Zeitschriftenschau Juli/August 2010 – Politik, realistisch und leidenschaftlich

Lange angekündigt – hier ist sie endlich, die aktuelle Zeitschriftenschau von chris und maike:

Die Deutsche Zeitschrift für Philosophie (3/2010) widmet ihren aktuellen Schwerpunkt unter dem Titel „Wozu politische Philosophie?“ dem britischen Theoretiker Raymond Geuss, dessen Kritik an der gegenwärtigen politischen Philosophie den Herausgebern, wie Axel Honneth einleitend schreibt, „von derart allgemeiner, übergreifender Bedeutung zu sein scheint“, dass sie politische TheoretikerInnen letztlich vor die Frage stelle, „wozu und mit welchen Mitteln eine solche Art von Philosophie heute überhaupt betrieben werden soll“. In seinem Beitrag „Realismus, Wunschdenken, Utopie“ resümiert Geuss noch einmal die zentralen Gedanken seiner Streitschrift „Philosophy and Real Politics“, auf die sich das aktuelle Interesse bezieht und die leider noch nicht auf deutsch erschienen ist. David Owen diskutiert die Eigenarten von Geuss politischem Realismus, Christoph Menke vergleicht Geuss mit Adorno und das erörtert Verhältnis von Realismus und Kritik, Fabian Freyenhagen und Jörg Schaub schließlich nehmen Geuss‘ Kritik an Rawls‘ idealtheoretischem Ansatz genau unter die Lupe. Außerhalb des Schwerpunkts finden sich noch weitere spannende Artikel in dieser Ausgabe: Einmal ein Text von Jürgen Habermas zum Konzept der Menschenwürde als moralische Quelle der Menschenrechte. Es handelt sich dabei um die keynote lecture, die Habermas auf dem internationalen Kongress Human Rights Today (wir berichteten) am 17. Juni 2010 gehalten hat und die unter dem Titel „Das utopische Gefälle“ und leicht modifiziert auch in der Augustausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik erschienen ist. Tim Henning beschreibt am Beispiel Walter Benjamins einen autobiographischen Ansatz Kritischer Theorie und Ideologiekritik.

In der neusten Ausgabe des European Journal for Political Theory untersucht Rodrigo Chacón die Heideggerschen Wurzeln der Politischen Philosophie. Chacón tut dies über eine Auseinandersetzung mit dem frühen Werk von Leo Strauss:

“Yet most analyses focus on Strauss’s American works while neglecting his earlier response during the crisis years of the Weimar Republic. The article seeks to overcome this limitation by ‘deconstructing’ Strauss’s American definitions of political philosophy in light of both his Weimar understanding of politische Wissenschaft and his 1922 discovery of Heidegger’s Aristotle. I argue that Strauss’s conception of political philosophy originated in Heidegger’s subversion of the traditional distinction between theory and praxis.”

Garrett W. Brown formuliert in diesem Heft eine Kantische Antwort auf Derridas „On Cosmopolitanism“. Brown vertritt die These, Kants Recht der Hospitalität „could be understood as the basic normative requirement necessary to establish an ethical condition for intersubjective communication at the global level, where discursive communication regarding the substance of a future condition of cosmopolitan justice is to be subjected to global public reason.”

Im Leviathan (2/2010) erzählt Helmut Dubiel in einem sehr persönlichen Text vom Sterben Herbert Marcuses. Weiterhin gibt es u.a. zwei Artikel von Renate Mayntz und Wolfgang Streeck zur Fianzkrise und der Handlungsfähigkeit des Staates; Jürgen Kocka schreibt zu „Mode und Wahrheit in der Geschichtswissenschaft“.

