theorieblog.de | Auf der Suche nach einer realistischen Theorie des Unrealistischen. Bericht von der Tagung ‘Internationale Politische Theorie’, Teil 2

24. Juni 2010, Oldenbourg, Weißpflug, Huber, Müller & Gebh

Zweiter Tag

Gesellschaftstheorie der Internationalen Beziehungen
Das erste Panel am Freitagmorgen war der Gesellschaftstheorie der Internationalen Beziehungen gewidmet, genauer: der Frage nach den gesellschaftlichen Voraussetzungen globaler Vergemeinschaftung. Tobias ten Brink und Michael Zürn versuchten eine gesellschaftstheoretische Antwort, während Antje Wiener und Philip Liste sich der Frage in concreto, anhand eines empirischen Beispiels, näherten.

Wiener und Liste stellten ein interdisziplinäres – politik- und rechtswissenschaftliches – Forschungsprojekt vor. Dem Projekt liegt die Fragestellung zugrunde, ob die Praxis des richterlichen cross-referencing, d.h. der internationalen Bezugnahme auf Gerichtsurteile gemeinschaftsbildende Wirkung zugesprochen werden könne. Findet hier auf rechtlichem Wege eine globale Vergemeinschaftung statt, wie Anne-Marie Slaughter mit ihrer These der „new global community of courts“ vermutet? Wiener und Liste stehen der Annahme, dass das cross-referencing bereits auf konvergierende internationale Normvorstellungen hindeute, skeptisch gegenüber und wollen sie in ihrem Vorhaben mit Hilfe einer empirischen Fallstudie ländervergleichend (Deutschland-Kanada) überprüfen.

Ten Brink entwickelte, ausgehend von der Diagnose einer Renaissance der Geopolitik als Effekt globaler kapitalistischer Vergesellschaftung den Vorschlag einer Horizonterweiterung für die IPT, und zwar aus der Perspektive der politischen Ökonomie. Internationale geopolitische Strategien seien keine Sache von gestern, und auch nicht als antimodernes Phänomen ad acta zu legen, sondern als Ausdruck der krisenhaften Dynamik der globalen „Kapitalismen“ zu begreifen. Die IPT bedürfe darum erstens einer Kapitalismusanalyse, zweitens einer historischen Untersuchung des Verhältnisses von Wirtschaft und Politik als zweier unterschiedlicher, doch interdependenter Formen von Konkurrenz. Schließlich müsse drittens es auch wieder darum gehen, alternative Weisen des Wirtschaftens in den Blick zu nehmen. Nur weil das realsozialistische Modell gescheitert sei, dürfe dies nicht heißen, über Alternativen nicht mehr nachzudenken.

Zürn grenzte die Aufgaben der IPT zum einen gegen eine „globale Ethik“, die moralische Verpflichtungen von Individuen im globalen Maßstab zum Gegenstand habe, und eine rein erklärende Darstellung internationaler Politik zum anderen ab. Das besondere Kennzeichen der IPT sei, sich gerade zwischen den Polen normativer und empirischer Erwägungen zu bewegen, um so das komplexe Ineinander empirischer und normativer Urteile zu entwirren und transparent zu machen. Als nicht-ideale Theorie bewege sich die IPT im Dreieck moralischer Prinzipien, empirischer Bedingungen und Fragen institutioneller Gestaltung. Vor dem Hintergrund dieser methodischen Überlegungen stellte Zürn nun „vier Modelle einer globalen Ordnung in kosmopolitischer Absicht“ vor: 1. ein intergouvernementales Modell demokratischer Staaten (u.a. vertreten von Dahl, Maus, Miller), 2. den pluralistischen Kosmopolitismus (u.a. Beck, Forst), 3. den föderalen Kosmopolitismus (Habermas, Höffe, Schmalz-Bruns) und 4. das Modell der kosmopolitischen Demokratie (u.a. vertreten durch Archibugi, Caney, Pogge). Ziel des Vortrags war es, aufzuzeigen, dass die Überzeugungskraft der Modelle nicht nur von der Qualität des normativen Arguments abhängt, sondern auch von ihrer empirischen Stärke, d.h. einerseits davon, welche empirischen Prämissen in die institutionellen Modelle einfließen, und andererseits, ob nicht wenigstens entgegenkommenden Entwicklungen in der Gegenwart beobachtete werden können. Zürn überprüfte die Tragfähigkeit der theoretischen Modelle mit Blick auf drei empirische Themen: die Rolle der Institutionen, die Praktiken der politischen Willensbildung und die Einstellung der Individuen. Dabei, resümierte Zürn, schneide der pluralistische Kosmopolitismus insgesamt am besten ab, und schränkte gleich ein, dies sei jedoch nur als Hinweis auf die empirische Stärke des pluralistischen Modells zu verstehen und nehme den anderen durchaus nichts an normativer Überzeugungskraft. In der anschließenden Diskussion zeigte sich allerdings auch eine gewisse grundlegende Schwäche solcher modellhafter Kategorisierungsversuche: Es wurde im Anschluss mehr darüber diskutiert, welcher Autor in welche Modellschublade gehört als über die Sache selbst – die faktische Möglichkeit einer guten politischen Ordnung jenseits des Nationalstaats. (maike)

