Konflikte basieren auf dem Ziehen von Grenzen. Wo und wie jeweils die Grenzen zwischen den Konfliktparteien gezogen werden, bestimmt, um welche Art von Konflikten es geht. Der Aufgabe einer solchen Grenzziehung stellten sich in Frankfurt über 70 Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, die auf 24 interdisziplinären Panels den Zusammenhang von Konflikten und Normen diskutierten. Das Themenspektrum der Konferenz war breit: Es ging um konkrete Konflikte in einer Reihe von Politikfeldern (z.B. Krieg und Frieden, Entwicklungspolitik, Menschenrechte, Wissenstransfer) genauso wie um abstraktere Konfliktlinien zwischen Universalem und Partikularem oder Globalem und Lokalem. Vielfältig waren auch die vertretenen Disziplinen, die von der Philosophie über Geschichts- und Politikwissenschaft bis zur Ethnologie reichten.
Gleich der erste Vorschlag zur Grenzziehung war kontrovers: Unter dem etwas sperrigen Titel „The Epistemologies of the South: from abyssal exclusion to ecologies of knowledge and intercultural translation” formulierte Bonaventura de Sousa Santos in seiner Keynote Address eine kritische Perspektive auf die epistemologischen Grundannahmen des zeitgenössischen Wissenschaftsverständnisses. Sousa Santos, portugiesischer Vordenker der globalen Linken und Mitbegründer des World Social Forum, argumentierte, dass Wissensformen des globalen Südens heute vielfach geringgeschätzt würden. Was in Wissenschaft und Philosophie als „Wissen“ gelte, sei nur ein spezifischer Wissenstypus, der in einer bestimmten Tradition der westlichen Moderne verankert sei und damit das Wissen von vier Fünfteln der Menschheit ausschließe. Zum Beispiel lasse sich ein fundamentales Diktum der westlichen Philosophie, das cogito René Descartes‘, in bestimmte afrikanische Sprachen gar nicht übersetzen: Sowohl „ich denke“ als auch „ich bin“ machten in diesen Sprachen keinen Sinn, weil dort „ich bin“ immer nur als „ich bin mit“ – mit anderen Menschen, Tieren oder Begebenheiten – formuliert werden könne. Umgekehrt gebe es in Kulturen des globalen Südens Wissensformen, die im Norden nicht als solche wahrgenommen würden, wie etwa das spirituelle Naturverständnis der Ureinwohner Lateinamerikas. Das heutige, westlich dominierte Wissenschaftsverständnis basiere auf dem ständigen Ziehen eine Linie und all das, was jenseits der Linie liege, verschwinde in einem unsichtbaren Abgrund.
In den auf die Keynote Address folgenden zwei Konferenztagen wurden zweifellos viele analytische Linien und Grenzen gezogen, die bestimmtes Wissen zugänglich machten und anderes in den Hintergrund drängten. Dieser Hintergrund war aber in dem Sinn nicht allein ein unsichtbarer Abgrund, in dem in bestimmten Vorträgen jeweils das entdeckt werden konnte, was andere – notwendigerweise – verschwinden ließen. Dieser Sachverhalt wurde z.B. in den Diskussionen zu Normkonflikten in der Entwicklungshilfe besonders deutlich, die in einer der vier parallel ablaufenden Panel-Reihen stattfanden und die auch in einem prominent besetzen Roundtable zum Thema „International State Building: Securing Peace or Transforming Conflict?“ eine wichtige Rolle spielten.
Eines der Panels zur Entwicklungszusammenarbeit widmete sich dem zentralen Konflikt zwischen der Autonomie der Hilfsempfänger und der Konditionalität der Hilfe. Julia Sattelberger (Max-Planck-Institut Heidelberg) zeigte hier aus politikwissenschaftlicher und juristischer Perspektive, wie das Aufkommen der Norm der „ownership“ in den 1990ern Jahren Autonomie in eine Obligation verwandelte. Elizabeth Anne Willis (Universität Edinburgh) analysierte aus philosophischem Blickwinkel, unter welchen Umständen das Binden von Hilfe an Konditionen als Zwang verstanden werden kann – und unter welchen nicht. Kristina Czura und Tasneem Zafar (Universität Frankfurt) schließlich stellten eine innovative quantitative Untersuchung zur Frage vor, ob die Bindung von Hilfe an Standards von „good governance“ deren Effektivität erhöht. Alle drei Präsentationen trugen damit eine spezifische Perspektive zur Debatte bei, in dem sie einen bestimmten Aspekt der Beziehung zwischen Autonomie und Konditionalität präzise herausarbeiteten. Was jedoch fehlte, war eine vierte Perspektive: die Frage, ob nicht das Empfangen von Hilfe selbst – auch ohne Konditionen – die Autonomie der Hilfsempfänger auf eine sehr grundsätzliche Weise einschränkt, insofern es ihre Subjektivität als Hilfsempfänger produziert. Diese vierte Perspektive, die – an den Vortrag Sousa Santos anknüpfend – die Frage aufwirft, ob die Identitäten des globalen Südens im diskursiven Rahmen internationaler Entwicklungshilfe überhaupt angemessen erfasst werden können, war allerdings auf der Konferenz insgesamt keineswegs unsichtbar. Im Gegenteil: Vor und nach dem genannten Panel wurde sie durch Vorträge von Marie von Engelhardt (Max-Planck-Institut Heidelberg), Matthias Gruber (Universität Frankfurt) und Jade Legrand (École des hautes études en sciences sociales, Paris) sowie vom Diskussionsleiter des Roundtables, Lothar Brock (Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung), aufgeworfen.
Durch die interdisziplinäre Anlage der Konferenz – und insbesondere die Praxis, auch die Panels selbst interdisziplinär zu besetzen – gelang es, eine Vielzahl an möglichen Konfliktlinien in den Blick zu nehmen und danach zu fragen, wo diese sich überschneiden, ergänzen oder widersprechen. Insgesamt wurde so eine große Vielfalt an Normkonflikten und Konfliktnormen offenbar – und eine erstaunliche Anzahl an Möglichkeiten, diese wissenschaftlich zu begreifen und zu analysieren.
Sebastian Schindler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in einem Projekt zu internationaler Dissidenz an der Goethe-Universität Frankfurt. Er promoviert zu Fragen der Verantwortlichkeit in internationalen Organisationen.
4 Kommentare zu “Grenzen ziehen in Frankfurt – Bericht von der Nachwuchskonferenz „Norms in Conflict“ am Exzellenzcluster, 3.-5.12.2010”
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