theorieblog.de | Vom Nutzen und Nachteil einer kritischen Sozialwissenschaft – Bericht von einer Aachener Podiumsdiskussion

19. November 2010, Werner

Den ca. neunzig ZuhörerInnen im randvoll gefüllten Saal des Philosophischen Instituts der RWTH Aachen wurde ein gehaltvoller theoretischer Disput geboten: Neben Helmut König, dessen 60. Geburtstag den Anlass der Veranstaltung darstellte, nahmen mit Hauke Brunkhorst und Heinz Bude zwei Soziologen teil, die um bisweilen polarisierende Zeitdiagnosen nicht verlegen sind.

Brunkhorst machte den Auftakt und fragte nach Verbindungslinien zwischen den theoretischen Anknüpfungspunkten Helmut Königs. Herbert Marcuse und Hannah Arendt, eigentlich Antipoden, verbinde doch die kritische Rezeption Heideggers und die Idee, die ontologische Differenz von Sein und Seiendem umzukehren. Marcuse setze die revolutionäre Praxis, Arendt die politische Revolution an die Stelle des Heideggerschen Seins. Bei allen Gemeinsamkeiten zwischen kritischer Gesellschaftstheorie und Republikanismus schieden sich die beiden doch am Egalitarismus. Brunkhorst betonte, die kritische Theorie habe vom Republikanismus gelernt, dass sich eine weltverändernde Praxis im Sinne von Marx nur in den Formen öffentlichen demokratischen Handelns vollziehen, aber eben auch scheitern könne. Brunkhorst spitzte seine Gedanken in fünf Thesen zu: (1) „Kritische Theorie ist nur möglich, wenn die Leute selbst ihre Gesellschaft kritisieren“. (2) Von Walter Benjamin sei nicht nur zu lernen, dass Kritik stets einen Zeitkern habe, sondern auch, dass die Möglichkeit von Kritik auch aus einer Kritik der Kritik erwachse. (3) Soziologische Zeitdiagnose könne systemische Risiken oder Krisen in den Mittelpunkt rücken. Kritische Theorie aber „ist normativ motivierte Krisentheorie“ und nicht zu verwechseln etwa mit der Risikotheorie der „Schröder-Beck-Giddens-Ära“: „Ökologische Probleme sind in dieser Gesellschaft immer mit Klassendifferenzen verkoppelt“. (4) „Alle Geschichte ist die Geschichte von Klassenkämpfen“ sei für ihn „die wichtigste Einsicht kritischer Gesellschaftswissenschaft“. Latente (Klassen-)Konflikte können nur manifest werden, „indem sie ins Arendt’sche Licht der Öffentlichkeit treten“. Dann würden sie zum Motor von gesellschaftlichen Lern- und normativ fortschreitenden Anpassungsprozessen und daher zu begrüßen. (5) Schließlich sei Kritische Theorie nicht mehr (allein) eine Theorie der Klassenkämpfe, sondern allgemeiner Theorie sozialer Konflikte, die aus der funktionalen Differenzierung entstehen.

Heinz Bude konstatierte, in der Soziologie sei nun das Projekt einer Gesellschaftstheorie wieder in den Vordergrund getreten, nachdem es zwanzig Jahre durch Differenzierungs- und Rational Choice-Theorie marginalisiert gewesen sei. Prominent würden nun wieder „Grundfragen“ der Soziologie, wie sie Ralf Dahrendorf u.a. thematisiert hatten. Begriffe wie Herrschaft, Ungleichheit, Ideologie seien wieder in den Mittelpunkt der Analyse zu stellen. „Die Leute wollen wissen, wer Gewinner und wer Verlierer ist, wer lügt und wer belogen wird“. Von der Soziologie werde wieder zunehmend die Benennung gesellschaftlicher Gegebenheiten erwartet. Die Soziologie laufe deswegen allerdings Gefahr, zu einer „Empörungs-Verstärkungs-Wissenschaft“ zu werden, die nur einem Ressentiment nachlaufe und keine praktische Aufklärung betreibe. Anhand der drei genannten Grundbegriffe illustrierte Bude, dass damit nicht weit zu kommen sei: das Problem der Ungleichheit am Beispiel von Partizipationssteigerung bei gleichzeitiger Exklusionsverstärkung; die Herrschaft anhand des Wechselspiels von ungezügelter territorialer Eliten (Wilders, Berlusconi, Sarkozy) und smarten administrativen Eliten, zwischen denen Herrschaft „zugleich gewildert und gezähmt werde“. Ideologiekritik schließlich brauche für eine „entlarvende Analyse“ irgendeinen Punkt der Wahrheit. Dieser entfalle jedoch ebenso, wie die Aussicht auf eine groß angelegte kritische Handlungsperspektive. Sozialwissenschaftler müssten sich der großen Unruhe öffnen: Es brauche Zusammenhangshypothesen, eine Klärung über die Entstehung kollektiver Akteure und einen normativen Horizont, „der sich an den großen Themen unserer Zeit schärft“ (Max Weber).