Der Mittelweg 36 (3/2010) druckt und kommentiert in der Juni/Juli-Ausgabe den Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und der israelischen Historikerin Leni Yahil, die sich 1961 – Arendt hielt sich zu dem Zeitpunkt in Jerusalem auf, um über den Prozess gegen Eichmann zu berichten – kennenlernten. Der Briefwechsel dokumentiert das Scheitern der Freundschaft der beiden Frauen über der „Eichmann-Kontroverse“, die sich an Arendts Prozessbericht entzündete und in der internationalen Öffentlichkeit – und, wie die Briefe noch einmal deutlich zeigen, bis tief in die privaten Beziehungen hinein – hitzig und sehr emotional geführt würde. Christian Schneider schreibt in der Literaturbeilage über Adornos Verhältnis zur Psychoanalyse. Die aktuelle Ausgabe (4/2010) thematisiert im Schwerpunkt die „Kommunikation des Beschweigens“. Júlia Garraio interpretiert in Reinhard Jirgls „Die Unvollendeten“ und Hans-Ulrich Treichels „Der Verlorene“ Vergewaltigung als Schlüsselbegriff einer misslungenen Vergangenheitsbewältigung. Julijana Ranc analysiert „antijüdische Affekte und Argumentationen als Ressentiment-Kommunikation in actu“, Bernd Greiner zieht eine Bilanz der „Folgewirkungen der Ökonomie im Kalten Krieg“. Im Mittelteil findet sich diesmal – statt der Literaturbeilage – die Dokumetation der „Berliner Colloquien zur Zeitgeschichte“, die das Hamburger Institut für Sozialforschung und das Einstein Forum Potsdam seit März 2010 veranstalten. Darin ein ausführliches Protokoll des ersten Colloquiums zum Thema „Imperial Presidency“ und ein Beitrag von Christopher H. Pyle, der Obamas Regierung als eine „Regierung der Optionen portraitiert und auf deren Potentiale zur Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit in den USA befragt“. (Inhaltsangaben aller Ausgaben des Mittelweg 36, von dem es keine Online-Ausgabe gibt, finden sich auf hsozkult)

In ihrem Schwerpunkt „Emotionen in der Politik(-wissenschaft)“ wendet sich die Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft (2/2010) der Entdeckung der Gefühle durch die politische Theorie zu. Auch wenn, wie Gary S. Schaal im Editorial schreibt, das ständige Ausrufen von „turns“ in der Politikwissenschaft fast schon manisch anmute, sei doch die erneute Hinwendung zu Emotionen und Leidenschaften keine Modeerscheinung, sondern ein ernstzunehmender Perspektivwechsel. Es gehe hierbei um die Neubestimmung der Grundbegriffe theoretischen Denkens, um die Überwindung der auf Platon zurückgehenden Entgegensetzung von Rationalität und Leidenschaft, die struktuierend auch andere Begriffe organisiere (in einer anderen Theoriesprache würde man zu diesem Vorgehen Dekonstruktion sagen). Brigitte Bargetz und Birgit Sauer nehmen diesen Impuls aus machtkritischer und feministischer Perspektive auf und fragen nach einer emotionsbewussten „Transformation des Politischen“. Dirk Jörke liest Aristoteles‘ Rhetorik als „Handbuch der Emotionalisierung politischen Handelns“ und als Korrektiv für den kognitivistischen bias der deliberativen Demokratietheorie. Oliver Lembke und Florian Weber arbeiten in ihrem Beitrag die Rolle der Leidenschaften in Revolutionen heraus. Ebenfalls lesenswert in dieser Ausgabe: Tamara Ehs‘ Rückblick auf die historischen Anfänge der österreichischen Politikwissenschaft.

Die Zeitschrift Osteuropa (7/2010) holt den beinahe in Vergessenheit geratenen, polnisch-jüdischen Komponisten Mieczyslaw Weinberg aus der Versenkung. Weinberg ging nach dem deutschen Überfall auf Polen in die Sowjetunion und wurde dort zunächst von Dmitri Schostakowitsch entdeckt, fiel jedoch bei Stalin in Ungnade und kam ins Gefängnis. David Fannng schreibt zur Einführung in sein Werk:

„Es mag verlockend sein, Weinberg als eine Art moralischen Leitstern zu präsentieren, aber seine Botschaft hat nichts mit Kommunismus, Antikommunismus oder politischem Engagement irgendwelcher Art zu tun. Nur das Etikett „Antifaschist“ hätte er wohl akzeptiert. Seine Botschaft, wenn wir sie denn so nennen wollen, handelt vom Mensch- und Künstlersein in den Turbulenzen Mitte des 20. Jahrhunderts.“ (der Text ist komplett online)

