theorieblog.de | Todd Hedrick zur Habermas-Rawls-Debatte und der Möglichkeit normativer politischer Theoriebildung
3. August 2010, Stetten
Seit John Rawls’ „Theorie der Gerechtigkeit“ sind die Debatten im Bereich der angloamerikanischen politischen Philosophie explodiert, zahlreiche neue Professuren wurden geschaffen, Forschungsprojekte ins Leben gerufen, Zeitschriften gegründet. Jürgen Habermas und die anderen Nachfolger der frühen Frankfurter Schule können zwar keine vergleichbare Forschungsindustrie vorweisen, der Einfluss auf die politische Theorie in Deutschland ist aber dennoch sichtbar. Spätestens der Austausch zwischen Rawls und Habermas im Journal of Philosophy von 1995 hat kontinentaleuropäisches und anglo-amerikanisches Denken über normative politische Theoriebildung zusammengebracht. Dabei stand eine zentrale Frage immer im Raum: Können wir den Status unserer normativen Theorie plausibel begründen? Oder lässt sich der verbindliche Charakter von politischer Theorie in der Moderne nicht mehr rechtfertigen? Mit Todd Hedricks Buch „Rawls and Habermas. Reason, Pluralism, and the Claims of Political Philosophy“ (Stanford University Press, 2010) ist nun erstmals eine Monografie zur Auseinandersetzung zwischen Rawls und Habermas erschienen.
Im Mittelpunkt des Buches steht dabei eine sehr grundlegendere Frage: Was heißt eigentlich politische Theorie in Zeiten einer „increasing implausibility of political theories that employ substantial, universalistic, practice orienting conceptions of reason“ (184)? Aus Hedricks Sicht bieten Rawls und Habermas Ansätze, die einen besonderen Spürsinn für Grenzen des Philosophierens vorweisen und daher besonders für ein solches Projekt geeignet sind.
Durch die weite Fragestellung des Buches weist Hedricks Buch zudem weit über die Habermas-Rawls-Debatte hinaus. Hedricks Leitintention lautet, dass Habermas und Rawls der normativen politischen Theorie enge Grenzen aufzeigen, die anderen Denkern fundamentale Rechtfertigungsprobleme bereiten. Das betrifft vor allem den weit verbreiteten Anspruch, eine Theorie anbieten zu können, die nicht nur bestimmte politische Ideen kohärent darstellt und plausibel erläutert, sondern als moralische, verpflichtende Ideale rechtfertigt. Hedrick sieht bei Habermas und Rawls sehr viel Potential um dies zu erreichen und untersucht daher, ob sich dieser Anspruch auch einlösen lässt. Auch wenn Hedrick durchweg keine ganz klare Position bezieht, lässt sich vorweg etwas über seinen Standpunkt sagen. Hedrick ist kein Skeptizist per se, eher ein skeptischer Rationalist. Zudem ergreift er für Habermas explizit Partei und stellt heraus, dass er dessen Positionen durchweg für plausibler ansieht als die von Rawls.
Kurz zum Aufbau des Buches: Insgesamt umfasst es auf knapp 200 Seiten neun Kapitel. Die ersten drei Kapitel sind Rawls’ konstruktivistischer Begründungsstrategie gewidmet. In Kapitel vier fasst er die Probleme in Rawls’ freistehender Begründungskonzeption zusammen und leitet über zu Habermas’ Begrünungsstrategie in „Faktizität und Geltung“. Kapitel fünf und sechs dienen einer genaueren Erläuterung von Habermas’ Argumentation, wobei Hedrick sich primär auf den Rechtfertigungsstatus der Diskurstheorie konzentriert. Aufgrund der dabei offen gebliebenen Fragen konzentriert er sich in Kapitel sieben und acht auf die Verfassungstheorien bei Rawls und Habermas. Hedrick hält die Begründung des Rechts und des Staates bei beiden für ungenügend und verlagert daher seine Argumentation auf die höchste Ebene innerhalb der schon bestehenden Strukturen moderner Staaten – die Verfassung. Kapitel neun schließt danach mit einem Fazit und einigen sehr interessanten Bewertungen ab, die vor allem auf die Möglichkeit einer Begründung politischer Theorie im Anschluss an Rawls und Habermas abzielen.