Internationale Gerechtigkeit
Im Panel zur Internationalen Gerechtigkeit behandelte Tamara Jugov die Geltungsgründe distributiver Gerechtigkeit. Jugov richtete sich gegen Ansätze, die für Gerechtigkeit soziale Kooperation oder gewaltbewehrten Zwang als Geltungsgrund postulieren und die Geltungsreichweite von Gerechtigkeit daher auf den Staat begrenzen. Hiergegen wandte sie einerseits ein, dass sich relevante Formen von Kooperation und Zwang auch global finden lassen. Entscheidend ist hier aber ihr konzeptionelles Gegenargument: Staatszentrierte Ansätze verwechseln die Geltungsgründe der Gerechtigkeit mir ihren Realisierungsbedingungen, insbesondere mit dem Vorliegen spezieller – über die Beziehung von Kooperation und Zwangs ermittelbarer – Träger von Gerechtigkeitspflichten. Den tatsächlichen Geltungsgrund der Gerechtigkeit sieht Jugov in der Relation systemischer Dominanz. Der Gerechtigkeitsbegriff zielt ihrer Ansicht nach auf die Freiheit von willkürlicher Herrschaft. Schädigungen sind dann als eine willkürliche Frustrierung der äußeren Freiheit von Individuen zu verstehen. Als systemische Dominanz bezeichnete Jugov nun den Umstand, dass wir in nicht-institutionellen Zuständen automatisch schaden, weil die Verteilung erworbener Rechte immer willkürlich bleibt. Sie verdeutlichte dies an den Beispielen zerfallender Staaten und internationaler Handelsbeziehungen. Global kann systemischer Dominanz allein mit dem Aufbau eines Mehrebenensystems gerechter und effektiver Institutionen entgegengetreten werden, wofür das Bild eines republikanischen Kosmopolitismus leitend sein soll. Im Kommentar bezweifelte Jürgen Neyer, dass sich die normativen Geltungsgründe tatsächlich so scharf von den empirischen Realisierungsbedingungen trennen lassen. Wirklich zwangsbewehrte Institutionen wird es auf absehbare Zeit nur im Staat geben, während die postulierten Geltungsgründe weit darüber hinaus weisen. Müsste man dann nicht stärker die Mühen nicht-idealer Theorie aufnehmen? Jugov entgegnete, dass aufgrund der Geltungsgründe entsprechende Realisierungsbedingungen eben geschaffen werden müssten. Erforderlich wäre aber sicherlich eine weitergehende Ausformulierung, wie Institutionen in einem republikanischen Kosmopolitismus gestaltet werden könnten und sollten.

