Wikileaks und die Frage, ob man überhaupt etwas zu Afghanistan sagen sollte

Im Anschluss an den Bericht von der Methodendiskussion unter den Ideengeschichtlern würde ich gerne eine weitere quasi-methodische Frage aufwerfen. Im Rahmen meiner Dissertation beschäftige ich mich mit der Legitimität internationaler Übergangsverwaltungen im Kontext von Nachkriegsgesellschaften. Sehr häufig werde ich daher auch auf Afghanistan angesprochen. Und in der Tat, obwohl die Konstellation dort nicht meiner Definition von Übergangsverwaltungen entspricht, stellen sich doch sehr ähnliche Fragen. So bin ich versucht, auch zu Afghanistan eine wohlbegründete Meinung zu äußern. Immer wieder überkommt mich dabei aber Zweifel, zuletzt durch die Veröffentlichung US-amerikanischer Militärdokumente via Wikileaks. Sollte man als politischer Theoretiker überhaupt etwas zu einem so zeitnahen Geschehen sagen, wenn doch die eigene Informationsgrundlage so ungewiss ist?

Damit meine ich nicht tiefergehende epistemologische Ungewissheit, sondern schlicht Mangel an Zugang zu relevanten Informationen. Dieses Problem stellt sich für politische Theorie in gewisser Weise wohl immer, sobald sie sich konkreten politischen Situationen zuwendet. Und doch gibt es offenkundig unterschiedliche Grade an Ungewissheit. Was mich dabei im konkreten Fall Afghanistans besonders erschreckt ist die Möglichkeit, dass mir ganze Dimensionen des Geschehens vor Ort vorenthalten werden. Ich neige nicht zu Verschwörungstheorien, aber es scheint ja mittlerweile doch unumstritten, dass es in Afghanistan geheime Kommandoaktionen mit dem Ziel der Tötung vermeintlicher Terroristen gibt. Was mich, schlimm genug, nicht sehr überrascht, aber doch die Frage aufwirft, ob diese nicht publik gemachten Aktionen die Lage vor Ort nicht viel mehr prägen, als die vielen öffentlich gelobten Entwicklungshilfemaßnahmen.

Eine naheliegende Reaktion auf dieses hier nur angerissene Problem wäre, einfach nichts mehr zu Afghanistan zu sagen. Das scheint mir sehr verlockend, vermeidet man so doch mögliche gravierende Fehleinschätzungen. Allerdings würde dies auch bedeuten, dass die politische Theorie schnell an ihre Grenzen stößt. Gerade in einem Fall, wo Politik – und letztlich wir als demokratische Wählerinnen und Wähler überhaupt – weitreichende Entscheidungen treffen müssen, fände ich ein solches Ergebnis aber höchst unbefriedigend. Sollte politische Theorie nicht auch unter schwierigen Informationsbedingungen Orientierung bieten können? Will man diese Frage positiv beantworten, sehe ich im Moment drei mögliche Strategien, die aber letztlich alle drei unbefriedigend bleiben:

1. Die Ungewissheit als Argument für verstärkte Vorsicht nutzen. Wenn ich keine gesicherten Informationen über die möglicherweise gravierenden Folgen einer Handlung habe, sollte ich von dieser absehen. Folgt man diesem konsequentialistischen Gedankengang, landet man letztlich bei der Position der Linkspartei, wonach Deutschland sich eher heute als morgen aus Afghanistan zurückziehen solle. Auch wenn die Linkspartei so nicht argumentierte, wäre das eine in sich schlüssige Haltung. Und doch scheint sie mir nur eine scheinbare Lösung zu sein. Das Problem der empirischen Ungewissheit stellt sich schließlich auch in diesem Fall, gerade wenn man in einer konsequentialistischen Logik bleiben möchte: Woher kann ich denn wissen, dass sich die Situation in Afghanistan durch einen Abzug der internationalen Truppen verbessert?

