theorieblog.de | „Contextual turn“ in der politischen Philosophie? Rückblick auf die IWM International Summer School „Religion in Public Life“

26. Juli 2010, Spohn

„Religion in Public Life“ lautete das Thema der diesjährigen IWM International Summer School in Philosophy and Politics des Wiener Instituts für die Wissenschaften vom Menschen (IWM). Zwei Wochen lang, vom 4. bis 17. Juli, diskutierten 40 DoktorandInnen, Postdocs und ProfessorInnen aus aller Welt in Cortona (Italien) über die Zusammenhänge von Politik, Religion, Öffentlichkeit, Demokratie und Moderne. Für die vier thematisch spezialisierten Seminare lässt sich im Rückblick neben dem offiziellen Thema der Summer School eine weitere übergeordnete Fragestellung formulieren: Wieviel historische und soziologische Empirie verträgt die politische Philosophie? Besonders deutlich wurde das in dieser Frage zum Ausdruck kommende Spannungsverhältnis zwischen universellen Prinzipien einerseits und partikularen kulturellen, historischen und sozialen Kontexten andererseits in Debatten über die Kritik an der Vorstellung einer einheitlichen Moderne, das Verhältnis von Religion und Demokratie und die demokratische Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit pluralistischer Gesellschaften.

Das Seminar mit dem Titel „Religion and Multiple Modernities“ unter Leitung von Charles Taylor, Dipesh Chakrabarty und Sudipta Kaviraj verhandelte das sozialtheoretische Konzept der „Moderne“ in kritischer Distanz zu uniformisierenden Kategorien klassischer Modernisierungstheorien amerikanischer Prägung. Charles Taylor versuchte sich im Anschluss an sein Buch „A Secular Age“ an einer Deuniversalisierung der westlichen Moderne mittels einer historisch-soziologischen und geistesgeschichtlich-philosophischen Rekonstruktion der Entwicklungen in Westeuropa und Nordamerika. Modernität findet laut Taylor Ausdruck in bestimmten Praktiken (Errichtung eines Nationalstaats, einer kapitalistischen Ökonomie, einer effizienten Bürokratie, eines Rechtsstaats), an die es global einen Anpassungsdruck gebe und die daher auch in anderen Zivilisationen fußgefasst hätten. Allerdings gingen diese Adaptionen nicht überall mit den gleichen sozialen und normativen Vorstellungswelten wie im Westen einher. Daher sei es adäquater, von „multiple modernities“ als von „der“ Moderne zu sprechen. Die westliche Moderne wurde Taylor zufolge durch drei Prozesse nachhaltig geprägt: Eine durchdringende Disziplinierung des Einzelnen und der gesamten Gesellschaft, eine „Entzauberung“ der Lebenswelt und eine „Entbettung“ der vormals in einen sinnvollen Kosmos eingebetteten Gesellschaftsordnung hätten eine Sicht auf den Menschen als von allen gemeinschaftlichen Bindungen losgelöstes oder prinzipiell loslösbares Individuum, als ein sich selbst kontrollierendes, sich von seiner Umwelt unterschieden erfahrendes Subjekt („buffered self“) hervorgebracht. Außerhalb der westlichen Hemisphäre gehe die Implementierung moderner Praktiken jedoch nicht notwendig mit ähnlichen Wandlungsprozessen im kulturellen Selbstverständnis einher.

Vor dem Hintergrund postkolonialer Theorien schilderten Chakrabarty („Provincializing Europe: Postcolonial Thought and Historical Difference“) und Kaviraj („The Imaginary Institution of India: Politics and Ideas“) die Veränderungen in der indischen Gesellschaft durch das Aufeinandertreffen von indischen Traditionen und europäischem Imperialismus. Chakrabarty bestätigte Taylors partikularistische Lesart der westlichen Moderne: In Indien könne zwar von Moderne, weder aber von Entzauberung noch von Entbettung die Rede sein. Chakrabarty hielt das „buffered self“ für ein „historisches Moment“ – es sei keine grundsätzliche Voraussetzung für die Entstehung moderner Gesellschaften. In Indien habe diese Sicht auf den Menschen keine Verbreitung gefunden. Zwar hätten moderne Praktiken, nicht aber die westliche Deutungsart derselben in Indien Einzug gehalten. Der Staat sei als Zentrum der Disziplinarmacht in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt und werde wie nie zuvor begehrt von einer Gesellschaft, die sich selbst zugleich als Subjekt und Objekt ihres Handelns zu verstehen begonnen habe. Die indische Massendemokratie stelle jedoch zugleich einen Bruch mit dem normativen Horizont der Kolonialzeit dar: In Absetzung von dem europäischen Ideal, das Rechte an Bildung koppelte, sei trotz einer hohen AnalphabetInnenrate allen InderInnen das Wahlrecht zugesprochen worden. Chakrabarty bezeichnete dies als eine Befreiung aus dem „Warteraum der Geschichte“ durch die Substitution des kolonialen „Noch nicht“ durch ein anti-koloniales „Jetzt“. In der Ausbreitung der europäischen Idee von Nationen und dem damit einhergehenden Verständnis von Politik in Begriffen von Homogenisierung, Identitätsbildung und Mobilisierung von Mehrheiten sah Chakrabarty einen Motor für fundamentale Veränderungen.

