Auf der Suche nach einer realistischen Theorie des Unrealistischen. Bericht von der Tagung ‘Internationale Politische Theorie’, Teil 3

Dritter Tag

Revision der IB-Theorie
Im leider spärlich besuchten Panel Revision der IB-Theorie wurden einige interessante Vorschläge formuliert, wie IB-Theorie konzeptualisiert und erweitert werden kann. Der Frage, was eigentlich eine Theorie sei, ging Felix Berenskötter nach. Über die Unterscheidung zwischen deep und shallow theories gelangte er zu der Konklusion, dass die IPT gemäß einer deep theory nach der ihr zugrundeliegenden Konzeption des Selbst fragen sollte. Im Gegensatz zu diesen deep theories stünden in der IB-Theorie oft shallow theories, die ihre impliziten und oft widersprüchlichen Grundannahmen nicht ausformulierten und somit an theoretischer Reflexion mangeln würden.
Joscha Wullweber ergänzte die Theoretisierungsmöglichkeiten der IB um eine poststrukturalistische Perspektive, aus der verstärkt mit Begriffen wie Hegemonie, Diskurs und Kontingenz gearbeitet werden könne. Dies ermögliche beispielsweise ein besseres Verständnis der Konflikthaftigkeit, die der Produktion von Diskursen auf internationaler Ebene innewohne.
Den allgemeinen Ausgangspunkt der IB-Theorie, das internationale System als von Anarchie geprägt zu verstehen stellte Rainer Baumann in Frage: er schlug vor, die Entwicklung der Internationalen Beziehungen mit einer Zusammenführung zweier vorherrschender Diskussionsstränge, der Global-Governance-Debatte und der Empire-Debatte, zu erfassen. Dieser Austausch könnte, so Baumann, die Entwicklung der globalen Ordnung auf den Punkt bringen. (luise)

Demokratie jenseits des Staates
Ein weiteres Panel ging der vieldiskutierten Frage nach, ob und wie Demokratie jenseits des Staates möglich sei. Frank Nullmeier näherte sich der Frage in einem großen legitimationstheoretischen Bogen. Statt bloßer „Legitimationsketten“ im bisherigen Sinne forderte er eine grundlegende demokratische Konstitution globaler Institutionen. Der Wert der Volkssouveränität verwirkliche sich dabei im Prozess einer (Welt-)Verfassungsgebung.
Andreas Niederberger vertrat in seinem Vortrag die These, dass Demokratie intrinsisch mit der Verfasstheit der Welt zusammenhänge und aus diesem Grund niemand aus einer privilegierten Position heraus die geteilten sozialen Räume konstituieren könne. Am Beispiel der Reform des UN-Menschenrechtsrates sowie der Diskussion um Sicherheitsrat und Generalversammlung zeigte Niederberger, dass auf der transnationalen Ebene inklusive Entscheidungsprozesse, gleicher Rechtsstatus und die Erkenntnis über die Verflochtenheit von Demokratie und Menschenrechten noch nicht verwirklicht seien.
Christoph Humrich und Dawid Friedrich rückten den Begriff der Autonomie als Kern von Demokratie in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen. Im Gegensatz zum herkömmlichen Demokratie-Verständnis gehen Humrich und Friedrich (den IB folgend) von einer funktionalen Fragmentierung aus: Demokratie ermögliche, schütze, begrenze und reintegriere Autonomie. Diese Desaggregation von Demokratie sehen Humrich und Friedrich als vielversprechenden Ausgangspunkt für die Zähmung überstaatlicher Herrschaft. Aus der Funktion globaler Institutionen heraus, so ihre Hoffnung, lasse sich der jeweilige Legitimationsbedarf ermitteln und eine angemessene demokratische Antwort formulieren. (jakob und sara)