2. Reduktion der Ungewissheit durch Beschränkung der Fragestellung. Wenn ich schon nichts allgemein zu Afghanistan sagen kann, dann doch vielleicht zu einem überschaubaren Teilaspekt, etwa der Frage des Bildungszugangs für Frauen. Oder der Verantwortung internationaler Organisationen für ihre lokalen Mitarbeiter. Im besten Fall ist es hier möglich, zu diesem Teilaspekt hinreichend viele Informationen zu sammeln, um dann auf empirisch gesicherter Grundlage normative Überlegungen anzustellen. Und doch bleibt der Zweifel, ob man bei einem solchen Vorgehen nicht letztlich den Kontext zu sehr ausblendet. Was, wenn es viele Überlegungen im Anschluss an kleinere Fragestellungen gibt, die für ein längeres internationales Engagement sprechen, dabei aber die negativen Seiten dieses Engagements mangels verlässlicher Informationen gar nicht systematisch in die Überlegungen miteinbezogen werden können?

3. Reduktion der Ungewissheit durch stärkere Abstraktion. Die vielleicht klassische Reaktion politischer Theorie, aber letztlich wohl auch empirisch-analytischer Sozialwissenschaft im Allgemeinen, besteht darin, sich abstrakteren Fragestellungen zuzuwenden. Der offensichtliche Vorteil dabei ist, dass man nicht zu sehr von tagesaktuellen Entwicklungen abhängig ist. In gewisser Weise lässt sich die gesamte Just War-Debatte in diesem Sinne verstehen. Hinsichtlich einer Arbeitsteilung mag dies plausibel sein und entspricht möglicherweise einer idealisierten Vorstellung der Politikwissenschaft als Gesamtdisziplin. Und doch fürchte ich, dass auch hier dem Problem eher ausgewichen wird. Denn auch wenn politische Theorie sich eher allgemeiner-abstrakteren Fragen widmet, sollte sie doch anschlussfähig sein an konkretes politisches Geschehen. Vielleicht muss nicht immer der politische Theoretiker selbst diese Anwendung übernehmen, aber sie muss zumindest systematisch in der Theorie angelegt sein. Wahrscheinlich lande ich hier schließlich bei der Diskussion um ideale und nicht-ideale Theorie und der Frage, ob ideale Theorie überhaupt praktisch folgenreich sein muss. Glaubt man David Estlund, so muss sie dies nicht, wodurch sich das Problem insgesamt erledigt. Will man aber daran festhalten, dass normative politische Theorie Orientierung in unserer heutigen Welt bieten soll, müsste sie dies auch in einem so konkreten Fall wie dem Afghanistans tun können – und dann aber wiederum auch mit dem Problem der Ungewissheit umgehen können. Auf die Abstraktion müsste dann eine irgendwie systematische Konkretion unter schwierigen Informationsbedingungen folgen.

Die drei angedeuteten Strategien versuchen Wege aufzuzeigen, wie politische Theorie mit dem Problem empirischer Ungewissheit umgehen kann. Letztlich überzeugen kann mich bislang keine dieser Strategien — eine eigene Alternative steht auch noch aus. Umso mehr würde ich mich über Kommentare und Leseempfehlungen freuen!

9 Kommentare zu “Wikileaks und die Frage, ob man überhaupt etwas zu Afghanistan sagen sollte

  1. Zuerst eine kurze Rückfrage: Welche normative Grundfrage liegt denn deinem Beitrag zugrunde? Die Frage, ob der Afghanistaneinsatz legitim ist, ob er Verbesserungen bringt, ob er kontraproduktiv ist? Etc. Denn von der jeweils gewählten Frage hängt ja entscheidend ab, wie viele und welche Informationen man benötigt.

    Davon unabhängig: Kann man nicht einfach anhand der vorhandenen Informationen versuchen ein Urteil/eine Position zu beziehen und dann versuchen Kriterien für Informationen zu entwickeln, die dieses Urteil substantiell verändern könnten? In einem dritten Schritt müsste man dann darauf hinweisen, ob es eine begründete Wahrscheinlichkeit für die Existenz dieser Informationen bzw. für die die Existenz des Sachverhaltes, über den man nichts weiß, gibt. (Ja, wir kommen hier in die Nähe der Rumsfeldschen „unknown unknowns“ Philosophie… *g*)

    Denn z.B. bei den jüngst veröffentlichten Dokumenten kam ja substantiell zum Afghanistaneinsatz nichts wirklich Neues. Dass es gezielte Eliminierungskommandos gibt, wird ja niemand überraschen, der die amerikanische Politik in Afghanistan bisher näher verfolgt hat. Daher würde ich diese Dokumente nicht als so bahnbrechend verändern, dass sie jedes Urteil, das zuvor über den Einsatz gemacht wurde, negieren (das sage ich jetzt ohne die Berichte selbst intensiv studiert zu haben)

