Parallel zur Berichterstattung über die aktuellen Ereignisse in Ägypten gibt es eine wachsende Diskussion über die angemessene Reaktion westlicher Demokratien, insbesondere der USA. Zugespitzt findet sich etwa bei Jakob Augstein die These vom „Ende der westlichen Glaubwürdigkeit„: Wer immer von der Demokratie schwärme, zugleich aber autoritären Regimen selbst im Falle des Aufstands die Unterstützung nicht versagen will, so Augstein, offenbare eine besonders zynische Form der Doppelmoral. Doch was folgt aus diesem Befund? Und wie verwerflich ist die öffentliche Zurückhaltung der US-amerikanischen Regierung? Sollten sich demokratische Regierungen offen für demokratische Reformen in anderen Ländern aussprechen, sind sie vielleicht gar moralisch dazu verpflichtet? Dazu einige Überlegungen, die ich hier zur Diskussion stellen möchte.
Zunächst einmal ist zu betonen, dass es mir hier zunächst nur um die öffentliche Reaktion der US-amerikanischen Regierung geht. Bekanntermaßen haben die USA seit dem Kalten Krieg das autoritäre Regime Ägyptens unterstützt, was ihnen einen besonderen Einfluss, vor allem wohl mit Blick auf das ägyptische Militär, gibt. Zwar erscheint es als falsche Vereinfachung anzunehmen, mit einem wie auch immer gearteten Entzug dieser Unterstützung könnten die USA Mubarak von heute auf morgen entmachten und demokratische Reformen in Ägypten durchsetzen. Politik ist komplizierter. Eine zentrale Säule des Regimes Mubarak mag die Unterstützung durch die USA sein; hinzu kommt aber ein komplexes Geflecht von inner-ägyptischen Machtverhältnissen (ausführlich dazu Kassem). Und doch ist der Einfluss der USA hinter den Kulissen wohl erheblich. Statt jedoch über die Möglichkeiten, die sich daraus ergeben, zu spekulieren, will ich mich auf die Frage beschränken, ob die US-amerikanische Regierung sich öffentlich für einen demokratischen Wandel in Ägypten aussprechen sollte.
Dagegen spricht das Gebot der Nicht-Intervention bzw. positiv gewandt das Recht auf nationale Selbstbestimmung. Nicht zuletzt wird ja auch die Unterstützung autoritärer Regime durch die USA als unzulässige Einmischung in die internen politischen Prozesse eines Landes gedeutet. Ohne diese Einmischung, so die hoffnungsvolle Vermutung, könnten sich die autoritären Regime nicht länger halten und die Demokratie sich durchsetzen. Wenn man aber nun einerseits die Einmischung der USA kritisiert, erscheint es zumindest auf den ersten Blick widersprüchlich, andererseits nun eine noch weitergehende Einmischung zu fordern.
Gegen diesen Einwand lassen sich nun meiner Meinung nach zwei Argumente anführen: Zum einen kann man eine Einmischung der US-amerikanischen Regierung als eine Art historischer Wiedergutmachung verstehen. Nachdem die USA über Jahrzehnte ein autoritäres Regime unterstützen haben, so das Argument, schulden sie es nun der ägyptischen Bevölkerung, sie in ihrem Kampf für Demokratie zu unterstützen. Zum anderen könnte man noch allgemeiner argumentieren, dass demokratische Regierungen generell verpflichtet sind, Demokratiebewegungen andernorts zu unterstützen.
