Ausschaffungsinitiative: Wenn die direkte Demokratie mit den Menschenrechten in Konflikt kommt

Nun ist es also wieder passiert. Ziemlich genau ein Jahr, nachdem sich die Schweizer Stimmbevölkerung der „Islamisierung“ durch vier Gebetstürme auf ihrem Territorium erwehrte und ein Verbot von Minaretten zum Verfassungsgrundsatz erhob, ist am 28.11.2010 mit der Ausschaffungsinitiative ein weiteres rechtspopulistisches Ansinnen der wählerstärksten Schweizer Partei SVP von Volk und Ständen gutgeheissen worden.

Ausländerinnen und Ausländer, die sich einen „missbräuchlichen Bezug von Leistungen der Sozialhilfe oder der Sozialversicherungen“ oder eines von mehreren anderen vage umschriebenen Delikten zuschulden kommen lassen, sollen in Zukunft automatisch abgeschoben werden. Unabhängig davon, ob sie in der Schweiz sozialisiert wurden, wie schwer ihr Delikt im einzelnen wiegt – und ob ihnen im Herkunftsland Folter droht. Letzteres stellt einen eindeutigen Verstoß gegen das völkerrechtliche Prinzip des „Non-Refoulement“ dar, welches verbietet, Flüchtlinge in ein Land abzuschieben, in dem sie bedroht sind.

Das Ja zur Ausschaffungsinitiative, das im Gegensatz zur Annahme des Minarett-Verbotes wenig überraschend kam, schürt Zweifel an der Attraktivität des direktdemokratischen Modells der Schweiz und wirft eine Reihe sowohl empirischer als auch normativer Fragen auf.

Erklärungsversuche

Wie konnte es überhaupt zu diesem Abstimmungsresultat kommen?

Eine nicht unwesentliche Rolle dürfte die aggressive Werbekampagne der SVP gespielt haben. Ein schwarzes Schaf, das von weißen Schafen buchstäblich aus der Schweiz herausgekickt wird: Dieses Plakat liess die SVP schon während der Sammlung der 100’000 für eine Abstimmung nötigen Unterschriften in der ganzen Schweiz aushängen. Kurz vor der Abstimmung folgte dann das Sujet eines „Verbrechers“ mit schwarzem Balken vor dem Gesicht (in Wirklichkeit ein kanadisches Fotomodell) mit der Aufschrift „Ivan S., Vergewaltiger – bald Schweizer?“. Auch vor dem Kinderschänder „Detlef S.“, dem Namen nach wohl deutscher Herkunft, wurde die Schweizer Bevölkerung nachdrücklich gewarnt. Vier Millionen Franken kostete die Kampagne laut SVP-Mäzen und Alt-Bundesrat Christoph Blocher. Ob diese Zahl stimmt, lässt sich nicht überprüfen – die Kampagnenbudgets müssen nicht veröffentlicht werden.

Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Finanzen einen wesentlichen Einfluss auf das Resultat von Volksabstimmungen ausüben. Im Zusammenhang mit dem Engagement des Wirtschaftsverbandes Economiesuisse für den Beitritt der Schweiz zur Uno im Jahr 2002 hatte dessen Präsident gegenüber dem „Tages-Anzeiger“ erklärt: „Wir setzen stets so viel Geld ein, wie nötig ist, um die Abstimmung zu gewinnen.“ (vgl. dazu einen Artikel in der Wochenzeitung WOZ). Diesmal blieb der Griff in die Economiesuisse-Kasse aus. Ganz unabhängig davon, wie man im allgemeinen zum intransparenten Einfluss finanzmächtiger Interessengruppen auf die direkte Demokratie steht – in diesem Fall wäre die Wirtschaftslobby wohl der einzige Akteur gewesen, der die Mittel gehabt hätte, das Resultat zu kehren.

Auch das Lavieren der bürgerlichen Mitte, das nach der Annahme der Minarett-Initiative eine neue Dimension annahm, spielte der SVP in die Hände. Demoskopisch orientierte Politiker versuchten den „Volkswillen“ mit fremdenfeindlichen Vorschlägen zu bedienen, allen voran Christophe Darbelley, der Präsident der Christlichdemokratischen Volkspartei CVP, der vorübergehend gar ein Verbot von muslimischen und jüdischen Friedhöfen forderte. Er entschuldigte sich kurz darauf, doch die Episode sollte wegweisend sein für die ambivalente Antwort der anderen bürgerlichen Parteien auf den SVP-Kreuzzug gegen die Ausländer und die „fremden Vögte“ des internationalen Rechts: „Eigentlich habt ihr recht, aber so etwas darf man doch nicht laut sagen“, war die Message, die am Stammtisch ankam. Dass es bei den Menschenrechten um mehr geht als um political correctness, wurde kaum deutlich gemacht.

