Epistemic Confusion

Die eingehende Beschäftigung mit philosophischen Fragen kann manchmal (noch mehr) Rätsel aufgeben – vermutlich eher keine Seltenheit. Dies passiert mir als Politikwissenschaftlerin besonders dann, wenn ich den Versuch mache, die philosophischen Voraussetzungen politischer Positionen zu ergründen. Charles Taylor etwa gibt sich stets kritisch gegenüber der Idee einer „gemeinsamen Menschenvernunft“ (Habermas), die klassisch liberalen politischen Theorien zugrunde liegt. Gleichzeitig aber hält er am politischen Prinzip der weltanschaulichen Neutralität des Staates fest. Da kann sich schonmal epistemische Verwirrung einstellen: philosophische Vernunftkritik und politische Neutralität – geht das zusammen?

Laut Jürgen Habermas (vgl. seinen Aufsatz „Religion in der Öffentlichkeit“ (2009), in: Zwischen Naturalismus und Religion) bildet die Annahme einer gemeinsamen Menschenvernunft die epistemische Grundlage des säkularen Staates. In modernen, pluralistischen Demokratien komme es darauf an, dass die BürgerInnen das Prinzip der weltanschaulichen Neutralität des Staates anerkennen, was wiederum bedeute, dass sie den „institutionellen Übersetzungsvorbehalt“ akzeptieren müssen – also die Regelung, dass in Parlamenten, Gerichten, Ministerien und Verwaltungen nur säkulare Gründe zählen. Das Prinzip der weltanschaulichen Neutralität impliziere, dass die Legitimität politischer Entscheidungen davon abhängt, ob sie unparteilich gerechtfertigt werden können. Das bedeute, dass sie für alle BürgerInnen, ob gläubig oder nicht, also auf Grundlage allgemein zugänglicher Gründe, einsichtig sein müssen. Voraussetzung dafür sei die Formulierung dieser Entscheidungen in einer allen BürgerInnen gleichermaßen verständlichen – das heißt: säkularen – Sprache. Im Hintergrund steht hier eine philosophische Tradition, „die sich auf ‚natürliche’ Vernunft, also allein auf öffentliche, ihrem Anspruch nach allen Personen gleichermaßen zugängliche Argumente beruft“.

Charles Taylor bespricht in seinem Text „The Polysemy of the Secular“ (in: Social Research 4/2009) die Idee, „that one can legitimately ask of a religiously and philosophically diverse democracy that everyone deliberate in a language of reason alone, leaving their religious views in the vestibule of the public sphere“. Er kritisiert an Habermas, dass dieser so hartnäckig an einem epistemischen Bruch zwischen säkularer Vernunft und religiösem Denken festhält. Rawls zollt er Anerkennung dafür, dass dieser die „tyrannische Natur“ der obigen Anforderung rasch erkannt habe. Offensichtlich steht Taylor der Idee einer Pflicht zum öffentlichen Vernunftgebrauch äußerst skeptisch gegenüber.

Andererseits aber teilt Taylor den Standpunkt von Rawls und Habermas, „that there are zones of a secular state in which the language used has to be neutral“. Dieser Bereich beschränkt sich für ihn auf die offizielle Sprache des Staates, d. h. die Sprache, in der Gesetze, administrative Beschlüsse und Gerichtsentscheidungen formuliert werden. Das politische Gebot der Neutralität des Staates, das Taylor unterstützt, verbiete in diesem Bereich eine Bezugnahme auf religiöse ebenso wie auf areligiöse Weltanschauungen, wie den Kantianismus, den Utilitarismus oder den Marxismus. Diese Bezüge müssten alle aus dem Grund ausgeschlossen werden, dass sie nicht von allen geteilt werden.

Wie kommt die Diskrepanz zwischen Taylor und Habermas zustande? Meine These ist, dass „weltanschauliche Neutralität“ und die damit zusammenhängende „allgemeine Nachvollziehbarkeit“ von Gründen für Habermas und Taylor jeweils etwas anderes bedeuten. Für Habermas ist eine Begründung allgemein nachvollziehbar und in Einklang mit dem Prinzip der weltanschaulichen Neutralität, wenn sie mit den Mitteln der angenommenen allgemeinmenschlichen Vernunft nachvollzogen werden kann, also keine partikularen Zusatzannahmen (z. B. Glaubensüberzeugungen) für ihr Verständnis und/oder Überzeugungskraft eine Rolle spielen. Für Taylor dagegen bedeutet weltanschauliche Neutralität, dass Gesetze etc. in Begriffen begründet werden, die einem „overlapping consensus“ entlehnt sind, den alle BürgerInnen teilen (was nicht heißt, dass sie ihn alle aus den gleichen Gründen unterstützen). Allgemeine Nachvollziehbarkeit hat dann gar nichts mehr mit der Vorstellung einer universellen Vernunft zu tun, sondern nur noch mit dem, worauf sich die BürgerInnen eines Gemeinwesens geeinigt haben.

Sowohl bei Habermas als auch bei Taylor spielt eine Einigung auf Verfassungsprinzipien und die Begründung von Gesetzen in Begriffen derselben eine zentrale Rolle. Der Unterschied liegt darin, dass Habermas aufgrund seines Vernunftkonzepts religiöse Begründungen als „nicht allgemein nachvollziehbar“ ausschließt, während Taylor sie zulassen kann, weil er den epistemischen Bruch zwischen säkularem und religiösem Denken nicht akzeptiert. Allgemein nachvollziehbar begründen heißt dann einfach, dass man die Begrifflichkeiten des overlapping consensus benutzt, von denen klar ist, dass die MitbürgerInnen etwas mit ihnen anfangen können – auch wenn sie sie wahrscheinlich ganz unterschiedlich interpretieren. Konkret bedeutet dies, dass z. B. ein Verbot von Sterbehilfe unter Verweis auf die Würde des Menschen gerechtfertigt werden muss und nicht etwa unter Bezugnahme auf eine christliche oder eine kantianische Moral.