Kaviraj zeigte überzeugend auf, wie durch moderne Techniken, wie Zensus und Kartografie, numerische, territoriale und identitäre Grenzen gezogen wurden, die so vorher nicht bzw. nicht in der Klarheit bestanden hatten und erst für die Zwecke moderner Mehrheits- und Identitätspolitik wichtig geworden seien. Zwecks Schaffung eines kollektiven Agens und Mobilisierung großer Massen seien kollektive Identitäten (z.B. „Hindus“, „Muslime“) überhaupt erst hergestellt worden, etwa durch Nivellierung der ausgeprägten Heterogenität innerhalb von großen religiösen Traditionen sowie durch Negation der bestehenden Verbindungslinien zwischen verschiedenen Traditionen und ihrer wechselseitigen Einwirkung aufeinander. Kaviraj betonte aber, dass bei dem durch den Kolonialismus angestoßenen sozialen Wandel in Indien nicht von einer simplistischen Theorie der Beeinflussung ausgegangen werden dürfe: Es handele sich nicht einfach um eine Wiederaufführung europäischer Prozesse. Er gab zu bedenken, dass die Genese von Demokratie oder Säkularismus in Indien aufgrund der Konfrontation und Verwebung der neu eingeführten Praktiken mit bereits bestehenden Praktiken komplizierter sei.

Das Seminar sensibilisierte für einen hochkomplexen Umgang mit dem Moderne-Begriff. Es verdeutlichte die historische Färbung vieler sozialwissenschaftlicher Kategorien und problematisierte die Assimilierung „widerspenstiger“ empirischer Kontexte an diese. Es wurde auch klar, dass solche Theorien, welche die Gewaltakte von Gruppen, die im Namen einer Religion agieren, schlicht als Ausdruck eines traditionalen „backlash“ ansehen, zu kurz greifen, weil sie übersehen, dass solche Bewegungen überhaupt erst mit der Implementierung moderner Identitätspolitik möglich wurden. Für ein adäquates Verständnis von Gewaltphänomenen in ehemaligen Kolonialgesellschaften erscheint eine detaillierte Auseinandersetzung mit deren Sozial- und Geistesgeschichte einerseits sowie mit dem europäischen Imperialismus und den ambivalenten Wirkmechanismen moderner Praktiken andererseits unverzichtbar.

José Casanovas Anliegen im Seminar „Religion in Democracy“ bestand unter anderem darin, einem essentialisierenden Religionsbegriff und damit verbundenen Versuchen, eine allgemeine soziologische Theorie der Religion zu entwickeln, eine Absage zu erteilen. Es ging ihm darum, mittels empirischer Beispiele das ganze Spektrum möglicher Wirkungsweisen (von demokratiehemmend bis demokratieförderlich) politisch aktiver religiöser Gruppen in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten und historischen Situationen aufzuzeigen. Casanova wandte sich gegen Mark Lillas („The Stillborn God“) Erzählung vom säkularen Staat als glorreichem Sieg der kühlen Vernunft über eine fanatische religiöse Gewalt. Er wies darauf hin, dass frühere Lösungen, wie die Parole „cuius regio, eius religio“ und die Nationalstaatenbildung im Zuge des Westfälischen Friedens, kein Bekenntnis zu Toleranz, Demokratie und Pluralität dargestellt, sondern im Gegenteil gewaltsame Säuberungs- und Homogenisierungsaktionen legitimiert hatten. Mittels historisch-soziologischer Arbeit könne gezeigt werden, dass die Annahme einer prinzipiellen Affinität zwischen Religion und Gewalt einerseits und zwischen Säkularität und Frieden, Freiheit, Demokratie, Toleranz andererseits nicht haltbar sei.