Den Grundkonflikt der Habermas-Rawls-Debatte – die Begründung von normativer politischer Theorie – leitet Hedrick von der „precarious theoretical position“ von Rawls’ „freistehender“ Theoriekonzeption ab. Zur Erinnerung: Der späte Rawls will den Status einer vernünftigen politischen Theorie nicht von strittigen philosophischen Debatten wie der Wahrheit von moralischen Prinzipien oder anderen metaphysischen Problemen abhängig machen, sondern als „freistehende“ Konzeption begründen. Was aber heißt dann ‚begründen’? Für Hedrick ergibt sich hier eine Spannung zwischen einer fehlenden metaphysischen Fundierung und dem Zurückfallen in die bloße Beschreibung eines Ideals oder gewünschten Zustandes. Demnach kann Rawls den Anspruch des verpflichtenden Charakters seines Politischen Liberalismus nicht einlösen und fällt in das Dilemma der metaphysischen Theorien der Vormoderne zurück: entweder ist eine Theorie die moralisch richtige, weil eine metaphysische Wahrheit dies begründet, oder die normative Ausrichtung der Theorie kann nicht plausibel begründet werden. Aus Hedricks Sicht bietet Rawls keine weitere Alternative an, um ohne Metaphysik eine deontologische Theorie darzulegen.
Dieses Zwischenfazit ermöglicht Hedrick die Überleitung zu Habermas’ Theorie des demokratischen Rechtsstaats. Er macht gleich klar, dass Rawls – was davor aber auch schon vielen aufgefallen ist – Habermas’ Unterscheidung zwischen rekonstruktiver und konstruktiver Methode nicht hinreichend berücksichtigt habe. Während Rawls aus bestimmten Fakten (vernünftige Personen, gesellschaftlicher Pluralismus, u.a.) eine substantielle, also inhaltlich ausgefüllte Konzeption von Gerechtigkeit konstruiere, rekonstruiere Habermas die Voraussetzungen legitimer Entscheidungsverfahren im demokratischen Rechtsstaat. Es stellt sich für Hedrick nun die Frage, ob Habermas’ Theorie nicht die Lücke schließen kann, die sich bei Rawls aufgetan hat.
Das Diskursprinzip hält Hedrick dabei als „entry point“ für die entscheidende Komponente in Habermas’ Theorie. Er verwirft daher auch von Beginn an die Einwände zu Habermas’ fehlender Rechtsbegründung, die von deutschen Kritikern entweder auf mangelnde Berücksichtung von Kants Rechtsphilosophie (Höffe, Kersting) oder eine Abwendung vom richtigen Begriff der Demokratie (Maus) gewertet wurde. Die funktionale Argumentation zur Rechtsform sei aber nur unproblematisch, wenn der normative Anspruch der Theorie darunter nicht leide. Hedrick verweist daher auf die moralische Rechtfertigung durch das Diskursprinzip, wobei ihm klar ist, dass der späte Habermas dieses eigentlich nur als abstraktes Instrumentarium versteht, welches in verschiedenen Bereichen (Ethik, Moral, Recht, technische Fragen) zur Anwendung kommen kann.
Zur Erklärung: Der späte Habermas (seit Mitte der 80er Jahre, spätestens seit der Veröffentlichung von „Faktizität und Geltung“ 1992) verortet das Diskursprinzip auf einer abstrakteren Ebene als der moralischen, um mit dem pragmatischen und dem legalen Diskurs auch nicht-moralische Diskursformen anführen zu können. Damit schließt Habermas auch eine moralische Letztbegründung aus, die beispielsweise von Karl-Otto Apel im diskurstheoretischen Lager noch verteidigt wird. Das Problem an der Sache: wer eine normative politische Theorie begründen will, muss darlegen, warum sie eine moralische Verpflichtung enthält. Es ist durchaus strittig, ob Habermas überhaupt eine solche Form der normativen Theorie vertritt. Hedrick geht es hier aber um die Frage, ob sich Habermas’ Ansatz doch für eine moralische Rechtfertigung von politischen Strukturen nutzen lässt. Hedrick hält eine moralische Begründung zumindest indirekt für möglich, da Habermas’ „social evolutionary perspective“ über das funktionale Argument zur Begründung des Rechts hinausweist (145).