Einen Schritt, wenn nicht zur nicht-idealen Theorie, so doch zur Anwendung unternahm Clara Brandi, indem sie einen autonomiebasierten Gerechtigkeitsansatz auf globale öffentlicher Güter und Übel bezog. Hinsichtlich der Geltungsreichweite nahm Brandi eine Position zwischen kosmopolitischen und staatszentrierten Ansätzen ein: Wenn man die Geltungsgrund der Gerechtigkeit mit allen nicht-trivialen, vorhersehbaren und vermeidbaren Autonomieeinschränkungen bestimmt, können diese einerseits auf Individuen, andererseits aber auch auf staatlich organisierte Kollektive bezogen sein. Ähnlich wie Jugov beschränkte Brandi den Geltungsort von Gerechtigkeit nicht auf bereits vorhandene Institutionen. Autonomieeinschränkungen können durch institutionelle Regeln genauso entstehen, wie durch ein institutionelles Vakuum. So gelten etwa für die Klimastabilität, die beiden öffentliche Güter definierenden Kriterien von Nicht-Rivalität und Nicht-Ausschließbarkeit. Dadurch entstehen Dilemmata kollektiven Handelns, die gegenwärtig ungelöst sind. Die das Gut bedrohenden bzw. das Übel hervorbringenden Externalitäten müssten nach Brandi durch Institutionen internalisiert werden, da es andernfalls weiter zu ungerechten Autonomieeinschränkungen kommt. Soweit Institutionen eingerichtet sind, müssen diese dann auf Basis desselben Autonomiekriteriums zu rechtfertigen sein. Neyer wandte hier ein, dass Gerechtigkeit bei einem solchen methodischen Zugriff der Politischen Ökonomie, zu einer unpolitischen, allein durch Klugheit lösbaren Kooperationsfrage wird. Dagegen ist aber schon die Frage, was ein öffentliches Gut, was ein Übel ist, politisch umstritten, wie er am Beispiel des globalen Steuerwettbewerbs verdeutlicht, den einige Staaten durchaus positiv sehen. Brandi entgegnete dem, dass die Festlegung über Güter und Übel anhand vernünftiger Kriterien in vielen Fällen durchaus möglich, die Frage, wie Institutionen gerechtfertigt werden können, hingegen durchaus politisch ist.

Nicht generell gegen Institutionen, wohl aber gegen mit deren Ausformung einhergehenden Ausschlusstendenzen argumentierte Eva Herschinger in ihrer normativen Beschäftigung mit Gerechtigkeit aus poststrukturalistischer Sicht. Das normative Defizit poststrukturalistischer Ansätze wird oft bemängelt – beziehungsweise als proto-normativ problematisiert. Herschinger versteht den normativen Subtext poststrukturalistischer Ansätze als zusätzliche Ausdrucksdimension, die sie exemplarisch bei Laclau und Mouffe sowie Derrida mitliest. Im Anschluss an Laclau ist Gerechtigkeit dann als ein leerer normativer Signifikant zu verstehen, der mit universellem Anspruch auftretend eine Schließung von Diskursen unternimmt, die aufgrund der Vielzahl partikularer Gerechtigkeitsvorstellungen unmöglich ist. Für solche Schließungsversuche muss der Gerechtigkeitsbegriff weitgehend entleert werden. Die Unmöglichkeit einer vollkommenen Schließung liegt nicht zuletzt darin begründet, dass Gerechtigkeit die positive Umkehrung einer negativ erfahrenen Situation ist und dieser Umstand eine prinzipiell unüberbrückbare Distanz zwischen Sein und Sollen markiert. Der einzig ethische Umgang damit wäre eine Diskurspraxis des Entscheidens, die Gerechtigkeit zwar anstrebt, die Unmöglichkeit ihrer endgültigen Erreichung aber reflexiv mit einbezieht. Eine Praxis kann dann nur insofern gerecht sein, als sie einen Austausch über Gerechtigkeit zulässt, in dem der Diskurs über Gerechtigkeit nicht geschlossen werden soll. Auf dieser Basis kritisierte Herschinger am Beispiel des Drogenregimes internationale Institutionen dahingehend, dass sie mittels normativer Standards hegemoniale Schließungen vorzunehmen suchen, die jede Annäherung an Gerechtigkeit unmöglich machen. Eine solche Annäherung kann allein in einer radikaldemokratischen Praxis gelingen, in der Differenz und Dissens über den Gerechtigkeitsbegriff zugelassen werden, anstatt sie durch einseitige Festschreibungen zu unterdrücken. Hiergegen wandte Neyer ein, dass politische Ordnungen unweigerlich schließen müssen und selbst die geforderte Offenheit eine Form der Schließung wäre. Dies ließe sich mit einem postrukturalistischen Ansatz insofern fassen, als dass auch die Frage der Kontingenz und damit auch die radikale Offenheit hinterfragt werden kann. Wie steht es dann aber um die hard cases grundlegender Menschenrechte? Drogenkonsum mag man durchaus nicht nur als kriminell, sondern auch als alternative Lebensform verstehen und anerkennen können. Wie reagiert man aber auf Rassisten oder Fundamentalisten? Schließlich stehen diese den geforderten »offenen« Praktiken in grundlegender Weise entgegen. Nach Herschinger sollte man sich zumindest ihre Differenz als konstitutiv für bestehende liberale Institutionen stärker bewusst machen.