Ich finde beide Argumente überzeugend und glaube dennoch, dass die öffentliche Zurückhaltung der USA richtig ist. Denn selbst wenn man akzeptiert, dass die USA (als Demokratie) historisch eine besondere Verantwortung gegenüber der ägyptischen Bevölkerung haben, so folgt daraus noch nicht automatisch, dass ein offensiveres öffentliches Auftreten die geeignete Form ist, dieser Verantwortung gerecht zu werden. Empirisch scheint unüberschaubar, welche Wirkung eine öffentliche Parteinahme Obamas auf die inner-ägyptischen Machtverhältnisse hätte. Möglicherweise würde es die demokratischen Kräfte stärken; eine reale Gefahr ist aber auch, dass eine solche öffentliche Stellungnahme jenen Munition liefern würde, die schon jetzt darum bemüht sind, die demokratischen Proteste als Aktionen ausländischer Geheimdienste zu diffamieren. Dies sind nun wieder Spekulationen, das grundsätzliche Argument jedoch lautet, dass demokratische Regierungen wie die der USA sich an dieser Stelle daran orientieren sollten, ob ihre öffentlichen Äußerungen den demokratischen Kräften vor Ort helfen, oder ob sie diesen gar schaden. Von einer Verpflichtung demokratischer Regierungen, sich immer und überall öffentlich für demokratische Bewegungen auszusprechen, kann also keine Rede sein; öffentliche Zurückhaltung muss nicht per se das Ende der moralischen Glaubwürdigkeit signalisieren. Verstärken lässt sich diese Argumentation noch durch einen vorsichtigen Rückgriff auf J.S. Mills Diktum, wonach nur eine selbst erkämpfte Demokratie auf Dauer stabil sein kann. Ich glaube, in dieser Radikalität lässt sich die Behauptung nicht aufrecht erhalten. Und doch formuliert Mill hier eine wichtige Einsicht, die sich auch auf die Situation in Ägypten übertragen lässt. Wenn die Chance besteht, dass ein Volk sich aus eigenen Stücken von einem autoritären Herrscher befreit, sollte man ihm diese Chance nicht nehmen. Vielleicht werden die USA ihrer besonderen Verpflichtung gegenüber Ägypten in diesem Sinne ja gerade dadurch gerecht, dass sie sich dieses Mal nicht einmischen.
Dazu noch zwei wichtige Ergänzungen: Erstens könnte man mir entgegenhalten, die amerikanische Haltung fälschlich und naiverweise als das Ergebnis ausgewogener moralischer Reflexion zu stilisieren, während doch eigentlich auch jetzt noch amerikanische Interessen im Mittelpunkt stünden. Das ist natürlich ein großes Fass, aber nur um den Status meiner Überlegungen zu erklären: Mir geht es zunächst nicht um die Motive der US-amerikanischen Regierung. Vielleicht geht die Zurückhaltung tatsächlich darauf zurück, dass man es sich nicht mit Mubarak verscherzen möchte, falls er sich doch halten kann. Das wäre in höchstem Maße zynisch, ist aber für meine Überlegungen erst einmal nachrangig: Mir geht es ja nur darum zu zeigen, dass es gute Gründe für die Zurückhaltung der US-Regierung gibt und dass man die schnelle Forderung nach einer offensiveren Haltung vielleicht noch einmal überdenken sollte.
Zweitens möchte ich zum Abschluss auf den vor einigen Jahren erschienenen Text „On Promoting Democracy“ hinweisen. Michael Walzer macht hier das nicht revolutionäre, aber doch überzeugende Argument, dass externe Einmischung durch den Staat wesentlich problematischer (da potentiell mit Zwang verbunden) ist als externe Einmischung von einzelnen Individuen. Was in aller Kürze bedeutet, dass man Zurückhaltung auf Seiten der US-Regierung für vernünftig halten, und dennoch als überzeugter Demokrat den Rücktritt Mubaraks fordern kann!
Hier der Link zum Sicherheitskulturblog, die live aus der, von der und rund um die Münchner Sicherheitskonferenz berichtet haben – in Bild, Ton und Wort. Ägypten und der Westen war auch dort großes Thema:
http://www.sicherheitskultur.org/de/veranstaltungen/sicherheitskonferenz-2011/blog.html
Auf Al Jazeera sprechen Tariq Ramadan und Slavoj Zizek über Ägypten… Slavoj, der – laut Al Jazeera – „Elvis of Cultural Theory“, ist diesmal mit einer durchaus konsensfähigen Meinung vertreten.
http://english.aljazeera.net/programmes/rizkhan/2011/02/2011238843342531.html
Das Argument selbst erkämpfter Demokratie als Voraussetzung stabiler Demokratie halte ich für sehr stark. Und zwar nicht mit Blick auf sein faktisches Vorhandensein als Motivlage der Vereinigten Staaten oder des gesamten Westens. Dagegen halte ich es erstens für ein starkes theoretisches Argument, weil es dem revolutionären Gründungsmoment eine zentrale Rolle zuweist, der im Zusammenhandeln der Akteure jenen Gemeinsinn sichtbar machen kann, der Voraussetzung eines integrierenden Zusammenhalts der später dann partikular auseinanderstrebenden pluralen Ordnung ist. Zweitens halte ich es für ein starkes empirisches Argument, weil die Unterstützung und Zusammenarbeit mit dem Westen und ausländischen Mächten generell delegitimierende Wirkungen für einzelne Gruppen wie auch für die gesamte Bewegung haben kann – gerade auch im arabisch/islamischen Raum.