Die SVP diktiert seit Jahren die Begrifflichkeit, mit der die politische Debatte in der Schweiz geführt wird. Das Wort „Asyl“ ist in den Köpfen fest mit „-missbrauch“ verbunden, und JournalistInnen, die ein Textprogramm mit automatischer Vervollständigung verwenden, dürfte beim Tippen des Worts „Ausländer“ gleich die Ergänzung „-kriminalität“ vorgeschlagen werden.

Statt klar und deutlich zu sagen, dass wir in der Schweiz kein Ausländer-, sondern ein Fremdenfeindlichkeitsproblem haben, haben sich die anderen großen Parteien im Wesentlichen an das SVP-Framing angepasst. Um der Blocher-Partei den Wind aus den Segeln zu nehmen, wurde im Parlament ein Gegenentwurf zur Ausschaffungsinitiative ersonnen, eine Art Ausschaffungsinitiative light, die dem Originaltext der SVP in der Abstimmung entgegengestellt wurde. Bezeichnenderweise wurde der Gegenentwurf bisweilen damit beworben, dass er in einigen Hinsichten noch weiter ging als die Initiative.

Angesichts der drohenden Abstimmungsniederlage sprachen sich auch prominente ExponentInnen der Sozialdemokratie für ein taktisches Ja zum Gegenentwurf aus. Man müsse „die Ängste in der Bevölkerung ernst nehmen“, wurde gerne betont. Das sollte man zweifellos. Doch geschürte Ängste vor dem Fremden ernst zu nehmen, indem man die imaginierten Gefahren bekämpft, ist etwa so sinnvoll wie Polizeischutz zur Therapie einer paranoiden Persönlichkeitsstörung. Indem die „Problemanalyse“ der SVP bestätigt wurde, arbeitete der Gegenentwurf mehr für als gegen die Initiative.

Dürfen solche Initiativen zur Abstimmung gelangen?

Unabhängig davon, wie überzeugend diese oder andere Erklärungsversuche für das eingetretene Abstimmungsresultat sind, stellt sich die Frage, ob Vorlagen wie die Minarett- oder die Ausschaffungsinitiative, welche die Menschenrechte ritzen, überhaupt zur Abstimmung gelangen sollten.

Die Schweizer Verfassung sieht zwar die Möglichkeit vor, eine Initiative trotz der nötigen 100’000 Unterschriften von Stimmberechtigten für ungültig zu erklären. Doch die Gründe für eine solche Ungültigkeitserklärung sind auf Verletzungen der „Einheit der Materie“ und der so genannten zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts beschränkt. Und die urteilende Instanz ist nicht etwa ein Verfassungsgericht, das einigermaßen politisch unabhängig wäre, sondern vielmehr das Parlament, dessen Mitglieder in ihrer Mehrheit kaum die Gefahr eingehen wollen, aufgrund einer Ungültigkeitserklärung zu „Anti-DemokratInnen“ gestempelt zu werden.

Insofern kommt die Schweizer Regelung zumindest in der Praxis den Forderungen des Genfer Republikaners Jean-Jacques Rousseau nahe, der die Einschränkung von Mehrheitsentscheiden grundsätzlich ablehnt. Er beschreibt den Übergang vom vorstaatlichen zum staatlichen Zustand als eine „völlige Entäußerung jedes Mitglieds mit allen seinen Rechten an das größere Gesamtwesen“ (Rousseau, Jean-Jacques, 2000: Vom Gesellschaftsvertrag, S. 26). Würden die Bürger bei der Staatsgründung individuelle Rechte zurückbehalten, so würde jederzeit der Rückfall in den Naturzustand drohen, da es keine Instanz gäbe, die im Zweifel beurteilen könnte, ob ein solches vorstaatliches Recht tatsächlich verletzt wird, so Rousseau. Auch den Vorschlag, Grundrechte zwar als staatliche Rechte zu verstehen, die aber durch einem einmaligen Beschluss unwiderruflich festgeschrieben werden, lehnt Rousseau mit dem Verweis darauf ab, dass es „gegen die Natur des Staatswesens wäre, wenn der Souverän ein Gesetz erließe, das er nicht auch brechen kann“ (ebenda, S. 29). Das heisst zwar nicht, dass Mehrheitsentscheide über jede Kritik erhaben sein müssen. Rousseau sieht durchaus die Gefahr, dass der Mehrheitswillen (volonté de tous) vom Allgemeinwillen (volonté générale) abweicht, der allein auf das Gemeinwohl gerichtet ist. Doch zur Vermeidung solcher Probleme können wir einzig auf die Übergzeugungskraft eines „Gesetzgebers“ hoffen, der auf das Gemeinwohl ausgerichtete Gesetze vorschlägt, ohne selbst gesetzgebende Macht zu haben. Eine institutionelle Beschränkung der Reichweite von Mehrheitsentscheiden ist ausgeschlossen.

