theorieblog.de | Politisches Denken auf 20 Quadratmetern

22. Mai 2010, Busen

Noch bis zum 6. Juni kann man in der Antikensammlung im Alten Museum in Berlin eine kleine, aber äußerst feine und auch politikwissenschaftlich hochinteressante Ausstellung besuchen. Mit nur wenigen Exponaten (vier Büsten, 22 Münzen und zwei Graphiken) benötigt die Ausstellung „Der Brutus vom Kapitol. Ein Porträt macht Weltgeschichte“ nur etwa 20 Quadratmeter, um damit dennoch über zweitausend Jahre politischen Denkens nachzuzeichnen.

Worum geht es? Im Mittelpunkt der Ausstellung steht die Büste des sogenannten „Brutus vom Kapitol“, eine der berühmtesten Bronzeplastiken der Antike, die eigentlich in den Kapitolinischen Museen in Rom beheimatet ist. Die Tatsache, dass man diese wirklich eindrucksvolle Büste gerade in Berlin sehen kann, ist bereits insofern außerordentlich, als der Brutus zuvor nur ein einziges Mal Rom verlassen hat – als nämlich Napoleon ihn nach seinem Einmarsch in Rom 1797 mit nach Paris nahm, wo er bis 1815 im Louvre ausgestellt wurde.

Die Geschichte der Büste ist aber noch deutlich eindrucksvoller. Gemäß der historischen Zuschreibung stellt die Büste Brutus dar – allerdings nicht den bekannten Caesar-Mörder Marcus Iunius Brutus, sondern Lucius Iunius Brutus, den mythischen Gründer und ersten Konsul der römischen Republik. Gemäß den Darstellungen bei Livius und Plutarch hatte Brutus 509 v. Chr. die etruskischen Könige gestürzt und in Rom die Republik eingeführt, weshalb er im Verlauf der Republik schnell als Idealbild des aufrechten Republikaners allgemein bekannt und zu einem zentralen Symbol der Republik wurde. Dies führte dazu, dass der uns bekanntere Brutus – der bereits genannte Caesar-Mörder Marcus Iunius Brutus – sich explizit auf seine Abstammung vom älteren Brutus berief um so seine eigene uneingeschränkt republikanische Einstellung hervorzuheben. So ließ er auch in seinem Amt als Münzmeister 54 v.Chr. Münzen prägen, die das Konterfei seines Ahnen zierte, verbunden mit einer Darstellung der Libertas auf der Münzrückseite – ein unmissverständlicher Hinweis darauf wie sein Ahn die römische Freiheit in Form der Republik begründet und verteidigt hatte.

Wann die in der Büste proträtierte Person die Zuschreibung eben dieses „Ur-Republikaners“ Brutus erhielt, bzw. ob sie ursprünglich bereits als dessen Porträt geschaffen wurde, ist ebenso ungeklärt wie ihr Entstehungsdatum (die Datierungsvorschläge reichen vom vierten bis zum ersten Jahrhundert v.Chr.). Sicher nachgewiesen werden kann die Büste seit der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, wo die dargestellte Person aber schon eindeutig als Brutus erkannt wird und aufgrund dessen historischer Bedeutung bald aus Privatbesitz testamentarisch dem „Volk von Rom“ vermacht wird und allgemeine Bekanntheit – auch über die Stadtgrenzen Roms hinaus – erlangt. So ist die Büste bald in den verschiedensten Teilen Europas bekannt.