Abschlusspanel
Im Abschlusspanel wurde die übergreifende Frage, was die IPT und ihre Aufgaben seien, nochmal einmal aufgegriffen. Wie während der gesamten Tagung waren die Theoretiker auch hier in eindeutiger Überzahl, auf dem Abschlusspanel vertrat allein Michael Zürn die Teildisziplin IB, wurde allerdings von dem sich zu „interdisziplinärer Heimatlosigkeit“ bekennenden Benjamin Herborth unterstützt. Zürn wies darauf hin, dass es sowohl eine externe (empirisch-thematische) als auch interne (Angewiesenheit auf Begründungstheorien) Relevanz für die Zusammenarbeit seiner Fachgenossen mit der Politischen Theorie gibt, wobei vor allem die nicht-ideale Theorie, aber auch eine stärker ideologiekritische Ausrichtung von Interesse sei. Dieser Punkt wurde in der anschließenden Diskussion von Anna Geis und Ina Kerner noch einmal kritisch aufgegriffen. Zwar habe es ein Panel zur Ideologiekritik der IPT gegeben, doch sei nicht erkennbar geworden, was die sehr unterschiedlichen Beiträge zusammenhielte. Es sei auf der Tagung nicht deutlich genug geworden, dass Ideologiekritik als Querschnittsaufgabe der IPT zu verstehen sei, die sich auf alle behandelten Bereiche erstreckt. Rainer Schmalz-Bruns warnte die Politische Theorie davor, sich dem Realitätsdruck zu beugen und forderte eine umfassende, rekonstruktive Gesellschaftstheorie. Frank Nullmeier sah die Notwendigkeit, zunächst einmal auf analytischer Ebene eine umfassende Theorie politischer Ordnung zu entwerfen anstatt IPT auf rein normative Fragen zu begrenzen. Stefan Gosepath warnte davor, den Metadiskurs über die IPT zu übertreiben und empfahl, zuerst einmal mit der Zusammenarbeit zu beginnen und die „objektive Problemlage“ zu bearbeiten. Selbstreflexion sei erst im Anschluss daran wirklich sinnvoll, in diesem Punkt bliebe es dabei – die Eule der Minerva beginne nach wie vor erst mit hereinbrechender Dämmerung ihren Flug. Benjamin Herborth schließlich näherte sich dem Problem wissenschaftssoziologisch, indem er auf die prekäre, da tendenziell heimatlose Situation derjenigen, die am Schnittgebiet der Teildisziplinen arbeiten, aufmerksam machte.

Einig war man sich schließlich darüber, dass die Politische Theorie pluraler werden und sich von so mancher normativistischen Verengung befreien solle, die Internationalen Beziehungen hingegen ein größeres Maß an (Selbst-)reflexivität gut vertragen könne. Einige vermissten einen größeren Beitrag aus der Gesellschaftstheorie und -kritik. Festzuhalten bleibt: Auch wenn die Tagung sich nicht als Gründungskongress der IPT in Deutschland verstanden wissen wollte, so war sie doch sicher mehr als nur das Abschreiten eines längst etablierten Forschungsfeldes, wie es von einigen in der Auftaktdiskussion formuliert wurde, und vielleicht sogar mehr als nur die „Öffnung eines neuen Diskursfeldes“ (Deitelhoff): Nämlich eine Reaktion auf den Problemdruck, das Neue in einer empirisch und normativ sich wandelnden Welt zu begreifen und damit die alte Aufgabe der Philosophie und Gesellschaftstheorie, ihre Zeit in Worte zu fassen, wieder ein Stück weit einzuholen – ein Versuch, der einige Tage später am selben Ort, auf der Tagung Human Rights Today: Foundations and Politics seine Fortsetzung fand (wir werden berichten). (maike und jakob)

Luise Müller, Jakob Huber und Sara Gebh studieren Politikwissenschaft an der FU Berlin.

Maike Weißpflug ist Doktorandin am Institut für Politische Wissenschaft der RWTH Aachen und im Team von theorieblog.de.

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