Die liberale Gegenposition geht auf John Locke zurück, der den Gesellschaftsvertrag in Two Treatises of Government als ein Mittel zur Absicherung natürlicher Rechte versteht: Wir treten unser Recht auf Selbstjustiz an den Staat ab, um unsere natürlichen Eigentumsrechte (einschließlich des Eigentums am eigenen Körper) zu schützen. Da der Zweck des Staates im Schutz natürlicher Rechte begründet ist, findet die Kompetenz der gesetzgebenden Gewalt an ebendiesen Rechten ihre Grenze.

Eine moderne Variante der liberalen Position findet sich bei John Rawls, der die Legitimität eines Staatswesens daran bemisst, ob die gesellschaftliche Grundstruktur Prinzipien entspricht, auf wir uns einigen würden, wenn wir nicht wüssten, welche Position wir selbst in dieser Gesellschaft einnehmen. Der Mehrheitsregel schreibt Rawls einen bloß instrumentellen Wert zu (Rawls, John, 1971: A Theory of Justice, S. 356). Ob Einschränkungen der Mehrheitsregel gerechtfertigt sind, ist dann eine Frage der politischen Klugheit: Es gilt die Gefahr einer „Tyrannei der Mehrheit“ gegen die Gefahr des Machtmissbrauchs durch VerfassungsrichterInnen abzuwägen.

Nun möchte man vielleicht einwenden, dass bei gleich gerechten Ergebnissen auf der „Output“-Seite ein demokratisches Verfahren dem richterlichen Entscheid durchweg vorzuziehen ist. Ein plausibles Konzept der politischen Legitimität sollte auch die „Input“-Kompenente berücksichtigen, und auf Ebene der idealen Theorie sollten wir wohl mit Habermas verlangen, dass Menschenrechte, welche die Ausübung der Volkssouveränität erst ermöglichen, dieser nicht von außen auferlegt werden. (Vgl. Habermas, Jürgen, 1994: Über den internen Zusammenhang von Rechtsstaat und Demokratie). Doch in der nichtidealen Theorie, die zwischen Menschenrechtsdefiziten und Demokratiedefiziten abwägen muss, scheint es mir durchaus plausibel, gewisse Einschränkungen der Mehrheitsregel als das kleinere Übel anzusehen.

Wie auch immer wir mit diesen Fragen in der normativen Theorie umgehen – in praktischer Hinsicht werden wir jedenfalls nicht darum herumkommen, um Bevölkerungsmehrheiten für die Menschen- und Grundrechte zu kämpfen. Denn entweder werden wir weiter über Vorlagen abstimmen müssen, die diese Rechte untergraben könnten. Oder aber wir ändern die Verfassung dahingehend ab, dass Initiativen einer gerichtlichen Überprüfung ihrer Menschenrechtskonformität unterzogen werden. Doch eine solche Verfassungsbestimmung könnte wiederum nur mit einer Volksabstimmung eingeführt werden.

Die Hoffnung, dass der SVP irgendwann der Wind aus den Segeln genommen werden kann, indem man bloß weit genug auf ihre Anliegen eingeht, dürfte jedenfalls auch in Zukunft kaum in Erfüllung gehen. Denn wie der Schriftsteller Peter Bichsel in einem lesenswerten Interview sagt, geht es der Partei gar nicht um eine Lösung realer Probleme, sondern um den permanenten Wahlkampf: „Blocher will die ganze Schweiz“. Die Frage ist, wann die anderen Parteien und die Bevölkerung das endlich realisieren.