Etwas offtopic: Außerdem finde ich den Fillon-Silvesterurlaub auf Kosten des ägyptischen Steuerzahlers eine Hammernummer. Mehr als ein sardonisches Lachen angesichts der postrepublikanisch/neoaristokratischen Ordnung in Frankreich bleibt da nicht mehr übrig.
Daniel, Du hast recht, wenn Du sagst, dass eine Ende der finanziellen und militärischen Unterstützung der ägyptischen Regierung seitens der USA und Europa kein Ende des ägyptischen Regimes herbeiführen würde. Es handelt sich hierbei schließlich nur um knapp 2% des ägyptischen GNP. Was Du jedoch in Deiner Argumentation zu übersehen scheinst ist die Tatsache, dass diese Unterstützung auch eine Form der öffentlichen Stellungsnahme darstellt, so dass der Vorwurf der Doppelmoral auch dann greift, wenn sich die amerikanische Regierung in der Öffentlichkeit rhetorisch zurückhält. Tränengasgranaten mit der Aufschrift „Made in USA“ sprechen laut und deutlich genug.
Einen interessanten Beitrag, der einige Punkte von Daniels Artikel aufgreift, liefert Nicholas Kristof, NY Times Reporter in Kairo.
Das Dilemma der zwischen Demokratie und Stabilität scheint unter diesem Aspekt etwas pikanter zu werden. Die weitere Nichteinmischung, so Kristof, kann denselben Effekt haben wie die bewusste Einmischung für Demokratie.
Viel Spaß beim Lesen: http://www.nytimes.com/2011/02/10/opinion/10kristof.html
@Don Gomez: Ich stimme dir weitestgehend zu, was das Argument von Mill betrifft (und auf jeden Fall was Frankreich betrifft). Empirisch gibt es aber ja doch Fälle (immer wieder: Deutschland, Japan, Österreich) in denen externe Demokratisierung gelungen ist. Und prinzipiell sehe ich die Gefahr, dass man das Argument von Mill zur Verklärung von Passivität nutzt. Wenn ein Staat, auch durch externe Hilfe, seine Bevölkerung systematisch unterdrückt, finde ich es unzureichend, die Verantwortung für einen demokratischen Wandel alleine dieser unterdrückten Bevölkerung zuzuschieben. Was aber dann natürlich wieder all die schwierigen Fragen externer Einmischung aufwirft.
@Mahmoud & Tokhi: Nur um mein Argument noch mal klar zu stellen. Mir ging es ja ausschließlich um die Frage, ob demokratische Regierungen verpflichtet sind, sich öffentlich für demokratischen Wandel auszusprechen. Dass die (fortgesetzte) Unterstützung autoritärer Regime falsch ist und tatsächlich auch den Charakter einer öffentlichen Stellungnahme bekommen kann, stimmt natürlich.
@Daniel: Naja, es ist ja jetzt nicht so, daß Ägypten einen agressiven Angriffskrieg gegen externe Feinde führt. Den Vergleich mit den Achsenmächten finde ich deswegen ein wenig suggestiv.
Die Formulierung „Wenn ein Staat, auch durch externe Hilfe, seine Bevölkerung systematisch unterdrückt, finde ich es unzureichend, die Verantwortung für einen demokratischen Wandel alleine dieser unterdrückten Bevölkerung zuzuschieben“, ist auch ein gelungenes Beispiel für die rhetorisches Zurichtung eines Gegenstandes. Ebenso plausibel kann formuliert werden: Hier aktiv in den Prozess der Revolution einzugreifen, wäre ein paternalistischer Zugriff Bessermeinender, auf das was das Ziel der Revolution sein soll.
Als noch keinen aktiven Eingriff würde ich es qualifizieren, wenn der Westen seine Unterstützung für die Regime aufgibt. Im Gegenteil wäre dies ein angemessener Schritt in Richtung Nicht-Einmischung.
Die USA mischen sich ständig in Angelegenheiten anderer Staaten ein. Das ist nicht das Thema uns offensichtlich auch kein Problem für sie. Wenn sie sich einmischen ist es meist aus eigenem Interesse bzw in Stellvertretung für einen verbündeten Staat. Wenn sie sich nicht einmischen ist es genau das gleiche und daher in jeder hinsicht verwerflich.