Casanovas vielfältige empirische Beispiele (z.B. religiös motivierte Demokratisierungswellen in Lateinamerika, Demokratiedefizit des türkischen und auch des französischen Laizismus) dienten dazu, die Fragwürdigkeit der Verknüpfung von Säkularität und Demokratie herauszustellen. Er unterschied zwei mögliche Zielsetzungen säkularer Staatlichkeit: Er wandte sich gegen eine Interpretation von Säkularität als Mittel zur Aussperrung von Religion aus der demokratischen Öffentlichkeit, akzeptierte aber eine andere Interpretation, nach der Säkularität als dasjenige institutionelle Arrangement begriffen wird, das religiösen Pluralismus erst ermöglicht. Das heißt, dass eine so verstandene Säkularität die aus der amerikanischen Verfassung bekannten Prinzipien „free exercise of religion“ und „separation of church and state“ so arrangiert, dass das erste eindeutig Priorität hat und das zweite kein Selbstzweck ist, sondern nur im Hinblick auf seine ermöglichende Funktion für „free exercise“ Relevanz besitzt. Im Gegensatz zum Trennungsprinzip sah Casanova in der Möglichkeit zur freien Religionsausübung eine direkte Bedingung für Demokratie: Ohne ein Minimum an Gewissens- und Religionsfreiheit sei demokratisches Regieren nicht möglich, ohne Trennung von Staat und Kirche aber unter Umständen schon, wie an einigen skandinavischen Ländern mit Staatskirche (z.B. Norwegen und Dänemark) deutlich werde. Er betonte aber zugleich, dass es keinen objektiven Standard für das „free exercise“-Prinzip gebe, der überall in jedem Fall immer gleich angewandt werden könnte. Stattdessen seien praktische Anpassungen in konkreten Situationen und gesellschaftlichen Kontexten nötig.

Marcin Król, der das Seminar in der zweiten Woche von Casanova übernahm, äußerte sich skeptisch gegenüber Versuchen, die politische Philosophie mit empirischen Wissenschaften wie der Soziologie und der Geschichtswissenschaft zu versöhnen. In seinen Augen muss die Philosophie an einem starken Universalismus- und Wahrheitsanspruch festhalten, um überleben zu können – Rawls historisch-kulturelle Relativierung des „Politischen Liberalismus“ nannte Król „philosophischen Selbstmord“. Das von Friedrich Wilhelm Graf und Krysztof Michalsik geleitete Seminar „God Debates“ bewegte sich in Sphären jenseits solcher suizidalen Tendenzen: Hier stand die philosophische Auseinandersetzung mit Heidegger, Agamben und Badiou auf dem Programm.

Chakrabarty wiederum schlug einen von einer unauflösbaren Spannung getragenen Umgang mit der Idee des Universellen vor. Es sei unangenehm und schwierig, sich mit universalistischen Geltungsansprüchen auseinanderzusetzen, und er empfahl eine kritische Haltung gegenüber allen Vorstellungen von einem universellen normativen Horizont und jeglichen universellen empirischen Behauptungen. All diese Skepsis reiche jedoch nicht aus, um den Universalismus völlig zu verabschieden – im Gegenteil, die Frage des Universellen sei eine sehr wichtige. Es sei nötig, an einem universellen normativen Horizont festzuhalten, denn ohne einen solchen könne es keinen Grund der Kritik, keine Anklage wegen Unterdrückung geben, sondern nur noch Präferenzen. Eine Gefahr sah Chakrabarty in der irrtümlichen Identifizierung von Partikularismen mit dem Universellen und die besitzergreifende Inanspruchnahme des Universellen durch eine bestimmte Kultur. Das Universelle müsse offen und allen Menschen zugänglich sein.