Helmut König schickte seinem Beitrag voraus: „Ich bin ein Eklektiker. Mir leuchtet einfach viel zu vieles immer ein“. Er versuche auch nicht, „irgendeine Art von systematischer Gesellschaftskritik zu entwickeln“. Im Anschluss an Danny Trom bezeichnete er Geschichte, Wissenschaft und Empörung als die klassischen gemeinsamen Bezugspunkte kritischer Gesellschaftstheorie. Nachdem nun das Vertrauen in die Geschichte als Gewähr des Fortschritts und in die Wissenschaft als Möglichkeit, Gesellschaft als Zusammenhang zu erkennen, geschwunden sei, bleibe allerdings nur noch die „transzendental obdachlos gewordene“ Empörung, doch „wenn sich die Sozialwissenschaft der Empörung anschließt, dann haben wir unser Geld nicht verdient“. Die Aufgabe der Wissenschaft sei, Empörung vom Umschlagen in Raserei abzuhalten. Im Anschluss an Michael Walzer bezeichnete König drei idealtypische Weisen von Gesellschaftskritik: Die Offenbarung (man berufe sich auf eine Erleuchtung, überbringe Wahrheiten wie Moses die zehn Gebote), die Erfindung (man konfrontiere die Welt mit normativen Idealen, wie es populär John Rawls mit seiner Theorie der Gerechtigkeit gelungen sei), und drittens die Interpretation, bei der man Motive aus dem Gegenstand selbst für Kritik heranziehe („immanente Kritik“ im Sinne von Marx). König bezog für eine Mischung aus der zweiten und dritten Variante Position. Der kritischen Theorie hielt er vor, keinen Begriff des Politischen und von Freiheit zu haben. Ihr wohne eine „Trauer des Animalischen“ inne, weil Gesellschaft „das eigentlich Geschlossene bleibe, das immer irgendwie weitergeht“.

In der Diskussion präzisierte Helmut König seine Kritik an Brunkhorsts Position. Dieser vertrete das Klassenkampf- und Fortschritts-Paradigma mit viel Emphase, doch „was ist eigentlich der Grund dafür, dass uns die Schreckensgeschichte des 20. Jahrhunderts so wenig interessiert?“ Ihm gehe das Wegwischen des stalinistischen Terrors zu schnell. Vorsichtig, aber entschieden formulierte König: „Ich bin kein Anhänger von Glucksman und anderen, die den Terror des Stalinismus bis Hegel zurückverfolgen. Aber ich glaube nicht, dass diese Schrecken mit dem Projekt einer kritischen Gesellschaftstheorie nichts zu tun haben“. Der Marxismus denke die Gestaltung der Gesellschaft wie die effektive Reorganisation eines Industriebetriebs, sowohl ihm als auch der Kritischen Theorie fehle ein originär politischer Freiheitsbegriff. Hauke Brunkhorst widersprach dem Widerspruch. Tatsächlich hafte der Kritischen Theorie die „tiefe Trauer des Animalischen“ an: „But don’t they have a point?“ Er halte der kritischen Theorie doch einen „sense of injustice“ zugute, den neuere Freiheitsbegriffe vernachlässigten.

Heinz Bude stimmte König zu: „Es ist wahr: Die Auseinandersetzung mit dem Gulag hat in Deutschland fast keine Rolle gespielt“. Gerade Marx sei allerdings im Kern ein Denker, der sich nicht mit der Geschichte abfinde. Bude bezog sich weiter auf Luc Boltanskis „Soziologie der Kritik“. Boltanskis Figur sei der kritisch agierende Alltagsmensch und der sei Realist und kritisiere nie überzogen. „Boltanski reagiert aber mit einem Kniefall davor“. Die Kritik dürfe sich aber nicht allein auf diesen Realismus stützen, schloss Bude und fügte an Helmut König gerichtet hinzu: „Der kritische Alltagsmensch ist nicht nur ein Realist, er ist immer auch ein Sehnsuchtsmensch“.


Alban Werner ist Doktorand am Institut für Politische Wissenschaft an der RWTH Aachen und Redakteur der Zeitschrift “Das Argument”. Seine Dissertation befasst sich mit politischer Opposition in europäischen Wohlfahrtsstaaten im gesellschaftlich-politischen Strukturwandel. Er interessiert sich für die Grundfragen politischer Soziologie, insbesondere Demokratie-, Staats- und Herrschaftstheorien.


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