Besonderes Gimmick: Der Zeitschrift ist eine CD mit Weinbergs Streichquartett Nr. 6, op. 35 beigelegt. Auf Youtube gibt es ein sehr schönes, von Rostropovich gespieltes Cellokonzert:

In der aktuellen Ausgabe der Philosophy & Social Criticism (6/2010) geht es in zwei interessanten Artikeln um Liebe und Freundschaft in der Politik. Robyn Marasco kritisiert die Wiederkehr des Glaubens an die versöhnende Kraft der Liebe in der gegenwärtigen politischen Theorie (Zizek, Badiou) und versucht – mit Simone de Beauvoirs feministischer Kritik, Marxens Verspottung des „liebeskranken Kommunismus“ und schließlich mit Walter Benjamin und Theodor W. Adorno herauszuarbeiten, dass kritische Theoretikerinnen nicht den Fehler machen sollten, radikale und revolutionäre Politik auf der Kraft der Liebe begründen zu wollen und plädiert für eine „Kunst des Warten-Könnens“. Jack Reynolds interpretiert Derridas Konzeption von Zeit und sein Verständnis des Unzeitgemäßen (untimelyness/contretemps) in „Politik der Freundschaft“.

Die Juniausgabe der Political Theory (3/2010) wartet mit einer special section zu Hannah Arendt auf: David L. Marshall wirft mit Hilfe früher Manuskripte und vor allem der Denktagebücher ein neues Licht auf Arendts Theorie der politischen Urteilskraft. Er versucht die prominentesten Einwände, wie sie u.a. von Jürgen Habermas gegen Arendt vorgebracht worden sind, zu widerlegen und Stärken der Konzeption, auch im Hinblick auf heutige Theoriebildung, herauszustellen. Jimmy Casas Klausen untersucht und kritisiert Hannah Arendts eurozentrischen „Antiprimitivismus“ und ihre auf einem engen Kulturbegriff basierenden Menschheitskonzeption, aus der „Primitive“ als „weltlose Völker“ von vorneherein ausgeschlossen seien. In der aktuellen Ausgabe (4/2010) erkundet u.a. James Hankins den Ursprung des republikanischen Gedankens, nur gewählte Regierungen seien legitim, als diskursive Praxis in der italienischen Renaissance. Im „Online First“-Bereich (hier veröffentlicht die PT einige ausgewählte Artikel vorab) gibt es einen interessanten Text von Horacio Spector, der die Freiheitsbegriffe sowohl der liberalen als auch der republikanischen Tradition neu kartographiert.

Die American Political Science Association hat mit der American Political Science Review, Perspectives on Politics und der PS: Political Science & Politics drei unterschiedliche Zeitschriften als Publikationsorgane, die nach einem festgelegten Monatsplan an die Mitglieder versandt werden. Im Juli diesen Jahres war die PS: Political Science & Politics wieder an der Reihe, die in ihrem neuen Heft zwei interessante Schwerpunktsetzungen vornimmt: „Torture and the War on Terror“ und „The Meaning and Legacy of the Magna Carta“.
Den Fragenkomplex rund um das Thema Folter versuchen acht unterschiedliche Aufsätze aufzuarbeiten. Die Bandbreite der Ansätze reicht dabei von politik-philosophischen Abhandlungen wie die von Will Moore über Incarceration, Interrogation, and Counterterror bis zu empirischen Untersuchungen über die Korrelation von Terrorangst und positiven Asylverfahren oder den Zustimmungsraten der US-Bürger zu Folter. Hier kommt das Autorenteam um Paul Gronke und Darius Rejali zu dem Ergebnis:

“Since the election of President Obama, there has been an excessive exuberance in the air, as if the American people have just woken up and learned to oppose torture. That is a mistaken view of both the past and the present. Not once during the eight years of the Bush administration was there an American majority in favor of the use of torture.”

