diesen Trend nicht nur beobachten, sondern klar befürworten. Ein Gemeinwesen muss sich auch ums Tagesgeschäft kümmern, muss auch die „kleinen“ Themen beackern, um tragfähig zu sein.
Doch was ist nun mit den Themen, denen viele von uns singuläre Bedeutung zuschreiben; von denen wir wollen, dass sie langfristig die politische Agenda der Parteien mitformen; die wir auch in einem halben Jahr noch kontrovers in den Medien diskutiert sehen wollen? Sind wir, ganz strukturell gedacht, der Aufmerksamkeitsökonomie von Politik und Massenmedien völlig ausgeliefert? Was ist die Rolle des einzelnen Bürgers in dieser Ökonomie der verpuffenden medialen Erregung: Reproduzieren wir lediglich diese Rhythmen und Strukturen, oder ist unser Wunsch nach Neuigkeit und Themenvarieté die Ursache des Übels (so es denn eines ist)? Ist die Aufmerksamkeitsökonomie einfach Produkt unserer begrenzten Aufmerksamkeitsspanne? Wenn man es sich nicht so einfach macht, die erste Frage einfach zu bejahen und jede Verantwortung auf die herrschenden, ja durchaus ökonomisch bestimmten Strukturen (die ja bekanntlich keine Telefonnummer haben!) abzuwälzen, und wenn man überdies der Meinung ist, dass in bestimmten Fällen das mediale Verheizen essentieller Themen problematisch ist, so muss das – und dies dürfte niemanden überraschen – schlicht in einem Aufruf für individuelles und kollektives Engagement mit Durchhaltevermögen resultieren. Unsere individuellen Aufmerksamkeits- und Engagementzyklen können und sollten wir dann ein Stück weit selbst lenken – trotz unserer medialen Konsumgewohnheiten und der verbreiteten Beschleunigungsimperative. Für ein solches Engagement, das die wichtigen Themen auf der Bildfläche hält, liegt im Beispielfall Fukushima eine Reihe von Optionen auf der Hand, die durchaus Banalitäten wie anhaltendes Interesse und eine Verweigerung des bequemen Vergessens einschließt.
Die interessante Balance liegt vielleicht aber darin, nachhaltiges Engagement für eine Sache zu hegen und gleichzeitig nicht zum one-issue-Bürger zu werden. Das vielbesprochene Pamphletlein der französischen Résistance-IkoneStéphane Hessel „Idignez-vous“ (2010), dem etwas mehr Fleisch auf den Knochen der Argumentation sicher nicht schaden würde, sollte man vielleicht am besten so lesen: Als Plädoyer für wohlüberlegte bürgerschaftliche Aktion mit langem Atem anstelle von Schnellschussaktionismus.
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