Schade war, dass es in der Kürze der Zeit zu keinem Austausch zwischen den drei Vorträgen kam: Denn sind die Vorschläge von Jugov und Brandi nicht ebenfalls als exkludierende Schließungsversuche zu verstehen, insofern sie den Aufbau bestimmter Institutionen fordern, bei dem – trotz aller demokratischen Einbeziehung der Betroffenen – ja nicht die zugrunde gelegte Gerechtigkeitskonzeption zur Disposition gestellt werden sollte? (andreas)

Externe Herrschaft
Im Panel zur externen Herrschaft wurde auf je unterschiedliche Weise gefragt, wie sich diese legitimieren lässt. Cord Schmelzle entwickelte in seinem Vortrag eine Abhängigkeitsthese, nach der Rechte und Pflichten externer Besatzer als ius post bellum verstanden werden müssen, dessen Inhalt vom ius ad bellum abhängt. Zentral für diese Abhängigkeit sind zwei Elemente des Rechtes zum Krieg: Erstens der gerechte Grund, durch den die legitimen Zwecke bestimmt werden, zweitens das sogenannte Proportionalitätskriterium. Legitime Kriegszwecke können allein Normverstöße sein. Ausgeschlossen sind damit etwa die deutschen Exportinteressen. Entscheidend für die Bestimmung des ius post bellum ist, zwischen beitragenden und hinreichenden legitimen Zwecken zu unterscheiden: Beitragende Zwecke wie Apartheid oder Autokratie sind Normenverstöße, die zwar Sanktionen, aber nicht das Mittel des Krieges rechtfertigen, da sie nicht gegen den mit jedem Krieg einhergehenden Tod Unschuldiger verrechnet werden dürfen. Gleichwohl können sie Teil der Kriegsbegründung sein, insofern eine Abwägung gegen andere Übel des Krieges, wie die Tötung Schuldiger, erlaubt ist. Gegen die Tötung Unschuldiger dürfen hingegen nur hinreichende Zwecke abgewogen werden. Im Falle des Völkermords etwa, kann – und muss – die Einwilligung der Opfer zu einer solchen Abwägung vorausgesetzt werden. Neben dieses materielle Kriterium tritt das quantitative Proportionalitätskritierum, nach dem die relevanten Güter die relevanten Übel überwiegen müssen. Hier sind nur diejenigen Güter relevant, die Zwecke des Krieges sind – oder waren. Die Herausforderung besteht nämlich darin, dass viele Güter erst nach Beendigung des Krieges realisiert werden können. Hieraus folgt ein Nachhaltigkeitsgebot der dauerhaften Güterabsicherung. Im Falle des Völkermords verlangte dies die Institutionalisierung basaler Menschenrechte als zwingender post-bellum-Pflicht. Darüber hinausgehende Transformationsrechte lassen sich dann einerseits indirekt als Teil solch zwingender Pflichten begründen. Legitim ist andererseits aber auch eine direkte Rechtfertigung auf Basis der beitragenden Zwecke. So lassen sich dann zum Beispiel auch Demokratisierungsversuche rechtfertigen – die als solche kein hinreichender Grund für eine militärische Intervention sind. Hierbei müssen allerdings drei Probleme mit beachtet werden. Erstens ein »reasonable disagreement« über die Relevanz der jeweiligen Güter und die Form ihrer Institutionalisierung. Zweitens eine Abwägung der kontrafaktischen Wahrscheinlichkeit, ob das Gut auch ohne einen externen Eingriff realisiert werden könnte – was dann vorzuziehen wäre. Drittens die Gefahr Paternalismus, da selbst erkämpfte Freiheit mehr Wert – und wohl auch nachhaltiger ist – als eine von fremder Hand empfangene. Diese drei Probleme müssen dann mit dem ihnen zugrunde liegende Wert der kollektiven Selbstbestimmung Eingang in das Proportionalitätskritierum finden. Kritisch wandte der Kommentator Christoph Weller ein, dass der systematische Ort dieser Selbstbestimmung unterbestimmt blieb. In jedem Fall hängt am Proportionalitätskriterium ziemlich viel: Mit diesem soll nämlich auch die nicht-ideale Problematik gefasst werden, dass gewaltsame Konflikte oft auch nach offizieller Beendigung des Krieges auftreten. Daraus folgerte Schmelzle, dass eine Anwendung seiner Methodik in eine eher skeptische Position gegenüber humanitären Interventionen mündet.