Andreas Cassee ist Assistent am Lehrstuhl für Angewandte Ethik der Universität Zürich. In seinem Dissertationsprojekt beschäftigt er sich mit der Frage, ob Staaten aus moralischer Sicht dazu berechtigt sind, die Zuwanderung auf ihr Territorium zu beschränken.

11 Kommentare zu “Ausschaffungsinitiative: Wenn die direkte Demokratie mit den Menschenrechten in Konflikt kommt

  1. Ein sehr schöner und präziser Kommentar.
    Besonders die Analogie-Metapher hat es mir angetan:
    > Doch geschürte Ängste vor dem Fremden ernst zu nehmen, indem man die imaginierten Gefahren bekämpft, ist etwa so sinnvoll wie Polizeischutz zur Therapie einer paranoiden Persönlichkeitsstörung < 🙂

  2. Das ist, wie ich finde, ein sehr schöner Kommentar.
    Allerdings ist es im Grunde genommen eine Banalität, dass sich demokratische und liberale Prinzipien in die Quere kommen können. Niemand, der nicht von idealen oder radikalen Demokratien träumt oder vom internen Zusammenhang von Rechtsstaat und Demokratie spricht – den ich, auch theoretisch, nicht sehen kann – wird sich darüber wundern. Ob man jetzt allerdings Habermasianer ist oder – wie ich – eher dazu neigt, die Reichweite demokratischer Entscheidungsverfahren rigoros zu beschneiden (nach dem Modell des deutschen Grundgesetzes): Das Problem, dass keine politische Ordnung langfristig gegen den Willen oder das hartnäckige Unbehagen einer Bevölkerungsmehrheit bestehen kann, bleibt ungelöst. Davon, dass man die Ängste der Bürgerinnen und Bürger ernst nehmen sollte, wird zwar stets floskelhaft gesprochen, aber die entsprechend redenden Politikerinnen und Politiker wissen weder, wie sie das anstellen sollen, noch was dabei herauskommen könnte. Wie sieht es denn aus, wenn man die Ängste der Bevölkerung ernst nimmt? Muss man dazu SVP-Positionen übernehmen? Allerdings bleibt auch die akademische Welt in diesem Zusammenhang seltsam stumm. Ignoranz und Schönfärberei angesichts der Gefahr fremdenfeindlicher Reaktionen können auch keine Lösung sein.

  3. Die Frage nach dem internen Zusammenhang von Demokratie und Rechtsstaat wäre sicherlich eine Debatte wert. Ich bin jedenfalls auf jede Argumentation, die meint zeigen zu können, dass rechtsstaatliche Ordnungen „in letzter Instanz“ anders als durch sie tragenden Bevölkerungen getragen und verteidigt werden sollen. Eine zu starke Politisierung von rechtlichen Unterfütterungen gesellschaftlicher Ordnungsgestaltung mag sich bisweilen als gefährlich erweisen, aber wenn kein Bewusstsein bei den Rechtsunterworfenen aktiviert werden kann, dass ihre Unterwerfung deutlich genug auf selbstgewählte Optionen zurückzuführen ist – dann sehe ich keinen Grund, warum sie diese weiter akzeptieren sollten.

    Was die Schweiz angeht, finde ich es schon erstaunlich und – man verzeihe mir meine „old school“-Herangehensweise – wie selten die KommentatorInnen-Klasse in solchen Fällen, wo die Bevölkerung rechts von einem bedeutenden Teil ihrer politischen Eliten steht, nicht deutlicher danach ruft, eben jene politische Elite solle jetzt mal Butter bei die Fische machen und „unpopuläre Maßnahmen“ angehen, konkret: Den Leuten zu sagen, dass ihre rassistisch unterfütterten Abschiebe-Phantasien menschenverachtend sind und man sein Land damit hinter zivilisatorische Errungenschaften zurückprügelt. Aber den Ruf danach, zur Not gegen das Volk zu regieren, hört man ziemlich exklusiv nur dann, wenn vermeintlich nicht mehr finanzierbare redistrubutive Programme zurechtgestutzt werden sollen. Und damit schließt sich der Kreis: In einer Atmosphäre, wo jeder nach seinen Besitzständen greift, steht immer irgendein Migrant – wahlweise Ivan, Ahmed, Fatima oder Salomon – bereit, um den Sündenbock zu geben.

  4. Wirklich lesenswerter Post, danke. Die Schweizer haben 1848 zwar einiges den USA abgekupfert. Die Idee, dass Liberty und Democracy sich öfters ausschliessen statt Hand in Hand gehen leider nicht.