  2. Hallo Felix,

    vielen Dank für deine Nachfrage und deinen Kommentar. Einerseits würde ich dir recht geben, dass natürlich das von mir beschriebene Problem nur bei einigen Fragestellungen auftritt. Die Frage, ob militärische Interventionen prinzipiell rechtfertigbar sind, ist natürlich weniger von konkreten Fakten abhängig als Erörterungen zur Legitimität einer spezifischen Intervention. In gewisser Weise wäre das dann eine Kombination der zweiten und der dritten von mir skizzierten Strategie. Und liefe letztlich dann eben auch wieder darauf hinaus, dass bestimmte Fragen von uns als politischen Theoretikern nicht sinnvoll beantwortet werden können. Was vielleicht so ist, trotzdem aber unbefriedigend bleibt.

    Sehr spannend finde ich deinen Vorschlag, gewissermaßen im Vorhinein die eigene empirische Grundlage offenzulegen. Das ist nicht nur redlich, sondern auch eine vernünftige Absicherung. Die Frage ist dann nur, ob es nicht einen Punkt gibt, an dem die Ungewissheit so groß wird, dass auch ein solches Vorgehen nicht mehr hilft. Und man sich dann vielleicht – zumindest vorübergehend – in Zurückhaltung üben sollte?

  3. Hey Felix,

    um deine Frage nach Legitimität des Afghanistan-Einsatzes und dem Umgang mit einer unsicheren empirischen „Datenlage“ zu klären, müsste man m. E. noch einen Schritt zurück machen. Also hinter deine interessante Typologie des Umgangs mit unsicherer Information, die ich als Möglichkeit 1) Nicht-Wissen, 2) partielles Wissen 3) Strukturwissen übersetzen würde. Um diese Typologie anzuwenden ist m. E. zunächst noch eine Vorarbeit zu leisten, auf die du implizit selbst verwiesen hast und die auch schon Daniel hervorgehoben hat.

    Das wäre Vorarbeit an der Frage nach der Art und Relevanz der unverfügten „Daten“, die Auskunft über die Legitimität des Einsatzes geben könnten. („Daten“ sollten aus der Theorie wohl immer problematisiert werden).
    Die Festlegung auf verfügte oder unverfügte Information bezüglich der Terroristenjagd (so wie sie angeblich von Wiki-Leaks jetzt veröffentlicht wurden) scheint mir, um es vorsichtig zu formulieren, Teil eines recht einseitigen Sicherheits-Diskurses zu sein.

    Ohne hier weiter einsteigen zu wollen scheinen momentan „Daten“ über das Anwachsen des Einflusses regionaler Machthaber und deren Milizen, die mittlerweile sogar Teil der sogenannten Sicherheitsstrategie der ISAF werden ( http://www.monde-diplomatique.de/pm/2010/06/11.mondeText.artikel,a0041.idx,9 ) zumindest ebenso erwähnenswert. Die GfbV schätzt die Zahl dieser bewaffneten Privatarmeen mittlerweile auf über 200.000, ihre Zahl und die Zahl der Waffen im Land ist seit Kriegsende kontinuierlich gestiegen und reflektiert natürlich in gewisser Weise einfach die Illusion von der Installierung einer anerkannten Zentralgewalt.

    Ich deute das an dieser Stelle nur an, aber es gibt eben eine Menge relevanter „Daten“ in dieser Frage. Letztlich kommt man nicht drumherum Ansatztyp 3 ins Spiel zu bringen und theoretische Vorrabeit zu leisten bezüglich der Klärung des verwendeten Legitimitätsbegriffs und seiner strukturellen Voraussetzungen.

    Eine Frage hätte auch ich: Gibt es deiner Ansicht nach besonders relevante Ähnlichkeiten der Situation in Afghanistan mit anderen „Nachkriegs“-Gesellschaften (der Begriff scheint hier schon nicht so Recht zu passen…)?

    Es grüßt,
    M.

  4. Hallo Maria, danke für deine Anmerkungen! Sofern sich die Frage an mich gerichtet hat: Kannst du noch mal sagen, worauf du mit deiner Nachfrage zu Ähnlichkeiten der Situation mit anderen Nachkriegsgesellschaften abzielst?