Das Diskursprinzip scheint keine hinreichenden Antworten zu geben, weil es nicht von vornherein eine moralische Argumentationsform darstellt, sondern auch in legaler, ethischer und pragmatischer Form auftreten kann. Es muss aus Hedricks Sicht noch ein weiterer Schritt getan werden. Habermas’ Zusammenlegung von Diskursprinzip und Rechtsform in einer Art halbierter moralischer Rechtfertigung führt Hedrick zu den konstitutionellen Grundlagen moderner Rechtsstaaten. Hedrick verlagert gewissermaßen das Problem der fehlenden moralischen Letztbegründung bei Rawls und Habermas auf die Ebene der rechtlichen Strukturen. An die Stelle der Suche nach grundlegenden moralischen Prinzipien (wie in der Vertragstheorie des 18. Jahrhunderts) von Staaten und Rechtskörpern rückt die Frage nach der richtigen Organisation von modernen Staaten, die das Recht als geeignetes Organisationsmedium schon voraussetzen. Hedricks Frage lautet, ob Habermas und Rawls eine normative Theorie bieten können, welche mittels der Rechtsform den Zusammenhalt einer modernen Gesellschaft rechtfertigen kann. Zur Beantwortung blickt er auf die höchste Form des Rechts, die moderne Staaten kennen: die Verfassung. Mit Hilfe von Michelmans Kritik am „Constitutional Contractarianism“ argumentiert Hedrick, dass Rawls letztendlich nicht die Probleme seiner Theorie beseitigen kann. Wenn in einer freistehenden Theorie eine Gerechtigkeitskonzeption nicht aus gemeinsam geteilten, sondern privaten und unterschiedlichen Gründen angenommen wird, warum sollten wir dann davon ausgehen, dass überhaupt ein Konsens über noch so abstrakte Verfassungsprinzipien zustande kommt? Da von einem solchen Konsens – dem „overlapping consensus“ – aber auch die Gültigkeit der Gerechtigkeitsprinzipien abhänge, könne Rawls seinem normativen Anspruch nicht mehr gerecht werden.
Hedricks Argument besagt also, dass Rawls seine zwei Gerechtigkeitsgrundsätze noch so gut im Modell des Urzustands begründen kann, diese aber weder Einigkeit bei der Suche nach einer geeigneten Verfassung garantieren noch in einem anderen Zusammenhang dem normativen Anspruch der Theorie gerecht werden. Hedrick zeigt sich insbesondere skeptisch bei der Frage, ob das Differenzprinzip für alle Bürger eines Staates mit den gleichen Grundrechten verbunden ist. Das betrifft, denke ich, insbesondere die strittige Frage, ob soziale und vielleicht sogar kulturelle Rechte Teil einer Verfassung sein sollten.
Habermas’ von Klaus Günther übernommene Unterscheidung zwischen Rechtfertigungs- und Anwendungsdiskursen ist aus Hedricks Sicht eine mögliche Lösung für das Problem der Uneinigkeit über eine grundlegende Verfassung für eine moderne Gesellschaft. So könnten abstrakte normative Grundlagen noch als richtig gelten, wenn in konkreten Situationen von diesen abgewichen wird bzw. ein abstraktes Prinzip verletzt wird. Nur weil in einem besonderen Fall sich zwei Prinzipien gegenüber stehen, müsse es noch keinen gesellschaftlichen Dissens über die verfassungsrechtlichen Grundlagen eines modernen Staates geben. Rechtfertigungsdiskurse könnten die normativen Komponenten von politischer Theorie retten, die durch Anwendungsdiskurse in Frage gestellt werden. Dennoch sieht Hedrick hier eine Spannung zwischen Universalismus und Kontextualismus aufkommen. Warum sollten universelle Prinzipien oder Normen Geltung beanspruchen, wenn sie in bestimmten Kontexten nicht zur Anwendung kommen können oder gar inhaltlich widerlegt werden können? Jeder kontextualistische Einwand begrenze zugleich die normative Geltungskraft. Deshalb müsse die politische Philosophie hier besonders sensibel vorgehen, sodass die besonderen Bedingungen von bestimmten politischen Kontexten nicht vernachlässigt werden.