Ähnliche Abwägungen nahm Daniel Voelsen vor. Er fundierte sie jedoch in allgemeinen moralischen Grundannahmen und beschränkte sich auf die Frage nach der moralischen Rechtfertigbarkeit externer Demokratisierung durch internationale Übergangsverwaltungen (International Transitional Administrations – ITAs). Grundlage für die Beantwortung soll sein, dass alle Menschen ein basales Interesse an einer autonomen Lebensführung, der Anerkennung ihres Status als moralisch Gleiche und der Freiheit von physischem Schmerz haben. Übergangsverwaltungen sind dann moralisch rechtfertigbar, wenn sie das Interesse an Freiheit von physischem Schmerz sichern. Je länger Übergangsverwaltungen aber existieren, desto eher verletzen sie die Interessen der lokalen Bevölkerung an Autonomie und ihrer Anerkennung als Gleiche. Hier ist dann wiederum die Frage, ab wann legitime Hilfe in einen nicht rechtfertigbaren Paternalismus umschlägt. Voelsen diskutierte das zunächst am Beispiel der Menschenrechte, die er als politisches Instrument des Schutzes der drei basalen Interessen versteht. Legitim ist es demnach, wenn eine Übergangsverwaltung mithilfe externer militärischer und polizeilicher Mittel basale Menschenrechte gewährleistet und sich darum bemüht, einen lokalen Sicherheitssektor zu etablieren. Um jedoch die Autonomie und den moralischen Status der lokalen Bevölkerung zu achten, darf sie keine konkreten Institutionen vorschreiben, sondern sollte sich auf die Gewährleistung der abstrakten Kriterien von Effektivität, Unparteilichkeit und ziviler Kontrolle beschränken. Diese Kriterien sind zwar anspruchsvoll, lassen aber Raum für unterschiedliche Institutionalisierungen. Ähnliches gilt dann auch für externe Demokratisierungsversuche. Auch für diese lässt sich auf Basis der drei Grundannahmen argumentieren. Um aber beim externen Aufbau kollektiver Selbstbestimmung durch moralisch Gleiche diese beiden Werte nicht selbst zu verletzen, schlägt Voelsen vor, sich an den von Robert Dahl entwickelten Polyarchie-Kriterien zu orientieren. Formulieren diese doch lediglich ein prozedurales Minimum, dessen institutionelle Ausgestaltung dann wiederum der lokalen Bevölkerung überlassen werden kann. Während man bei anspruchsvolleren Demokratiekriterien, die externe Intervention kaum je beendet werden könnte, würde bei geringeren Ansprüchen die kollektive Selbstbestimmung leicht in autokratischer Herrschaft enden – und dann nicht mehr ernsthaft als solche bezeichnet werden können. Weller wandte ein, dass diesen Überlegungen ein zu positives Bild von Übergangsverwaltungen zugrunde liegt, insofern diese oft schon an der Gewährleistung physischer Sicherheit scheitern. Dies erschwert dann auch eine empirische Anwendung des Ansatzes. Voelsen entgegnete darauf, dass physische Sicherheit in einigen Fällen durchaus gewährleistet wird, es aber andererseits gerade in empirisch schwierigen Fällen normativer Bewertungskriterien bedarf.