    Vergleiche kann man da natürlich entlang unterschiedlichster Dimensionen ziehen. Als allgemeiner Punkt im Kontext der Diskussion hier wäre vielleicht interessant, dass man in Fällen von externem Wiederaufbau unter Leitung der UNO in der Regel einen besseren Informationszugang hat. Wobei es sicherlich auch genug Beispiele für Geheimniskrämerei innerhalb der UNO gibt. War das, worauf du hinaus wolltest?

  5. Die erste, konsequentialistische Position halte ich nur dann für ertragreich, wenn man die vielen verschiedenen Perspektiven möglicher Konsequenzen theoretisch durchspielen will. Die Linkspartei in diesen Zusammenhang zu stellen, halte ich für fraglich. Sie vertritt eher den Standpunkt, Krieg sei generell barbarisch, da brauche man gar nicht zu wissen, was konkret passiert, die Folgen sind immer katastrophal. Später ans Licht gekommene Kriegsverbrechen dienen da nur als ex post facto-Belege schlaumeiernder Gesinnungspolitiker.

    Die zweite Position hat durch ihre selbstgewählte Beschränkung des Kontextes das Problem, daß sie sich immer das ‚ja, aber…‘ einkauft. Selbst wenn Du die Position vertrittst, der Afghanistan-Krieg sei zu rechtfertigen, weil das ‚Mädchen-in-Schulen‘-Argument zutrifft…: Die Kritik Deiner Position lautet dann, daß die nächste fehlgeleitete Fliegerbombe jener Befreiungstruppen unschuldige Schülerinnen in ihrer neugebauten Schule trifft. Du kannst den Kontext nicht abschließen.

    Eine theoretische Position könnte sein, die Ungewissheit und den politischen kontrollierten Zugang zu Informationen als Kontextbedingung zu begreifen und auch so darzustellen. Das wäre nicht nur hilfreich für die Reichweite der Aussagen, die man dann doch treffen will. Es ist meiner Ansicht nach substantieller Bestandteil der Situation, die es zu beschreiben und anschließend zu bewerten gilt. Und hier schließen sich dann weitere Fragen an: Warum wird bspw. der Zugang kontrolliert. Wenn wir einen gerechten und auch noch sauberen Krieg führten (oder auch nur dazu in der Lage wären), bräuchte es den beschränkten Zugang nicht in jenem Ausmaß, der uns Bürgern das Gefühl der diffusen Unwissenheit läßt. (Informantenschutz oder aktuelle Operationen könnte ich mir jedoch als legitimes Argument vorstellen.) Mögliche abzuwägende Antworten wären bspw.: Weil die Bevölkerung in Demokratien nicht damit leben möchte/kann, daß ihr Krieg dreckig ist? Weil die Exekutive und ihr militärischer Arm generell den Arkanbereich schätzen – gerade wegen der Responsivität demokratischer Politik? Ich wüßte nicht warum dies nicht Teil einer legitimen Antwort aus der Perspektive der Politischen Theorie zur Frage der Rechtfertigung des Afghanistan-Einsatzes sein sollte.

    Ich schätze mal, das läuft auf Deinen dritten Punkt hinaus. Ich will Deiner Systematik aber nicht vorgreifen.

  6. Hallo Don Gomez, vielen Dank für den Kommentar! Besonders gefällt mir deine letzte Überlegung, die Ungewissheit als selbst moralisch fragwürdig zu problematisieren. Das liefe dann ja darauf hinaus, dass politische Theorie zwar keine konkrete Orientierung unter den gegebenen Umständen liefern kann, wohl aber eine klare Aufforderung, nicht zu rechtfertigende Informationsbarrieren aufzuheben — um dann eine begründete Entscheidung treffen zu können.

    Wobei das ja nebenbei auch eine wirklich spannende Forschungsfrage ist: Wieviel und welche Informationen braucht man, um die Legitimität einer militärischen Intervention beurteilen zu können? Und welche Gründe, wenn überhaupt, gibt es, der Öffentlichkeit bestimmte Informationen vorzuenthalten?

  7. Daniel, just for the record: beschränkten Zugang zu Informationen würde ich nicht aus moralischen Gründen für fragwürdig halten – bin ja kein Moralphilosoph. Den Maßstab über den Zugang zu Informationen würde ich vermutlich mit einer Mischung aus Demokratietheorie, Gewaltenteilungslehre und Souveränitätsdoktrin konstruieren. Damit ließe sich meiner Ansicht nach u.a. auch eine Arkanpolitik begründen.

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