Eine besondere Prominenz erhält sie dann aber im Zuge der französischen Revolution und deren Bezugs auf Rom als Idealtyp der Republik. Gerade die Figur des „Ur-Republikaners“ Brutus dient dabei als Verkörperung der zentralen republikanischen Überzeugungen – dem Auflehnen gegen das Königtum, der Freiheitsliebe und dem uneingeschränkten Eintreten für die Republik, auch und gerade mittels höchster persönlicher Opfer (nach Livius hatte Brutus u.a. die Hinrichtung seiner beiden Söhne, die einer Verschwörung gegen die Republik angeklagt worden waren, billigend hingenommen – ein zentraler Konflikt zwischen privatem Glück und politischer Tugend, den an Livius anknüpfend u.a. auch Machiavelli diskutiert, in dem sich Brutus als guter Republikaner aber eben „richtig“ entscheidet). Interessant ist dabei nun, dass in den zeitgenössischen Darstellung der Revolution und deren Idealen nicht nur neben den Figuren der Liberté, Egalité, etc. vielfach eben auch die Figur des Brutus auftaucht, sondern dass sich dessen Darstellung praktisch immer an der Büste des Brutus vom Kapitol orientiert. Insbesondere in den Bildern von Jacques-Louis David taucht der Brutus in genau dieser Darstellung immer wieder auf – David hatte sich sogar eine Kopie der Büste anfertigen lassen, die ihm als Vorbild diente. Explizit ins Zentrum eines Bildes stellte David die Figur des Brutus und seine Geschichte im Gemälde „Die Liktoren bringen Brutus seine beiden toten Söhne“, das im revolutionären Paris kontrovers diskutiert und schnell einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde. Zusätzliche Bekanntheit erlangte die Figur des Brutus und wiederum auch die Büste außerdem durch Voltaires bereits 1730 geschriebenes Stück „Brutus“, in dem dessen Geschichte im Mittelpunkt steht, und das 1790 in Paris mit großem Erfolg wiederaufgeführt wurde, da man den Kampf des Republikaners Brutus gegen die etruskische Königsherrschaft als Parabel für die eigene Revolution verstand und das Stück entsprechend inszenierte. Zu dieser Inszenierung gehörte nicht nur, dass die Darstellung der Schlussszene eng an Davids Brutus-Gemälde angelehnt war, sondern auch, dass Davids Kopie der Brutus-Büste im Theater aufgestellt wurde. Der große Erfolg des Stücks führte dazu, dass es im ganzen Land gespielt wurde und zu diesem Zweck weitere Kopien der Büste angefertigt wurden, von denen auch eine 1792 den Weg in die Nationalversammlung fand, wo sie vor der Rednerbühne aufgestellt wurde, wohl als eine Art Erinnerung für die Mitglieder der Versammlung an die republikanischen Ideale. So war der Republikaner und Königs-Stürzer Brutus schließlich auch „anwesend“ als Louis XVI der Prozess gemacht und er 1793 zum Tode verurteilt wurde.

Sämtliche der hier nur skizzenhaft präsentierten Zusammenhänge kann die Berliner Ausstellung natürlich nicht präsentieren oder mit entsprechenden Exponaten belegen, denn dafür wären weitere außerordentliche Leihgaben vom Kaliber der Brutus-Büste notwendig gewesen – Davids Brutus-Gemälde beispielsweise misst mehr als drei auf vier Meter und hängt im Louvre (für die Ausstellung ergänzenden Angaben und Hinweise sei aber auf den exzellenten, zur Ausstellung veröffentlichten Band „Der Brutus vom Kapitol. Ein Porträt macht Weltgeschichte“ (hrsg. v. Agnes Schwarzmeier, München: Edition Minerva 2010) verwiesen, dem auch zahlreiche hier verwendete Informationen entnommen sind). Außerdem dürfte hier bereits der kursorische Verweis auf Livius, Plutarch und auch Voltaire gezeigt haben, dass die „Brutus-Geschichte“ sich nicht allein anhand von ausstellbaren Kunstwerken erzählen lässt. Was sich aber gerade aus politikwissenschaftlicher Perspektive ebenfalls zeigt ist, auf welch verschlungenen und nachgerade unerwarteten Wegen politisches Denken sich manifestieren und entwickeln kann – Wege, die man mit „klassischen“ Methoden vermutlich nicht nachvollziehen könnte. Vielmehr sind hier einmal mehr die Möglichkeiten einer fruchtbaren – und notwendigen – Kooperation mit Forscherinnen und Forschern aus Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft und anderen Disziplinen überdeutlich zu erkennen. Die unterschiedlichen Methoden, Kontext- und anderweitige Fachkenntnisse, die als Voraussetzung solcher Analysen offensichtlich werden, dürften von keiner Einzeldisziplin erbracht werden können. Wie die Geschichte des Brutus vom Kapitol zeigt, bedarf es hier vielmehr der gegenseitigen Ergänzung disziplinärer Perspektiven. Wie Projekte zur Erforschung politischen Denkens aussehen könnten, die von vornherein diese perspektivische Pluralität ernstnehmen, ist eine der herausfordernden Fragen, die einem in gewisser Weise die Berliner Ausstellung und die Geschichte des Brutus vom Kapitol aufs Neue aufgibt.

Andreas Busen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Hamburg und dort außerdem in das Forschungsprojekt „Europa und Moderne“ eingebunden. Sein Arbeitsschwerpunkt liegt derzeit auf seiner Diss zum Ort der Solidarität in der zeitgenössischen politischen Theorie. Weitere Schwerpunkte sind republikanische Theorien des Politischen sowie die kritische Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Gerechtigkeitstheorien.


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