    Wie sehr Abstimmungsresultate von Geld beeinflusst werden ist meines Wissens eine eher offene Frage. Mir sind keine entsprechenden Studien bekannt (aber es ist weder meine Spezialisierung noch wirklich meine Disziplin bin daher sicher keine Autorität). Kennst du was dazu?

    Und noch wegen Rousseau: Er hatte doch durchaus immer ein gewisse Unschärfe gepflegt mit seiner volonté générale. In meiner Erinnerung schwang da immer etwas wie Einstimmigkeit oder zumindest Konsens mit, was dann wiederum zumindest als ein Argument für eine Art Quorum gebraucht werden könnte. Oder spielt mir da mein Gedächtnis einen Streich wenn ich mich an die Lektüre von Jean-Jacques zu erinnern versuche?

  5. @Alban: Das erinnert mich an eine historische Episode, die mir vor einigen Wochen erzählt wurde: In der Anfangszeit der modernen Schweiz äusserte der Kanton Zürich gegenüber dem Bundesrat die Befürchtung, von Menschen aus dem Kanton Aargau überschwemmt zu werden. Die Antwort des Bundesrats: Wir sehen keinen Handlungsbedarf, und wenn die Aargauer bald die Mehrheit in eurem Kanton ausmachen: Findet euch damit ab! Ähnliches wäre heute leider kaum vorstellbar…

    @Ali: Ich bin kein Rousseau-Spezialist, habe ihn aber immer so verstanden, dass nur der Staatsgründungsakt einstimmig erfolgen muss, mit dem dann die Mehrheitsregel eingeführt wird. Was den Einfluss der Kampagnenbudgets auf Abstimmungsresultate angeht, kenne ich auch keine Studie. Ist ein – zugebenermassen unwissenschaftlicher – Schluss aus eigenen Erfahrungen mit Abstimmungskämpfen. Meine Vermutung ist, dass der Einfluss oft indirekt ist: Es sind nicht die Plakate oder Inserate selbst, welche die StimmbürgerInnen zum Umdenken bewegen, sondern Medienberichte nach dem Motto: Wenn Economiesuisse (oder eine andere Lobby) Geld in die Hand nimmt, muss eine Annahme (oder Ablehnung) der entsprechenden Vorlage wirtschaftlich tatsächlich desaströs sein. Jedenfalls wäre eine Offenlegung der Kampagnen-Finanzierung schon deshalb sinnvoll, weil dann endlich mal auf Grundlage von verlässlichen Daten untersucht werden könnte, ob die Finanzen wirklich einen Einfluss auf den Ausgang der Abstimmung haben.

  6. Zwei kleine Fragen:
    Kann man von direkten Demokratie sprechen, wenn (nur) 51% der Stimmen dafür sprachen?
    Was nutzt uns zu wissen, dass das „Sujet“, wie du es nennst, „in Wirklichkeit ein kanadisches Fotomodell“ sei… und noch, dass Detlef , per Natur, ein Deutsche Name sei?
    Ich glaube, dass man schon ein bisschen aufpassen sollte, wo man Kritik situiert und welche Mechanismen man sogar duch die Kritik selber reproduziert.

  7. @Tania: Dass sich die Fremdenfeindlichkeit in der Schweiz auch gegen Deutsche richtet, macht die Sache natürlich weder besser noch schlechter, scheint mir aber insofern interessant zu sein, als viele deutsch aussehende, in Deutschland lebende Deutsche, die den Theorieblog lesen, Fremdenhass nur als etwas kennen dürften, das sich gegen „die anderen“ richtet – insofern kann der Hinweis darauf m.E. geeignet sein, bei der Leserin / dem Leser einen Perspektivenwechsel zu bewirken. Falls dadurch der Eindruck entstanden sein sollte, Rassismus sei hier deshalb abzulehnen, weil er sich gegen das falsche Objekt richtet, tut mir das leid. Allerdings glaube ich nicht, dass wir aus politischer Korrektheit darauf verzichten sollten, auch konkrete rassistische Stereotypen in den Blick zu nehmen. Und in diesem Stereotyp, nicht „per Natur“, ist Detlef S. tatsächlich ein Deutscher. (Oder sollten wir etwa sagen, wer in einer Arbeit über Nazi-Karrikaturen eine mit Hakennase dargestellte Person als jüdisch identifiziert, reproduziere den Antisemitismus?)

