theorieblog.de | Prekariat im Mittelbau – das kleinere Übel?

12. November 2010, Hausteiner

Auf der IB-Liste hat sich im Laufe des Donnerstags eine ausführlichere Diskussion entsponnen – wieder einmal anlässlich einer knausrig anmutenden Stellenausschreibung, nämlich für einen befristeten, gering bezahlten Werkvertrag mit hohen Qualifikationsanforderungen im teuren Moskau, der offenbar immer wieder neu besetzt wird und somit eine reguläre Stelle zu ersetzen scheint. Der Leiter des ausschreibenden Projekts, Klaus Segbers, hat sich erfreulicherweise in die Diskussion eingemischt, und schnell kristallisierte sich das altbekannte Dilemma heraus. Mehrere Diskussionsteilnehmer, sämtlich aus dem akademischen Mittelbau, berufen sich auf die Pflicht, prekären Arbeitsverhältnissen trotz begrenzter Mittel keinen Vorschub zu leisten (hingewiesen wurde auch auf eine dahingehende Initiative der DVPW, an der offenbar weiter gearbeitet wird); der Politikwissenschafts-Professor hält dagegen, dass unter den Bedingungen eines kompetitiven globalen Marktes und begrenzter Bildungsressourcen universitäre Projekte eben keine Alternative hätten, als mit den geringen verfügbaren Mitteln zu arbeiten und darauf zu hoffen, dass sich auch in diesem race to the bottom noch qualifizierte Bewerber finden. Oder im O-Ton: „überlassen wir es einfach dem spiel von angebot und nachfrage, ob sich interessentInnen finden“.

Nun ist dieses Argument so alt wie die erste Mindestlohndebatte und es trifft für den Bildungssektor möglicherweise in besonderem Maße zu: Ist es doch die Bildung, die sich im vielbeschworenen globalen Wettbewerb nur langsam auszahlt – jedenfalls kaum innerhalb des Zeithorizonts einer Legislaturperiode. Angesichts begrenzter und schrumpfender Bildungsetats müssen Universitäten und Forschungseinrichtungen nicht nur ihren laufenden Betrieb gewährleisten, sondern zugleich ihre internationale Relevanz und Produktivität beweisen – wenn nötig auf Kosten der universitären „Dienstleister“ in Forschung und Lehre, die ihrerseits zwar so ins vielgerühmte Prekariat abrutschen, aber zumindest „Erfahrung“ sammeln und ihr Humankapital für künftige Beschäftigungsverhältnisse aufwerten. Wissenschaftlichen Einrichtungen wird zwar ein inhärenter Wert zugesprochen, dieser muss aber durch wirtschaftliche Durchrationalisierung erhalten werden.

Soweit, so – aus ökonomischer Sicht – plausibel. Verwundern mag an dieser spezifischen Diskussion aber allemal, dass ausgerechnet ein Politikwissenschaftler solch alte und längst hochproblematische Markt- und Sachzwangargumente bemüht. Das fehlende Vertrauen in die politischen Entscheider, diese Marktkräfte – die letztlich den Bildungssektor und insbesondere bestimmte Fachbereiche (es sei erinnert an die Schließung der Philosophie in Middlesex!)  eindampfen – durch Regulierung zugunsten einer Bereitstellung wertvoller öffentlicher Güter zu zügeln, mag einleuchten. In der Tat entmachten Prozesse der Transnationalisierung und Ökonomisierung bzw. Privatisierung politische Institutionen auf nahezu allen Ebenen, wenn auch sicher nicht gänzlich.

Schwieriger erscheint es allerdings, dass die Eigeninitiative zugunsten fairer Arbeitsbedingungen – und auch ihre symbolische Dimension! – offenbar einen so geringen Stellenwert einnimmt. Sicher: Im Vergleich zu politischen Initiativen auf kollektiver Ebene kann das individualethische Engagement wenig ausrichten, das heißt: nur einige Wenige werden von faireren Bedingungen in einem einzelnen Forschungsprojekt profitieren – am Gesamtpanorama wird sich hierdurch wenig ändern. Dass jedoch die Möglichkeit, mit gutem Beispiel, also als Vorbild und role model voranzugehen, nicht nur verneint, sondern sogar offen geringeschätzt wird und der Fingerzeig reflexartig in Richtung der Systemkräfte geht, ist beunruhigend. Trotz der relativen Machtlosigkeit des Einzelnen, und der statistischen Wirkungslosigkeit punktuellen Handelns, ist der Abschied vom individuellen Engagement nicht ohne weiteres rechtfertigbar. Bernhard Schlink hat übrigens im neuen Merkur einen schönen Essay über Verantwortung in komplexen Prozessen, auch angewandt auf die jüngste Krisenkonstellation, geschrieben.



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