theorieblog.de | Constitutionalism beyond the state? – Ein Konferenzbericht

1. Februar 2011, Volk

Unter dem Titel „Constitutionalism in a new key? Cosmopolitan, Pluralist and Public Reason-Oriented“ fand am vergangenen Wochenende in Berlin eine prominent besetzte Konferenz statt, die von der Humboldt Universität und dem WZB ausgerichtet wurde.

In den Rechtswissenschaften läuft schon seit einiger Zeit eine rege Diskussion darüber, wie die globale Rechtsentwicklung konzeptionell adäquat erfasst und bewertet werden kann. Die Konstitutionalisierungsthese markiert dabei eine, vielleicht die prominenteste Position in einem breiten Spektrum von Deutungsvorschlägen (Global Administraive Law-Ansatz, legal-pluralism-Ansatz, Verrechtlichungsthese etc.).

In all diesen Ansätzen geht es darum zu klären, welchen Einfluss die globale Rechtsentwicklung auf die nationalen Verfassungen nimmt, wer oder was die treibende Kraft globaler Rechtsentwicklung ist, welche Konsequenzen sich daraus für die Institution der Souveränität ergeben und wie all diese Konsequenzen grosso modo zu bewerten sind. Dabei wird deutlich, dass das globale Recht nicht mehr einfach als konsensbasiertes Völkerrecht verstanden werden kann; zu weitgreifend sind gewisse Fundamentalnormen, zu durchgreifend die Entscheidungen internationaler Gerichte, Tribunale oder Schiedsgerichte und zu sehr ist die staatliche Domaine Réservé zugunsten internationaler Prinzipien zurückgedrängt worden. Dennoch oder gerade deshalb hat sich in den Rechtswissenschaften kein neuer, großer und paradigmatischer Narrativ durchsetzen können, der diese neuen Entwicklungen vereint. (Neil Walkers Vortrag am Samstag thematisierte explizit und ausgiebig diesen Punkt.)  Die Frage, mit der dann auch Mattias Kumm die Konferenz eröffnet hatte, war dementsprechend die nach dem orientierungsgebenden Paradigma globaler Rechtsentwicklung.

So wurde im Rahmen der Konferenz diskutiert, ob die Formel „We, the people“ weiterhin als legitimatorische Grundlage von Verfassung dienen kann (Panel 1). David Dyzenhaus machte klar, dass dem Recht stets ein kosmopolitisches Ideal innewohne: „the law addresses not citizens but subjects“. Hieraus ergebe sich die Möglichkeit einer internen Begründung der Autorität des Rechts – und man müsse somit nicht mehr auf die Figur des pouvoir constituant zurückgreifen. Alexander Somek versuchte sich an einer kosmopolitischen Theorie der Selbstbestimmung, die entweder auf eine „reine“ oder eine „gemischte“ Fassung hinauslaufen kann, in deren Zentrum jedoch jeweils die Idee der „virtual representation“ steht. Hierbei handelt es sich schlicht um die liberale Variante des mittelalterlichen Prinzips quidquid est in territorio est de territorio. Auch wenn man als Nicht-Bürger nicht am politischen Prozess beteiligt ist, muss verlangt werden können, dass die Erwartungen und Interessen aller Menschen, die in einem spezifischen Territorium leben, im politischen Entscheidungsprozess der zuständigen Regierung adressiert werden. Im Panel 2 sollte es dann um die Frage gehen, ob die globale Rechtsentwicklung als Konstitutionalisierung beschrieben werden kann oder nicht. Um diese Frage jedoch ernsthaft diskutieren zu können, war das Panel zu homogen besetzt. Weder Jan Komárek, Vlad Perju noch Andreas Paulus zogen das Konstitutionalisierungsparadigma ernsthaft in Zweifel. Miguel Maduro nutzte das Panel, um die Konzeption des „constitutional pluralism“ vorzustellen. „Constitutional pluralism“, so Maduro, sei zum einen die Antwort auf das Problem, dass Konflikte unterschiedlicher Rechtsordnungen schlicht und einfach nicht mehr hierarchisch lösbar sind (empirisches Argument) und auch nicht hierarchisch gelöst werden sollen (normatives Argument). Hinzu kommt noch, dass „constitutional pluralism“ im Grunde der beste Weg sei, den normativen Gehalt des Konstitutionalismus an sich zum Ausdruck zu bringen.