    Dass es sich um ein kanadisches Fotomodell handelt, ist ohne den weiteren Hintergrund, dass die Inhaber der Bildrechte eine Klage gegen die SVP wegen der ehrverletzenden Verwendung des Bilmdaterials erwägten, tatsächlich irrelevant. Insofern diese weitere Information beim Kürzen rausgefallen ist, hätte ich das auch weglassen können.

    Was die Verwendung des Begriffs der direkten Demokratie angeht, so habe ich mich an der gängigen Unterscheidung zwischen direkter und repräsentativer Demokratie orientiert. Durch die Verwendung des Begriffs wollte ich dem Schweizer System keinen legitimatorischen Vorschuss geben – was schon deshalb unangemessen wäre, weil ein Grossteil der migrantischen Wohnbevölkerung kein Stimmrecht hat.

  8. @ Ali und Andreas Cassee:
    Ich kann mich nicht erinnern, dass Rousseau sich zu dieser Frage deutlich geäußert hat. Mir scheint nur, dass – wenn der Staat erst einmal etabliert ist – die Mehrheitsregel unter normalen Bedingungen den sichersten Hinweis auf den Gemeinwillen gibt. Die volonté générale ist ja per definitionem der Wille aller Bürger als Bürger (citoyen) und insofern kann es zu einer von der volonté générale abweichenden Willensäußerung einzelner Bürger nur kommen, wenn sie ihren partikularen Willen in den Vordergrund rücken (als bourgeois). Das kann sicherlich dazu führen, dass die volonté de tous bzw. ein Abstimmungsergebnis von der volonté générale abweicht. Um das zu verhindern, gibt es gewisse institutionelle Vorkehrungen (Verbot von Parteiungen) und natürlich die Überzeugungskraft des Gesetzgebers, von welcher Andreas Cassee spricht.
    Im Übrigen ist die volonté de tous, auch wenn sie in einem Mehrheitsentscheid zum Ausdruck kommt, unbeachtlich, weil allein die volonté générale den Willen der Republik repräsentiert. Rousseau allein wird wissen, wie das im konkreten Fall zu unterscheiden ist.

  9. @Martin: Ich habe gerade die deutschsprachige Version nicht zur Hand, aber im französischsprachigen Original steht: „La loi de la pluralité des suffrages est elle-même un établissement de convention, & suppose au moins une fois l’unanimité.“ – frei übersetzt: „Die Mehrheitsregel ist selbst eine Einrichtung der Übereinkunft und setzt wenigstens einmal die Einstimmigkeit voraus.“ (Buch 1, 5. Kapitel) Und später: „Hors ce contrat primitif, la voix du plus grand nombre oblige toujours tous les autres ; c’est une suite du contrat même.“ (Buch 5, Kapitel 4.2). (Ungefähr: „Nach dem ursprünglichen Vertrag verpflichtet die Stimme der grössten Zahl immer alle anderen; das ist eine Folge des Vertrags selbst.“) Die Idee scheint also zu sein, dass einstimmig die Mehrheitsregel eingeführt wird, die danach für alle verbindlich ist. Aber die Unterscheidung zwischen volonté générale und volonté de tous deutet tatsächlich darauf hin, dass Mehrheitsentscheidungen bei Rousseau zumindest dem Inhalt nach so aussehen müssen, „als ob“ sie einstimmig gefällt worden wären. Und angesichts der Fiktionalität des Gesellschaftsvertrags kann man sich natürlich – auch unabhängig von Rousseau – fragen, weshalb eine Abweichung vom Konsensprinzip überhaupt legitim sein soll.

  10. klare worte für ein beunruhigendes abstimmungsergebnis! danke!
    Interessant an allen beiträgen zur ausschaffungsinitiative die ich gelesen habe ist, dass die betroffenen selbst dabei nur wenig sagen. gab es positionierungen von migrantInnengruppen dagegen? glaubt ihr, dass der fremdenfeindlichkeitsdiskurs von den betroffenen bereits soweit internalisiert wurde, dass nur wenig verbündung gegen die ausschaffungsinitiative möglich ist? ich fände es interessant zu wissen, welche positionierungen es seitens der betroffenen dazu gab. denn ich glaube ein echter umschwenk in der integrationsdebatte kann nur funktionieren, wenn die betroffenen, so heterogen sie auch sind, eingebunden sind.

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