Taylor macht allerdings auch klar, dass in einer Demokratie über Gesetze abgestimmt wird und dass diese im besten Falle auch die tatsächlichen (christlichen, muslimischen, marxistischen etc.) Überzeugungen der BürgerInnen widerspiegeln sollten. Jedoch dürften sie nicht in einer Art und Weise formuliert werden, die eine dieser Weltanschauungen privilegiert, denn der Staat dürfe selbst nicht christlich, muslimisch, marxistisch etc. sein. Geht das? Kann man das Verbot von Sterbehilfe in neutralen (d. h. allgemein geteilten) Begrifflichkeiten begründen und gleichzeitig darin den substanziellen Überzeugungen Ausdruck verleihen, denen das Gesetz sein Zustandekommen verdankt? Oder umgekehrt: Ist es überhaupt möglich, einen Gesetzestext ausschließlich in Begrifflichkeiten zu formulieren, die über die von allen geteilten allgemeinen Sätze nicht hinausgehen und keinerlei Referenzen zu substanziellen Überzeugungen enthalten?

Diese spezielleren Überlegungen stehen im Kontext einer Palette großer, grundsätzlicher Fragen: Gibt es so etwas wie eine universelle menschliche Vernunft, und wie kann man das wissen? Gibt es einen epistemischen Bruch zwischen säkularem und religiösem Denken, oder zwischen einer universell zugänglichen Sprache und den Spezialsprachen (religiöser und nichtreligiöser) umfassender Lehren? Macht eine Unterscheidung zwischen „substanziellem“ und „politischem“ Liberalismus Sinn? Was bedeutet „Neutralität“?

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2 Kommentare zu “Epistemic Confusion

  1. Ich glaube, dass es hier um zwei unterschiedliche Fragen geht: Die erste Frage bezieht darauf, ob man öffentliche Rechtfertigung („public justification“) als empirischen oder normativen Begriff versteht. Empirisch Rechtfertigung würde dann bedeuten, dass alle Betroffenen einer Regel tatsächlich zustimmen, normative Rechtfertigung würde bedeuten, dass es vernünftige Gründe gibt, die unter idealisierten kontrafaktischen Bedingungen allen Betroffenen potentiell zugänglich sind. Du scheinst hier die erste Position Taylor, die zweite Habermas zuzuschreiben.
    Die zweite Frage bezieht sich darauf, ob die tatsächliche oder hypothetische Zustimmung aus den selben Gründen erfolgen muss (Konsens) oder ob eine Konvergenz von unterschiedlichen (im normativen Fall gültigen) Gründen ausreicht um eine gelungene Rechtfertigung zu bilden. D.h. nur weil Taylor die Konvergenz unterschiedlicher (vernünftiger) Gründe als gültige Rechtfertigung zulässt, bedeutet das noch nicht, dass es ihm um ein rein empirische Rechtfertigung geht.
    Würde gern noch mehr schreiben, hab gerade aber keine Zeit.

  2. For me, all depends on the scope of the notion ‚public sphere‘. Some would confine the latter to law and executive politics, and then claim that a democracy should adopt a ’neutral, reasonable‘ language. But this neutral, reasonable, ’secular‘ level reflects, as Taylor states, discussions in a larger field, where religious convictions need not to be bracketed. So one could speak of a ‚multi-layered‘ public sphere: discussions in a café, media debates,… form a broad ‚antichambre‘ for legislation and politics. The latter field will have to be procedural, and not substantive, in this sense: in order for a substantive view to be reflected in the law, it will have to undergo procedural checks and balances for guaranteeing minority rights and for the sake of possible revision in the future. This is why every democracy creates its own Kafka and a new kind of heteronomy: a bureaucratic apparatus that guarantees citizen freedom and autonomy. The more autonomy wanted, the more heteronomy needed to guarantee this autonomous society.

    There is also a false dichotomy at work between ‚rational‘ and ‚irrational‘, ’secular‘ and ‚religious‘, ’neutral‘ and ’substantive‘. Why would a justification of euthanasia on grounds of human dignity be less substantive than a justification on religious grounds?
    The real dichotomy at work might be the heteronomy-autonomy divide. A society that believes that its laws have no other grounds than human experience and deliberation chooses the path of ‚autonomy‘. Religious societies point to the divine origins of their laws. The question arising then is: what happens to religion in autonomy-based societies? Is religion more than just a story of (political and societal) heteronomy? And what with heteronomy within ‚autonomous‘ societies? Prohibiting euthanasia on grounds of ‚general human dignity‘ or by reference to divine authority does not make a substantial difference; only a genealogical one. (One is likely to find examples where religious-heteronomous versus autonomous grounding does make a substantive difference, but I simply want to state that this is not always the case.)
    Anyway, I think Taylor leaves more space for the articulation of religious intuitions in the broader field of the public sphere, a freedom of expression which is in fact constituted by the assumption of a ’neutral‘ state. The problem with Habermas is how to decide on what is rational and what not.
    Something else to reflect on: if a kind of ‚universal reason‘ would exist, would it be our human reason? Would our society still be autonomous, or would it, in reflecting universal principles which are accessible through reason, return to an old fashionded Platonic metaphysics? (The Eutyphro-dilemma is lurking around the corner here.)

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