Für einen grundlegend anderen Umgang mit externer Herrschaft plädierten Thorsten Bonacker und André Brodocz mit ihrer Vorstellung eines Forschungsprogramms zur Rolle der Deutungsmacht bei der Transition politischer Autorität in Postkonfliktgesellschaften. Unter Bezugnahme auf die methodischen Überlegungen Rainer Forsts in der ersten Podiumsdiskussion, bemerkte Bonacker, dass man zunächst mit der Frage beginnen müsse, was der Fall ist. Wohl auch deshalb beschränken sich Bonacker und Brodocz auf nachhaltige Friedenssicherung als normativem Maßstab. Damit Übergangsverwaltungen diese gewährleisten, ist es zentral, dass sie ihre politische Autorität erfolgreich institutionalisieren. Hierfür lassen sich zwei Erfolgsbedingungen ausmachen: Erstens die Effektivität, wonach es möglichst schnell zu einer spürbaren Verbesserung in den Bereichen von Sicherheit, Verwaltung, rule of law oder der sozio-ökonomischen Lage kommen muss. Das zweite Kriterium Legitimität lässt sich hiervon insofern nicht trennen, als dass die Folgebereitschaft gegenüber gesetzten Regeln nur dann gewährleistet werden kann, wenn die sie setzende Autorität als legitim anerkannt wird. In dem Vortrag ging es Bonacker und Brodocz vor allem um die interne, empirische Legitimität externer Herrschaft. Zu deren Erfassung schlugen sie ein Konzept von Deutungsmacht vor. Diese ist in dem Maße gegeben, indem ein Akteur als autoritativer Interpret der Quelle einer gemeinsamen politischen Identität anerkannt wird. Nach Beendigung eines Konflikte gibt es zunächst zwei solcher Quellen: Friedensverträge und UN-Sicherheitsratsresolutionen. Diese sind jedoch oft umstritten. Je mehr nun die Übergangsverwaltung als autoritative Deutungsmacht der Quellen anerkannt wird, desto eher kann es im weiteren Verlauf zu einer nachhaltigen Friedenssicherung kommen. Um das zu erreichen, muss sie möglichst alle Konfliktparteien mit einbeziehen. Sofern sie eine Position des autoritativen Deuters tatsächlich erlangt, muss sie diese in den folgenden Transitionsphasen zunehmend auf lokale Institutionen übertragen. Dann können auch Verfassungen, Konstruktionen einer gemeinsamen Geschichte oder neu eingesetzte lokale Regierungen den symbolischen Gehalt einer Nachkriegsordnung zum Ausdruck bringen. Inwiefern solche Prozesse tatsächlich gelingen, planen Bonacker und Brodocz empirisch zu untersuchen. Auf die kritische Nachfrage des Kommentators, woher denn der normative Maßstab der nachhaltigen Friedenssicherung komme, verwies Brodocz auf das Völkerrecht. Darüber hinaus sei aber eben auch die interne Legitimation der Übergangsverwaltung notwendig. In Bezug auf den Vortrag Schmelzles betonte Brodocz, wie wichtig hierfür die Einbeziehung aller Konfliktparteien ist. Diese jedoch wäre im Rahmen von Schmelzles Ansatz ob der von ihm vertretenen Verbindung zwischen ius ad und ius post bellum nur schwer zu rechtfertigen.