Hedrick beendet das Buch mit dem Hinweis, dass die Agenda der postmetaphysischen politischen Philosophie vor allem nach einem „equal weight to the reconciliatory and critical moments of reason“ verlange (194). Das ist eigentlich nicht überraschend, deutet jedoch auf zwei daran anschließende Schlussfolgerungen hin. Erstens bietet Habermas’ Theorie des demokratischen Rechtsstaates vielleicht die einzig plausible normative Konzeption von Politik, die genügend Spielraum für kontextbezogene Einwände lässt und gleichzeitg einen universellen Geltungsanspruch verteidigen kann. Es bleibt aber die Frage, ob Habermas den von Hedrick gesuchten Begriff von Normativität überhaupt liefern kann und will. Geht es Habermas um eine moralische Begründung des demokratischen Rechtsstaates oder hat er nicht schon immer auf die soziale Funktion von Recht und Demokratie zur legitimen Organisation von modernen Gesellschaften hingewiesen, die mit Normativität im moralphilosophischen Sinne nichts zu tun hat? Zweitens scheint der für Hedrick gescheiterter normative Anspruch bei Rawls die Unmöglichkeit aller substantiellen Gerechtigkeitstheorien anzudeuten. Worin besteht der Nutzen politischer Theorie bei Dworkin, Larmore, Raz, Joshua Cohen und anderen, wenn deren grundlegende moralische Prinzipien ihren verpflichtenden Charakter verlieren? Führt diese Einsicht nicht direkt zum normativen Relativismus? Nach dem Lesen von Hedricks Buch hat man den Eindruck, dass nicht nur Rawls, sondern auch weitere Autoren den Wahrheitsanspruch ihrer Theorie fallen lassen müssten – oder eben einen anderen Anspruch an ihre Theorie offenlegen. Ob dieser Schritt mit dem verpflichtenden Charakter von normativer politischer Theoriebildung vereinbar ist, bleibt im Hinblick auf Hedricks Thesen aber ebenso fraglich.
Hedricks Buch deckt nicht alle offenen Fragen der Habermas-Rawls-Debatte und der daran anschließenden Problemfelder ab. Ich denke da beispielsweise an die sehr unterschiedliche Definition von Begriffen wie Legitimität und Gerechtigkeit, den Status von sozialen und kulturellen Grundrechten (insofern es sie gibt) sowie den Demokratiebegriff. Todd Hedricks skeptische Neugier gegenüber einer postmetaphysischen Fundierung von normativer politischer Theorie wirft aber nicht nur ein interessantes Licht auf die Habermas-Rawls-Debatte, sondern stellt vor allem die Frage nach der Relevanz von normativer politischer Theorie überhaupt. Geht es nur um die Rekonstruktion von politischen Ideen, die aber nicht verpflichtenden Charakter haben, sondern von der Philosophie nur systematisch aufbereitet werden? Oder kann beispielsweise doch ein Modell von Demokratie und Gerechtigkeit als universell gültiges Ordnungsmodell begründet werden, auch wenn empirische Beispiele oft dagegen sprechen?
Ich denke, dass sich im Anschluss an Hedricks Buchs reihenweise Forschungsthemen finden lassen, die in naher Zukunft sehr relevant sein werden. Hedricks Buch hinterlässt einen gewissermaßen mit der „paradoxe Situation“, die Karl-Otto Apel 1973 gesehen hat: „Einerseits nämlich war das Bedürfnis nach einer universalen, d.h. für die menschliche Gesellschaft insgesamt verbindlichen Ethik noch nie so dringend wie in unserem Zeitalter einer durch die technologischen Konsequenzen der Wissenschaft hergestellten planetaren Einheitssituation. Andererseits scheint die philosophische Aufgabe einer rationalen Begründung allgemeiner Ethik noch nie so schwierig, ja aussichtslos gewesen zu sein […].“ (Transformation der Philosophie, Band 2, S. 359)
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