Kaviraj stellte die These in den Raum, man könne auf verschiedene Arten Recht haben: einerseits in Begriffen der Philosophie, auf der Ebene von Prinzipien, und andererseits in einer Weise, die viel stärker historische Kontingenzen berücksichtige. Was politisch richtig sei, sei immer nur unter bestimmten Umständen richtig. Taylor betonte die Wichtigkeit von Prinzipien, forderte aber gleichzeitig auch die Anerkennung von Dilemmata: Verschiedene, gleichermaßen geschätzte Prinzipien gerieten manchmal miteinander in Konflikt oder erschienen in konkreten Fällen jeweils in einem andern Licht. Um den in seinen Augen angemessenen Umgang mit schwierigen politischen Fragen zu veranschaulichen, entwarf er das Bild eines „guten Richters“: Dieser stelle sich einem komplexen Abwägungsprozess, in dem sowohl unterschiedliche, sich möglicherweise konterkarierende Prinzipien als auch konkrete Kontextbedingungen Berücksichtigung fänden. Das Ergebnis sei idealerweise eine ausgewogene, umsichtige Regelung des konkreten Falls.

Einige prominente Beispiele für stark umstrittene Regelungen im Themenfeld „Politik und Religion“ (Kopftuch, Burka, Minarett, Kruzifix) griffen Nilüfer Göle und Michael Sandel in ihrem Seminar „The Role of Faith in Public Discourse“ auf. Leider stellte Sandel („Public Philosophy: Essays on Morality in Politics“) hier nicht seine eigene Position zur Diskussion, beeindruckte dafür aber umso mehr als Moderator und „Showmaster“ – für einen Eindruck siehe seine Vorlesung „Justice: What’s The Right Thing To Do?“:

Göle („The Forbidden Modern. Civilization and Veiling“) hingegen setzte selbst interessante inhaltliche Akzente. Sie stellte kritische Anfragen an das Verständnis von Öffentlichkeit in westlichen Demokratien: Kann der öffentliche Raum nur national gedacht werden? Wie wird die Grenze zwischen „privat“ und „öffentlich“ gezogen? Wem „gehört“ der öffentliche Raum, wer erhält Zugang und unter welchen Bedingungen? Mit Blick auf diese Fragen hob Göle die zentrale Stellung des Visuellen hervor, den engen Zusammenhang von Problemwahrnehmung und Sichtbarkeit: Das öffentliche Auge störe sich an „ostentativen“ religiösen Symbolen, am Minarett als ungewohntem Anblick in der vertrauten landschaftlichen Silhouette, am Kopftuch als sichtbarem Symbol der Opposition zu westlichen Normen weiblicher Körperlichkeit.

Sandel und Göle machten die interessante Beobachtung, dass die Themen Transparenz und Sexualität wichtige Bezugspunkte für die Selbstvergewisserung westlicher Demokratien darstellen. Sandel stellte fest, dass viele moralische und religiöse Auseinandersetzungen sich heute um Sexualität, Sexualmoral, den weiblichen Körper, Sittsamkeit und Erscheinungsbild drehen. Göle zeigte auf, welche „Tests“ man bestehen muss, um als tolerante Person, als guter Staatsbürger zu gelten: ist man für die Burka oder gegen sie? Ist man pro oder contra „Homoehe“? Normen würden zunehmend in Begriffen von Sexualmoral definiert, die Billigung von Homosexualität werde zur staatsbürgerlichen Prüfung. Der Druck, transparent zu sein, ein Bekenntnis „für oder gegen“ abzulegen, einen „Test“ zu bestehen – das ist es, was die Soziologin provozierend fand und als „Tyrannei der Demokratie“ bezeichnete.

Göle kritisierte auch zu enge Vorstellungen davon, was von wem in welcher Weise in die Öffentlichkeit eingebracht werden dürfe. Für sie sei der öffentliche Raum ein Ort, wo differente Perspektiven aufeinanderträfen, wo neben rationaler Argumentation auch Konfrontation und Missverständnisse aufträten und wo die Normen der etablierten Ordnung in Frage gestellt werden könnten. Göle sah Visualität, die Kraft von Symbolen sowie Humor und Subversion als weitere mögliche Wege neben bzw. im Gegensatz zu rationaler Argumentation, um Streitfragen auf die öffentliche Agenda zu bringen und so auch zu einem offeneren, pluralistischen Begriff von Öffentlichkeit zu gelangen.

Die IWM Summer School-TeilnehmerInnen Ruth Braunstein, David Buckley und Grace Yukich berichten ebenfalls über das Seminar mit Sandel und Göle im Blog The Immanent Frame: „Discussing mosques, minarets, and crosses“


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