Diese Auseinandersetzung verweist auf eine in der Abschlussdiskussion der Konferenz nur angerissene Problematik. Dort wurde von den unterschiedlichen Teilnehmerinnen und Teilnehmern mehr oder weniger einhellig gefordert, interne und externe Perspektiven in der internationalen politischen Theoriebildung zu verbinden. In diesem Panel zeigte sich an einem konkreten Beispiel, dass damit unweigerlich Zielkonflikte einhergehen, für die Formeln von intern und extern, empirisch und normativ allenfalls Ausgangspunkt einer Debatte sein können. (andreas)

International Political Theory – die Abendvorträge
Chris Brown konstatierte in seinem Vortrag „The Foundations of a post-Western World“ eine elementare Veränderung der Weltordnung: Neben den traditionellen Großmächten spielten nun emerging powers wie China und Indien eine immer wichtigere Rolle in der internationalen Politik. Vor diesem Hintergrund stellte Brown die Frage, wie diese neue Ordnung normativ nachvollzogen werden kann. Der Fokus lag dabei auf den Konzepten von Staat und Souveränität, die Browns Ausführungen nach stark westlich-europäisch geprägt seien. Dabei identifizierte er zwei mögliche Normensätze, die sich in einer neuen Weltordnung gegenüberstehen könnte: zum einen die westliche, an den Menschenrechten orientierte Position; zum anderen eine eher auf starke nationalstaatliche Souveränität pochende Position. Michael Zürn wies in der Diskussion darauf hin, dass auch die Normen der Nicht-Intervention und nationalstaatlichen Souveränität ursprünglich europäische Normen waren und von nicht-westlichen Staaten wie bspw. China übernommen wurden; die Hoffnung bestehe, dass die neuen Normen der Menschenrechte ebenso adaptiert werden könnten.

Im zweiten Abendvortrag ging Leif Wenar der Moral des Rohstoffhandels nach. Er gab westlichen Staaten die Verantwortung für den berüchtigten „Rohstofffluch“ und endete seine Ausführungen mit der Forderung, angesichts des Fehlens einer „Global Authority“ nur mit solchen Regimen Geschäfte zu treiben, welche die Gewinnen an die Bevölkerung weitergeben.

Terry Nardin betonte im letzten Vortrag des Freitagabends den Unterschied zwischen Internationaler Ethik und Internationaler Politischer Theorie. Erstere würde ethische Prinzipien auf Staaten anwenden als seien sie Individuen. Diese Analogie sei jedoch, so Nardin, unzulässig und tendenziell unpolitisch. Daher sei vielmehr eine Internationale Politische Theorie gefordert, die sich aus einer Gerechtigkeitsperspektive mit Fragen der Gestaltung globaler Institutionen beschäftige. Die Reaktionen der Zuhörer bezogen sich vor allem auf Nardins „Anti-Moralismus“ (Peter Niesen), der beispielsweise das Politikverständnis der Menschen, die von einem Recht auf Widerstand Gebrauch machen wollen, nicht erklären kann (Matthias Iser). (luise, jakob und sara)

Lest hier Teil 3 des Berichts.

Luise Müller, Jakob Huber und Sara Gebh studieren Politikwissenschaft an der FU Berlin.

Andreas Oldenbourg ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am SFB 700. Er arbeitet dort an einer Promotion zu Kämpfen um kollektive Selbstbestimmung. Sein Interessensschwerpunkt ist die normative politische Theorie.

Maike Weißpflug ist Doktorandin am Institut für Politische Wissenschaft der RWTH Aachen und im Team von theorieblog.de.


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