Die beiden Panels am Samstag diskutierten, auf welcher normativen Grundlage überhaupt Staatsgrenzen legitimerweise gezogen werden dürfen (Panel 3) und was die normativen Grundlagen des gegenwärtigen internationalen Rechts sind (Panel 4). In Panel 3 war Andreas Føllesdal darum bemüht zu zeigen, dass die anti-kosmopolitische Kritik an einer globalen Ausweitung des Prinzips der distributiven Gerechtigkeit deshalb ins Leere läuft, weil man die globale Rechtsordnung durchaus in Anlehnung an Rawls als eine „global basic structure“ deuten könne. Jeremy Waldron versuchte in seinem Vortrag eine Alternative zum Affinitätskonzept politischer Gemeinschaft zu entwickeln. Seine Wegmarken dabei waren Hobbes und Kant. Während er mit Hobbes gegen Liebe und Freundschaft und für die Angst als zentralen Grund bei der Einrichtung politischer Ordnungen argumentierte, bediente er sich bei Kant am Prinzip der Nachbarschaft. Dabei ging es Waldron darum, dass ein politisches Gemeinwesen nicht auf Prinzipien wie Freundschaft, Liebe oder (ethnischen, kulturellen, sprachlichen) Ähnlich- oder Gemeinsamkeiten gegründet werden sollte, sondern auf die Unmittelbarkeit des Miteinander-Auskommenmüssens. Ronald Dworkin war in seinem Vortrag im Panel 4 auf der Suche nach einer anderen Fundierung des internationalen Rechts. Weder der Positivismus noch die Consent-Theorie reichen seiner Meinung nach aus, um mit den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts auf der Ebene des Rechts fertig zu werden. Stattdessen setzte sich Dworkin für das „principle of salience“ ein, das sich als „Prinzip der größten Bedeutung und Wichtigkeit“ übersetzen ließe. Gemeint ist damit, dass wenn eine signifikante Zahl von Staaten, mit einer signifikanten Bevölkerungszahl einen „ agreed code of practice“ entwickelt hat – sei es durch Vertrag oder andere Formen der Koordination –, die anderen Staaten dann zumindest prima facie die moralische Verpflichtung haben sich diesem „code of practice“ anzuschließen. Diese Verpflichtung resultiert nach Dworkin aus der „ moral force of the principle of salience as a route to a satisfactory international order surrounding individual coercive governments“.

Indem man sich auf den Konstitutionalismus als Deutungshintergrund globaler Rechtsentwicklung beschränkte, stand die Konferenz jedoch in einem eigentümlichen Spannungsverhältnis zu dem von Mattias Kumm eingangs konstatierten Fehlen eines Leitmotivs: Zum einen fehlte es – mit Ausnahme von Christoph Möllers und Nico Krisch – an Vortragenden, die die These von der globalen Konstitutionalisierung in Frage stellten. Im Rahmen des Roundtables „Back to Basics: What Is Constitutionalism“ versuchte Möllers gegen eine liberale Verengung des Konstitutionalisierungsbegriffs auf individuelle Freiheitsrechte und juridical review deutlich zu machen, dass Konstitutionalisierung immer auch eine politische Dimension habe, die in der Ausweitung des Begriffs auf den globalen Raum unterbelichtet bleibt. Nico Krisch beließ es bei einigen skeptisch-relativierenden Überlegungen zum Begriff selbst. Interessant ist, was Krisch dadurch verschwieg: dass er Vertreter eines anderen Ansatzes ist und erst jüngst ein Buch mit dem Titel „Beyond Constitutionalism“ publiziert hat. Es war daher Antje Wiener zu verdanken, die mit ihrer Frage „Do we need Constitutionalism?“ die Panelisten dazu zwang, etwas aus der Reserve zu kommen. Zum anderen schränkte der Untertitel der Konferenz – Cosmopolitan, Pluralist and Public Reason-Oriented – die Bandbreite möglicher Deutungen des konstitutionellen Paradigmas von vorneherein ein. Damit war nicht nur klar, dass der systemtheoretische Ansatz des societal constitutionalism von Teubner oder Fischer-Lescano keine Rolle spielen würde, sondern dass auch die hegemoniekritische Sicht auf International Law im Allgemeinen und die Konstitutionalisierungsthese im Besonderen keine Erwähnung finden würden. Und so kam es dann auch. Der Name Martti Koskenniemi fiel im Zusammenhang mit der allseits geschätzten These von der Fragmentierung des internationalen Rechts, nicht aber mit Bezug auf sein eigentliches, kritisches rechtstheoretisches Werk.

Zusammenfassend lässt sich daher festhalten, dass die Konferenz wohl die Konturen eines ganz spezifischen (liberal-kosmopolitischen) Verständnisses von Konstitutionalisierung schärfen wollte – was ihr auch gelang.


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