theorieblog.de | Was schulde ich einem Obdachlosen, der mich um Kleingeld bittet?

31. März 2011, Voelsen

Wohnt man in Berlin und nutzt das öffentliche Nahverkehrsnetz, so ist man tagtäglich damit konfrontiert, dass einen Obdachlose um ein wenig Geld bitten. Und so stellt sich die Frage, welche moralischen Verpflichtungen ich als Einzelner gegenüber diesen Obdachlosen habe. G.A. Cohen hat in dem Aufsatz „If You’re An Egalitarian, How Come You’re so Rich?“ (und ausführlicher noch in dem gleichnamigen Buch) auf unterhaltsame Weise einige Argumente aufgeführt, die in diesem Kontext relevant sind und an denen ich mich lose orientieren möchte.

Das erste Argument lautet, dass ich eine, wie Rawls es nennt, „natürliche Pflicht zur Gerechtigkeit“ habe, auf gerechte Institutionen hinzuarbeiten. Konkret verstehe ich dies so, dass ich darauf hinarbeiten sollte, dass in unserer Gesellschaft kein Mensch mehr obdachlos sein muss oder dass zumindest alle Obdachlosen von öffentlichen Institutionen versorgt werden. Nun gibt es am deutschen Sozialstaat viel zu bemängeln, und dennoch würde ich denken, dass es grundsätzlich ausreichend Institutionen gibt, die sich um Obdachlose kümmern. Und sofern ich mich politisch engagiere, dann doch für die politischen Kräfte, die den Sozialstaat eher stärken als schwächen wollen. Es scheint also, dass ich meine Pflicht damit getan habe.

Was aber ist mit Fällen von Obdachlosen, bei denen zumindest Auftreten und äußeres Erscheinungsbild deutlich darauf hinweisen, dass diese Menschen akute Not leiden, anscheinend auch weil sie die bestehenden institutionellen Hilfsangebote nicht nutzen? Unstrittig ist, dass es in eindeutig lebensbedrohlichen Situationen meine Pflicht ist, Hilfe zu organisieren und etwa den Rettungsdienst zu rufen. Doch was ist mit all jenen Obdachlosen, die offensichtlich verwahrlost und dennoch nicht lebensbedrohlich gefährdet sind? Gegen ein vereinfachtes Tropfen-auf-den-heißen-Stein-Argument lässt sich recht plausibel argumentieren, dass auch schon ein paar kleine Geldspenden vielleicht für ein warmes Essen ausreichen und damit ganz konkrete Hilfe bedeuten können. Dieses Argument basiert jedoch auf empirischen Annahmen, die ich nicht überblicken kann. Vielleicht trägt meine Geldspende dazu bei, dass ein Mensch in Not wieder in die Lage versetzt wird, die ersten Schritte in Richtung auf ein einigermaßen sicheres und menschenwürdiges Leben zu gehen. Vielleicht trägt meine Geldspende aber auch dazu bei, dass jemand sich, so schwer vorstellbar das scheint, noch mehr in der Obdachlosigkeit einrichtet.

Tatsächlich fühle ich mich nicht in der Lage, bei dieser Frage ein Urteil zu fällen. Eine mögliche Reaktion ist nun, im Zweifel immer zu spenden. Auch wenn dadurch nur wenigen geholfen wird, ist dies Grund genug. Dagegen jedoch spricht, dass dies bei begrenzten Ressourcen meinerseits zu einer willkürlichen Handlung wird. Ich gebe Geld, solange ich glaube, es geben zu können, und ich gebe es den Leuten, die mir zufällig auf meinem Weg begegnen. Dies führt mich wieder zurück zu institutionellen Lösungen: Letztlich scheint es doch plausibler, Institutionen zu unterstützen – vielleicht auch durch eine regelmäßige –, die sich fachkundig und systematisch um Obdachlose sorgen.

Bei nüchterner Abwägung scheint mir dies die sinnvollste Lösung zu sein. Und doch empfinde ich einen, vielleicht nicht ganz rationalen inneren Widerspruch dagegen. Denn würde ich diese zuletzt genannte institutionelle Lösung ernst nehmen, so müsste ich dann konsequenterweise den Obdachlosen, die mir täglich begegnen, kein Geld mehr geben. Meine moralische Pflicht ihnen gegenüber habe ich ja bereits erfüllt. Und doch fordert es ein nicht geringes Maß an Abhärtung gegenüber spontanen Mitleidsempfindungen, sich im Angesicht von konkretem menschlichen Unglück auf solch abstrakte Argumentation zurückzuziehen. Und so gebe ich, recht spontan und willkürlich, manchmal Geld und manchmal nicht. Und frage mich, ob dies bloß egozentrische Sentimentalität ist oder ob ich in meiner Argumentation etwas übersehen habe?

Nachtrag, November 2014: im Rahmen eines Sammelbandes zu Ehren von G.A. Cohen aus dem Jahr 2006 widmet sich Christine Sypnowich in einem Aufsatz mit dem Titel “Begging” genau der Frage, die auch mich in diesem Beitrag umgetrieben hat. Ihr Ergebnis ist ähnlich ambivalent wie meines: Einerseits sieht sie aus egalitärer Perspektive zumindest dann keine Pflicht, “Bettlern” zu helfen, wenn wir ansonsten unseren Beitrag zu einer gerechten Ordnung leisten. Andererseits bleibt aber auch bei ihr ein Unbehagen ob dieser Lösung: “The appeal to a basic humanity remains in the confrontation with people who beg on city streets. To dismiss this appeal is cruel, even if grounded in sound egalitarian principle.” (193). Spannend finde an ihren Überlegungen vor allem den Bezug zu Margalit und die Überlegung, dass “Betteln” für alle Beteiligten eine demütigende Erfahrung ist, wenn auch sicherlich in unterschiedlicher Ausprägung. Nicht zuletzt finden sich in dem Text von Sypnowich zahlreiche interessante Verweise zu weiteren Autoren von Bertolt Brecht bis Jeremy Waldron, die sich dem Problem des “Bettelns” angenommen haben.


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