theorieblog.de | „Hier steht ein Kantianer vor Ihnen“

15. Februar 2011, Spohn

Der Frankfurter Philosoph Rainer Forst stellte in der vergangenen Woche  am Münsteraner Exzellenzcluster „Religion und Politik“ seine Theorie der Toleranz vor. Er referierte im Rahmen der Ringvorlesung des Clusters zum Thema „Toleranz und Integration“. In einer Masterclass zu seinem Toleranzkonzept wurde Forst von NachwuchwissenschaftlerInnen der Philosophie und politischen Theorie mit kritischen Fragen konfrontiert. Besonders Forsts Anspruch, mit Hilfe seiner Theorie eindeutige Antworten auf konkrete politisch-moralische Konflikte zu finden, wurde mit Skepsis betrachtet.

Im Rahmen der Masterclass wurden eine Reihe grundsätzlicher Probleme diskutiert. Dazu zählten die Fragen nach dem Stellenwert realer Diskurse in Forsts Variante der Diskurstheorie, nach der Bedeutung der Idee „teilbarer“ Gründe und nach deren Verhältnis zu faktisch geteilten Gründen. Außerdem wurde Forst mit Kritik an seiner Unterscheidung zwischen „Ethik“ und „Moral“ konfrontiert. Hierbei handelt es sich um die Unterscheidung zwischen der Moral als einem intersubjektiv geteilten System von Rechten und Pflichten einerseits und der Ethik als einer Lehre vom guten Leben andererseits. Es geht Forst um die Abgrenzung dessen, „was Menschen moralisch voneinander fordern können“, von „den Auffassungen davon, was ein Leben lebenswert und gut macht“ (Forst 2003). Eine zentrale Annahme ist, dass das Moralische mit den Mitteln der „reinen Vernunft“ bestimmt werden kann, während der Streit über das Gute mit eben dieser Vernunft nicht aufgelöst werden kann. Die kritische Bemerkung lautete, dass es schwer vorstellbar sei, dass bezüglich der Auffassungen vom guten Leben unaufhörlicher Streit bestehen soll, bezüglich der Frage, was gerecht ist, hingegen nicht.

Die Annahme, dass Menschen, wenn sie nur ihren Verstand gebrauchen und ihre eigene partikulare Perspektive überwinden, schon erkennen, was moralisch richtig ist, wurde als Fehleinschätzung kritisiert. Hierfür gab es zwei unterschiedliche Argumentationspfade. Argument A besagte, dass es überhaupt nicht möglich sei, ohne Ideen über das gute Leben zu der Vorstellung einer gerechten Gesellschaft zu kommen. Argument B besagte, dass Menschen zu unterschiedlichen Vorstellungen darüber, was gerecht ist, kommen können, auch wenn sie ihre eigenen Vorstellungen vom guten Leben relativieren. Statt davon auszugehen, dass „vernünftig“ bestimmt werden kann, was gerecht ist, sollte anerkannt werden, so die KritikerInnen, dass das, was Menschen voneinander fordern können, ebenso umstritten ist wie Vorstellungen von der guten Lebensführung. In seiner Entgegnung hierauf bemühte Forst die Figur des Rassisten und beschränkte sich im Großen und Ganzen darauf, die Destabilisierung der Grenze zwischen dem Guten und dem Gerechten als Einfallstor für Relativismus und menschenverachtende Praktiken zu skandalisieren. Er unterstellte, dass man dann auch dem Rassisten seine „Gerechtigkeitsvorstellungen“ zugestehen müsste und ihn nicht legitim aus dem Diskurs ausschließen könnte.