Der zweiten Themenschwerpunkt, der das Vermächtnis der Magna Carta untersucht, vereint vorrangig ideengeschichtliche Beiträge. Neben Cary Nedermans Analyse der Grundlagen der Magna Carta im Werk von John of Salisbury finden sich Abhandlungen über das Zusammenspiel von Magna Carta und Habeas Corpus, die Dialektik von Sklaverei und Magna Carta im anglo-amerikanischen Konstitutionalismus oder die Bedeutung der Magna Carta für die jüngsten Entscheidungen des Supreme Courts im War on Terror. Interessant ist auch der Beitrag von Elizabeth Cohen, die argumentiert, dass mit der Magna Carta das jus tempus als ein Stützpfeiler des Souveränitätsdenkens etabliert wird: Für die Bestimmung der citizenship ist es nicht allein von Bedeutung, auf welchem Territorium man geboren wurde, sondern auch zu welcher Zeit. Neben diesen beiden Schwerpunkten hat das Heft in seiner Rubrik „The Teacher“ auch noch jede Menge Hinweise und Tipps für eine originelle und gewinnbringende Seminargestaltung parat.

In der letzten Ausgabe der PVS diskutieren aus politikwissenschaftlicher Perspektive Martin Höpner, Stephan Leibfried, Marcus Höreth, Fritz W. Scharpf und Michael Zürn das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Lissabon-Vertrag. (Das rechtswissenschaftlich Pendant dazu findet sich in der Ausgabe 04/2009 der Zeitschrift „Der Staat“). Die Beiträge dokumentieren eine Kontroverse, die auf dem Kieler DVPW-Kongress im September 2009 im Rahmen einer Podiumsdiskussion ausgetragen wurde und geben allen, die nicht dabei waren, die Möglichkeit die einzelnen Positionen nachzulesen. Während Leibfried, Zürn, Scharpf und Höreth das Urteil zwecks seines rückwärtsgewandten Souveränitätsdenkens kritisieren, erkennt Höpner im Lissabon-Urteil einen „begrüßenswerten Fortschritt“.

Heft 1/2010 der Zeitschrift für Politik steht ganz und gar unter einem ideengeschichtlichen Stern. Die Beiträge reichen von einer Analyse der dunklen Seite des Monotheismus und der Moderne im Werk von John Milbank (Kajewski) über eine Ortsbestimmung des heutigen Menschen im Spannungsfeld von Humanismus und Metahumanismus (Mayer-Tasch) bis hin zu einer Auseinandersetzung mit der politischen Anthropologie eines Helmuth Plessners. Eröffnet wird das Heft durch den Beitrag von Manuel Knoll zur distributiven Gerechtigkeit bei Platon und Aristoteles. Entgegen der verbreiteten Auffassung, dass Aristoteles als der »Entdecker« der partikularen Gerechtigkeit anzusehen ist, zeigt Knoll auf, dass diese Ansicht vor allem deshalb unzutreffend ist, weil Platon in der Politeia und den Nomoi bereits die Lehre von der distributiven Gerechtigkeit und der für sie charakteristischen geometrischen oder proportionalen Gleichheit entwickelt hat.

2 Kommentare zu “Zeitschriftenschau Juli/August 2010 – Politik, realistisch und leidenschaftlich

  1. Ein kleiner Nachtrag zur Deutschen Zeitschrift für Philosophie: Wer sich für die Kunstform des akademischen Verrisses erwärmen kann, der kommt bei der Rezension von Markus Gabriels „An den Grenzen der Erkenntnistheorie“ durch Peter Baumann auf seine Kosten. Hier der Link: http://www.oldenbourg-link.com/doi/pdf/10.1524/dzph.2010.0038. Baumanns Rezension — man beachte auch die Fußnote, die leider im Pdf des nächsten Artikels gelandet ist — spielt fast schon in der Liga von Colin McGinns brutaler Besprechung von Ted Hondrichs „On Consciousness“ (http://www.ucl.ac.uk/~uctytho/McGinnReview.html). Ob Baumanns harsche Kritik gerechtfertigt ist, kann ich nicht beurteilen, ich fand sie nur bemerkenswert, da ich vergleichbares in deutschen Zeitschriften noch nicht gelesen habe.

  2. Vielen Dank für die tollen Überblick und besonders für den Hinweis auf die aktuelle Ausgabe der ÖZP.

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