Es ist richtig, dass es mit der Exklusion komplizierter wird, wenn die Ethik-Moral-Unterscheidung fällt. Das muss aber nicht nur Nachteile haben. Schließlich haben wir es nicht nur mit RassistInnen zu tun, sondern vor allem mit Situationen, in denen wir vor Dilemmata stehen und es umstritten ist, was Menschen anderen Menschen schulden. Dies zeigte sich deutlich bei einer Nachfrage zum „moralischen“ Umgang mit den Phänomenen Embryonenforschung und Abtreibung. Forst gestand zu, dass die Ethik-Moral-Unterscheidung hier nicht weiterhilft. Es handele sich hier tatsächlich um moralische Fragen, die Frage nach dem Status des Embryos (Personenstatus ja oder nein) aber falle in das Reich der Ethik. Forst löste den Fall so: Man enthält sich der Frage nach dem Status des Embryos und sagt „in dubio pro libertate“. Diese Antwort stieß in der Masterclass nicht auf Zustimmung. Ein Einwand lautete, dass man auch umgekehrt argumentieren könnte: Wenn nicht klar ist, ob wir es bei einem Embryo mit einem Ding  zu tun haben oder mit einem Menschen, dann doch vorsichtshalber das Leben, das hier eventuell vorliegt, schützen – also: „im Zweifel für das Leben“ statt „im Zweifel für die Freiheit“.

Es wurde klar, dass man die ethische Frage nach dem Personenstatus nicht ausklammern kann. Wenn Forst sagt „im Zweifel für die Freiheit“, dann hat er sehr wohl für sich entschieden, dass der Embryo kein Mensch ist (so sagte er es auch: der Embryo sei zwar auch nicht so etwas wie ein „Stück Holz“, aber eben auch kein Mensch), denn sonst wäre Abtreibung Mord und die Experimente mit Embryonen erschienen in einem höchst zweifelhaften Licht. Forst gab dann auch zu, dass er diese Position (Embryo ist kein Mensch) irgendwie „vernünftiger“ finde als die Gegenposition. Und man stelle sich doch nur mal vor, was das heißen würde, wenn das Gegenteil wahr wäre – das würde  bedeuten, dass in den Kühlschränken der EmbryonenforscherInnen massenhaft „Personen“ liegen würden, das wäre ja “Wahnsinn“, so Forst. Ob diese Argumentation „allgemein teilbar“ ist, darf bezweifelt werden, „geteilt“ wurde sie im Rahmen der Masterclass jedenfalls nicht. Forst beanspruchte hier auch nicht, den Fall moralisch klar beurteilen zu können. Er meinte aber, dass die Ethik-Moral-Unterscheidung in einigen Fällen an ihre Grenzen stoße, bedeute nicht, dass sie generell ungeeignet sei. Man könnte das aber auch anders sehen: Die Fälle, in denen komplizierte moralische Dilemmata auftauchen und es schwierig wird, zu sagen, welche Antwort die „richtige“ ist, sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Deswegen sollte man einfach nach bestem Wissen und Gewissen argumentieren ohne den Anspruch zu erheben, man selber habe aber Recht. Darum ging es Forst oft: zu entscheiden, was moralisch ist und wer eben Recht hat.

Während in der Masterclass Uneinigkeit darüber bestand, wie sinnvoll und berechtigt die Ethik-Moral-Unterscheidung ist, so gab es doch breite Zweifel an der von Forst behaupteten Reichweite seiner Theorie. Dass er meint, konkrete politische Konflikte, wie Kopftuch-Streit, Kruzifix-Konflikt oder „Homo-Ehe“ unter Rückgriff auf „Vernunft“ und allgemeingültige Moral auflösen zu können, wurde eher mit Skepsis betrachtet. Bisweilen entstand der Eindruck, dass Forst die zur Konkretisierung nötigen Denkschritte, die seine Theorie wegen eines letztlich nicht zu überwindenden Abstraktionsgrades nicht liefern kann, durch seine emanzipatorischen Vorstellungen von einer guten Gesellschaft auffüllt. Es kam einem da das Bekenntnis in den Sinn, das Forst einen Abend zuvor vor den BesucherInnen der Ringvorlesung abgelegt hatte: „Hier steht ein Kantianer vor Ihnen“. Einige TeilnehmerInnen der Masterclass hätten sich gewünscht, dass Forst sich dazu durchringt, weniger zu dozieren und mehr zu diskutieren und im Hinblick auf seinen eigenen Kantianismus die „komplexe Form der Selbstüberwindung, der Selbstrelativierung bei Beibehaltung der eigenen Position“ (Forst 2007)  aufzubringen, wie er selbst es von toleranten BürgerInnen erwartet.


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